Leitmotive
Das Drama das Leben des Galilei bietet Spielraum für zahlreiche Analysemethoden, von denen wir uns im Folgenden mit der Motivik näher auseinandersetzen werden. Um eventuelle Unklarheiten von vornherein auszuschließen, beginnt dieser Unterpunkt mit der Definition und den Merkmalen eines Leitmotivs. Anschließend widmen wir uns den drei Motiven unserer Wahl im Theaterstück.
Definition Leitmotiv
- Es handelt sich bei diesem literarischen Mittel um die Verbindung zwischen einem nicht-literarischen Inhalt und dem schöpferischen Text. In Form eines immer wiederkehrenden Themas ist ein Leitmotiv dazu fähig, gewisse Stimmungen hervorzurufen oder zu verstärken sowie bestimmte Themen zu betonen
- Ein Leitmotiv kann in der Form eines Dingsymbols, jedoch auch in Form abstrakter Symbole athmosphärischer, emotionaler oder akustischer Art auftreten
- Es ist möglich, mit dieser Art des Motivs tiefere Sinneszusammenhänge zwischen mehreren Themenkomplexen in einem literarischen Werk auf subtile Art und Weise herzustellen und zu erklären
- In der Literatur existieren inzwischen unzählige Leitmotive und Dingsymbole, wobei manche höher frequentiert eingesetzt werden, wie etwa die blaue Blume in der Romantik, und andere erst abhängig vom jeweiligen Werk individuell gebildet werden können
Motiv „Sehen“
- Erblindung: Dieses Motiv lässt sich unter anderem an der Sehfähigkeit des Protagonisten und Wissenschaftlers Galileo Galilei erläutern, welche im Laufe des Werks einen deszendierenden Verlauf aufweist. Zu Beginn der Handlung scheint das Sehvermögen Galileis noch vollkommen intakt zu sein. Nicht umsonst ist es ihm möglich, in der zweiten Szene eine innovativere Version des Teleskops anzufertigen, welches die Sicht auf die Himmelskörper ermöglicht.
Ein erstes Anzeichen für die schwindende Sehkraft des Forschers ist in am Ende der fünften Szene zu finden, als Galileo die Karte mit „der Umlaufzeit des Merkur“ (S. 57, Z. 19f) nicht mehr vermag zu finden. Auch die Begleitung seiner Tochter Virginia und deren Verlobten Ludovico auf die Einladung in Kardinal Bellarmins Palast lassen erste Zeichen der Unsicherheit beim Astronom entdecken (S. 64). Im 11. Bild wird bereits offensichtlich, dass Galileo, „dessen Augen gelitten haben“ (S. 99. Z.13), bereits stark in seiner Fähigkeit zu sehen, beeinträchtigt ist. Interessant ist, dass mit der Eintrübung Galileis Augenlicht auch eine generelle Verschlechterung seiner Umstände einhergeht. So wird der Wissenschaftler am Ende der elften Szene, als seine „Augen […] wieder schlecht“ (S. 99, Z. 25f) sind, von der Inquisition nach Rom gerufen. Spätestens nach seinem Widerruf (S. 128) erblindet der berühmte Astronom und Mathematiker dann vollends - Blindheit als Maskierung: Obwohl das Schwinden seiner Sehkraft dem Mathematiker primär Nachteile beschert, so ist es dennoch denkbar, dass die Beeinträchtigung seiner Sehbehinderung auch einen gewissen Nutzen mit sich bringt. Schützt die Erblindung Galilei möglicherweise vor dem Argwohn seiner kirchlichen Gegner? Vor den Augen der gesamten Kirche hat der Forscher seine mühsam erarbeiteten Theorien und Erkenntnisse widerrufen. Zu diesem Zeitpunkt scheint Galileo nicht mehr als ein gebrochener, alter Herr zu sein, welcher seine letzten Tage in Trostlosigkeit und Einsamkeit absitzen wird. Durch die Aufrechterhaltung dieses, von der Außenwelt angenommenen Anscheins ist es ihm überhaupt erst möglich, weiterhin der Fertigstellung seiner Schrift Discorsi nachzugehen, ohne Argwohn zu erregen. Gewitzt und intelligent wie er ist, lässt er den Klerus im Glauben, er könne ihnen durch seine Gebrechlichkeit nicht mehr gefährlich werden. So ahnt niemand, dass er auch kurz vor seinem Lebensabend noch intensiv und fokussiert an seinem Lebenswerk feilt, welches er in Szene 14 seinem ehemaligen Schüler Andrea zur Publikation anvertraut (S. 122)
- Verlust von Selbstständigkeit und Individualität: Es ist nicht nur die Fähigkeit zu sehen, welche Galilei über die Jahre hinweg abhanden kommt. Durch seine fortschreitende Beeinträchtigung muss der Wissenschaftler auch an Selbstständigkeit und Individualität einbüßen. Während man ihn zunehmend unterstützen muss (Virginia kommt mit auf Veranstaltungen etc.), nimmt auch der Respekt, den beispielsweise die hohen Geistlichen dem Forscher entgegenbringen, ab. Zuletzt verliert Galileo auch noch seinen authentischen Charakter, indem er die Beweislage seiner größten Leidenschaft, nämlich die der Wissenschaft der Astronomie, leugnet. Die Blindheit geht also Hand in Hand mit einem Individualitätverlust Galileis einher und spätestens zum Zeitpunkt seines Widerrufs handelt der Forscher nicht mehr aus innerer Überzeugung, sondern lässt sich durch die Angst leiten
