Gretchen

Gretchen (eigentlich Margarete), das Objekt von Fausts Begierde, ist ein vollkommen anderer Mensch als er. Die junge Bürgerliche (sie ist älter als 14, also im heiratsfähigen Alter) lebt in einer „kleinen Welt“ (Sz. 4, Z. 692): Sie bewegt sich ganz in Kreis ihrer Familie, nämlich der strengen und sittsamen Mutter, die ein Auge hat auf das gute Verhalten ihrer Tochter, und des Bruders Valentin, ein Soldat, der nach dem Tod des Vaters die Aufgabe übernommen hat, die Ehre der Familie zu wahren - auch notfalls mit Gewalt, wie sein Angriff auf Faust beweist. Sie hatte auch eine kleine Schwester, die Gretchen selbst gefüttert und aufgezogen hatte, da die Mutter nach der Geburt hierfür zu schwach war. Nun kümmert sie sich um den Haushalt.
Sie ist also ganz von ihrer Rolle als tadellose Tochter der Familie vereinnahmt, hat einen guten Ruf als fleißiges, liebevolles, fürsorgliches, naiv-unschuldiges, emotionales, sensibles, sittsames und auch überaus frommes Mädchen. Das kirchengläubige und auf Gott vertrauende Gretchen hat also die Werte des christlichen Bürgertums zu Goethes Zeit verinnerlicht. Faust betritt jedoch ihre kleine Welt und bringt sie aus den Fugen: Gretchen lernt nun die Versuchung kennen. Zuerst ist sie ängstlich und unsicher: Als bescheidenes Mädchen kann sie sich nicht erklären, warum sie der Edelmann Faust auf offener Straße anspricht und vermutet daher, sich unsittlich verhalten zu haben. Sie versucht, ihre moralische Reinheit zu bewahren. Doch Gretchen kann sich nicht vor der Liebe retten. Ihre innere Zerrissenheit wird vor allem in der Szene am Brunnen deutlich:
Abb. 1: Gretchen in ihrem Zimmer. Illustration von Friedrich Gustav Schlick und Adolf Hohneck (1834).
Und  [ich] bin nun selbst der Sünde bloß!
Doch - alles, was dazu mich trieb,
Gott! War so gut! Ach war so lieb!

(Sz. 17, 74-76)
Die Liebe zu Faust offenbart neue Züge ihres Charakters, vor denen sie selbst Angst empfindet: Intuitiv bemerkt sie die erotisch aufgeladene Atmosphäre ihres Zimmers, nachdem Faust dort ein Schmuckkästchen als Geschenk hinterlassen hat und seine Begierde in Anbetracht der mädchenhaften Ordnung in Gretchens Behausung geweckt worden ist. Sie wünscht sich ihre Mutter herbei, da sie Angst vor ihrer Sexualität hat, welche sie aber noch nicht als solche identifiziert. Im Lied Ein König in Thule besingt sie dennoch ihre Bereitschaft, ein außereheliches Verhältnis einzugehen und ihren Wunsch nach einer bedingungslosen und hingebungsvollen Liebe.
Denn trotz ihrer Naivität - die sich zum Beispiel daran zeigt, dass versucht, Faust zum Christentum zu bekehren, weil man an dieses glauben müsse - ist Gretchen nicht so unschuldig, wie man glauben könnte. Sie reagiert bei ihrem ersten Kontakt durchaus selbstbewusst, gibt sich dem Kuss im Gartenhäuschen später leidenschaftlich hin, begehrt Fausts Schmuck und träumt im Verborgenen vom sozialen Aufstieg. Durchaus berechnet sie ihre Chancen, sie weiß, dass ihre Liebe gesellschaftlich nicht akzeptiert wird, stellt Fausts Ehrlichkeit in Frage. Dennoch gibt sie sich ihm ganz hin, gibt der Mutter einen Schlaftrank, um sich auch nachts mit ihm zu treffen. Auch sie besitzt ein sexuelles Interesse, welches sie mit Faust auslebt.
So beginnt ihr Weg in die soziale Schande. Als ihre Mutter stirbt und Valentin, von Faust und Mephisto tödlich verwundet, sie in aller Öffentlichkeit als Hure bezeichnet, wird ihr Ruf zerstört und mit ihm ihre Identität. Denn Gretchen galt immer als sittsames Mädchen und als solches hat sie sich gesehen. Nun, von Faust geschwängert, ist nichts mehr so, wie es einmal war. Sie empfindet Schuld an den fatalen Entwicklungen, obwohl sie die Liebe zu Faust nicht bereut. Hier erfährt die Figur Gretchen einen Bruch: Alles, womit sie sich identifiziert und was ihr Leben ausgemacht hat, ist zerstört, zudem hat Faust sie auf der Flucht vor den Behörden verlassen. Gretchen, zu Fausts Komplizin geworden und gesellschaftlich geächtet, wird wahnsinnig und ertränkt ihr Kind in einem See.
Gretchen macht jedoch in der letzten Szene des Dramas eine weitere Entwicklung durch, die sie von ihrer Schuld befreit. Zuerst verfliegt ihr Wahnsinn und ihre Todesangst, als sie in dem Menschen, der in ihre Zelle im Kerker tritt, Faust erkennt. Noch einmal zeigt sie ihre hingebungsvolle Liebe und ist erfreut über sein Auftauchen - trotz des Übels, zu dem er sie verleitet hat. Faust kann ihre absolute Treue jedoch nicht erwidern, sodass Gretchen zum Verstand kommt: Sie erkennt die Schuld am Tod ihres Kindes an, die sie zuerst im Wahnsinn verdrängt hatte. Als ihr das volle Ausmaß ihrer Schuld bewusst wird, schließt sie mit ihrem Leben ab. Ihr wird bewusst, dass für sie ein Weiterleben mit diesem schlechten Gewissen nicht möglich ist und ergibt sich ihrem Schicksal. Sie löst sich von Faust, von dem sie nicht einmal mehr angefasst werden möchte (vgl. Sz. 25, Z. 260 f.). Da ihr Wille zur Buße größer ist als die Versuchung, mit Faust ein durch Sünde beflecktes Leben zu führen, übergibt sie sich dem Gericht Gottes - und wird so von ihrer Schuld gereinigt und gerettet. Sie verabschiedet sich bereitwillig von ihrem Leben, um erlöst zu werden. So stirbt Gretchen am Ende doch tugendhaft (falls man von der Definition der Klassik ausgeht).
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[1]
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