Kontext und Einordnung

Aus: E. T. A. Hoffmann: Klein Zaches, genannt Zinnober, Braunschweig u. a., Bildungshaus Schulbuchverlage 2012 (Erstausgabe 1819).
Es war einmal eine arme Bäuerin, die unter der Last des riesigen Korbes, den sie zu tragen hatte, zusammenbrach...
So oder ähnlich würde der Anfang von E. T. A. Hoffmanns Märchen Klein Zaches, genannt Zinnober lauten, handelte es sich um ein „übliches“ Volksmärchen, also ein Märchen, das uns durch das Volk mündlich überliefert wurde. Mit dem Begriff Märchen verbinden wir meistens das Volksmärchen und seine Merkmale - auch wenn wir nicht einmal unbedingt eines gelesen haben: Sie beginnen mit „Es war einmal...“, enden mit „...und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ zwischen diesen beiden formelhaften Sätzen findet sich eine einfach geschriebene Geschichte, in der wahlweise ein schwaches, armes Mädchen, ein schwacher armer Junge oder ein schwacher armer Erwachsener allerlei Wunderliches erlebt und gegen einen Bösewicht oder eine böse Königin bestehen muss, wobei die Protagonisten oft Hilfe von sprechenden Tieren oder magischen Wesen erfahren. Zum Schluss steht noch eine Art Motto oder ein Lehrsatz, der uns zeigt, was wir aus der Geschichte zu lernen haben.
E. T. A. Hoffmanns Klein Zaches, genannt Zinnober ist anders. Es ist ein Kunstmärchen, kein Volksmärchen, es wurde von einem bestimmten Autor in einer bestimmten Absicht geschrieben und nicht mündlich überliefert. Was man Märchen heutzutage oft (fälschlicherweise) zuspricht, nämlich erzieherisch wertvoll und damit besonders an Kinder gerichtet zu sein, gilt hier nicht. Hoffmann bezeichnet sein Märchen als „lose, lockre Ausführung einer scherzhaften Idee [...] zu augenblicklicher Belustigung ohne allen weitern Anspruch“ (aus der Vorrede zu seinem 1820 veröffentlichten Capriccio Prinzessin Brambilla). Bereits in diesem Zitat tritt ein Merkmal deutlich zutage, das sein Kunstmärchen am meisten prägt: Der ironisierende Humor. E. T. A. Hoffmann war für seinen Humor geradezu berüchtigt, wo er doch einmal wegen der Verspottung der Obrigkeit beim Posener Karneval 1802 zwangsversetzt wurde. Klein Zaches greift in romantischer Tradition Elemente des Volksmärchens auf wie zum Beispiel die grundsätzliche Struktur und das Personal aus dem Märchenreich, doch wird alles der Ironie Hoffmanns unterworfen, sodass das Märchen einen deutlich satirischen Zughat. E. T. A. Hoffmann beabsichtigte, dass die Leser sein Volksmärchen so wenig ernst wie möglich nehmen und über seine Figuren herzhaft lachen.
Ein weiterer Grund spricht für die Nutzung des Märchens als Medium für Kritik, auch wenn dies nicht E. T. A. Hoffmanns zentrale Absicht darstellt: Hoffmann war Beamter im preußischen Staatsdienst. Als das Märchen zwischen 1818 und 1819 entstand, war er bereits seit zwei Jahren am Berliner Kammergericht angestellt. Der unabhängig denkende Hoffmann, für den Beruf und Berufung, nämlich die Kunst, einen Gegensatz darstellte, fühlte sich nicht durch seine Rolle als Jurist ausgefüllt. Zudem war er kein obrigkeitshöriger Mensch und bewertete seine Kollegen und Vorgesetzten kritisch, deren autoritäre Haltung er nicht teilte. Er war zwar kein Nationalist, verachtete aber das harte Vorgehen des preußischen Staats gegen die nationalistischen Studenten. Der Beamte stimmte nicht mit der politischen Richtlinie seiner Vorgesetzten überein. Seinen Unwillen gegenüber dem System, in dem er angestellt war, verarbeitete Hoffmann dann in versteckter Form in seinen Werken.
Klein Zaches lässt sich somit als Kritik an der Unvernunft des staatlichen Wesens und der Verblendung der obrigkeitshörigen, Gesellschaft sowie an der an der entarteten Aufklärung lesen, während der Wert der Poesie und der Individualität - für einen Romantiker typisch - gepriesen wird. Durch die Verwendung der Gattung Märchen wird die Kritik aber entschärft oder weitgehend unkenntlich gemacht. Offen Kritik auszuüben hätte E. T. A. Hoffmann nicht nur den Beruf, sondern auch die Freiheit gekostet, denn der preußische Staat ging damals in der Zeit studentischer Proteste gegen die politischen Zustände hart gegen Kritiker vor. Eine Volkserhebung in der Art der Französischen Revolution wollte man um jeden Preis verhindern.
Eine genauere Einordnung diesen Werks in den Kontext von Romantik sowie Volks- und Kunstmärchen erfolgt in der Interpretation.