- Sehen vs. „glotzen“: Laut Galileo Galilei sehen zu wenige Menschen das Wesentliche, das Vorauseilende und das Innovative und „glotzen“ vielmehr, als wirklich zu sehen. Der Astronom ist es leid, „die Herren gegenüber sämtlicher Fakten die Augen schließen zu sehen und so zu tun, als sei nichts geschehen.“ (S. 48, Z. 23ff). Damit spielt er auf die Ignoranz derjenigen Wissenschaftler und kirchlichen Herren an, die ihn in der vierten Szene besuchen und anzweifeln, seine Erfindung des Teleskops würde die Jupitermonde erkennen. Auf der anderen Seite jedoch weigern sich die Besucher jedoch auch, durch das Fernrohr hindurchzusehen und sich selbst ein Bild von der Beschaffenheit der Himmelskörper zu machen. Diese Szene spiegelt sehr deutlich das damalige geozentrische Weltbild wider, welches nur daran glaubt, was es mit dem menschlichen Augen sieht. Galileo jedoch, der ein Verfechter des Kopernikanischen Planetenmodells und damit dem heliozentrischen Weltbild ist, ist erschüttert über so viel Voreingenommenheit und „Blindheit“ gegenüber harten Fakten. Insbesondere Andrea möchte Galileo eine Weitsicht auf die Dinge beibringen, deshalb erinnert der Lehrer seinen Schüler auch daran, „glotzen ist nicht sehen.“ (S. 11, Z. 14). Auf diesem Weg setzt Galilei das Sehen auf dieselbe Stufe mit dem Verstehen von Zusammenhängen
- Biblischer Zusammenhang: Da der Blick der Kirchenanhänger zu sehr im heiligen Buch gefangen ist und sich ihre Welt einzig und allein mit der Bibel erklären lässt, versetzt sie Neues, Unbekanntes und Bahnbrechendes in Angst. Diese Angst jedoch äußert sich in Ablehnung, indem die Schwäche, welche eigentlich hinter der Borniertheit steckt, maskiert wird
Motiv „Seefahrt“
- Mit dem Symbol des Schiffs ist die neue Zeit, die das heliozentrische Weltbild und das Kopernikanische Planetenmodell beinhaltet, gemeint. Der Protagonist in das Leben des Galilei erwähnt die Schifffahrt an mehreren Stellen im Dramentext, wobei er das Motiv als Dingsymbol einsetzt und weniger die Fahrt über das Meer als vielmehr eine Erweiterung des Horizontes meint, die eine solche Reise auf dem Schiff hervorruft.
- Mut: Auf Bellarmins Ball sagt Galileo beispielsweise zu den Anwesenden „Man muß mit der Zeit gehen, meine Herren. Nicht an den Küsten entlang, einmal muß man ausfahren.“ (S. 65, Z. 24f). Mit dieser Aussage nimmt der Wissenschaftler eine Gegenposition zur reaktionären Haltung des Klerus ein und hält die Kardinäle und geistlichen Herren dazu an, ihre Zweifel an der Wissenschaft über Bord zu werfen und mutig der neuen Zeit entgegenzutreten
- Gleiches Recht für alle: Galilei legt enormen Wert auf eine Wissenschaft, die für das breite Bürgertum zugänglich und nicht wie bisher, ausschließlich den oberen Kirchenmitgliedern vorbehalten ist. Der Wissenschaftler strebt die Etablierung einer Wissenschaft an, die für jeden ist, auch „für den Mann auf der Straße“ (S. 49, Z. 19f)
- Rückbesinnung auf das Ursprüngliche: Für Galilei liegt der Ursprung des Handels und der Entdeckungen in der Schifffahrt. Bereits zu Beginn der Seefahrt wussten die Entdecker meist nicht, was sie am Ziel ihrer Reise erwarten würde, dennoch stachen sie in See und waren bereit, sich auf das Neue, bisher Unbekanntes einzulassen. Diese Art des „Urvertrauens“ ist es, welche Galilei hofft, in den Menschen, insbesondere in den Gegnern der Wissenschaft, neu wecken zu können
- Bereitschaft, sich Neuem zu öffenen: Auch wenn die Wissenschaft und Forschung bereits bahnbrechende Erfindungen vorweist, sollte man laut Galileo niemals aufhören, die Neugierde nach noch Unerforschtem zu verlieren. Der Astronom und Mathematiker vertritt den Standpunkt „da ist schon viel gefunden, aber da ist mehr, was noch gefunden werden kann“ (S. 9, Z. 16f). Diese Äußerung spiegelt wider, dass noch ein langer Weg vor uns als Menschheit liegt, die neuen Erkenntnisse in Wissenschaften wie beispielsweise der Astronomie und Physik vollkommen zu begreifen und zu erlangen. Die Fähigkeit, sich Unerforschtem zu öffnen und nicht aus Angst oder Skepsis vor dem Fremden dem neuen Wissen zu verweigern, dies prangert Galilei immer wieder an. Das Motiv der Schifffahrt steht also stellvertretend für die Forschung, welcher sich Galilei leidenschaftlich widmet und mit welcher er den Anbruch der neuen Zeit aktiv mitgestalten möchte
Motiv „Milch“
- Grundnahrungsmittel: Es handelt sich bei dem Motiv „Milch“ um ein Mittel zur Darstellung der materiellen Grundversorgung der Bevölkerung
- Prioritäten: Bereits zu Beginn erfahren wir, welchen Stellenwert die Wissenschaft im Leben Galileis hat. Obwohl der Wissenschaftler nur ein geringes Gehalt verdient, so zögert er beim Kauf eines Buches weniger, als wenn es um das Begleichen seiner Milchrechnung geht
- Trennung von Luxus und Intellekt: Die Figur Galileo Galilei priorisiert zwar das geistliche Gut über das leibliche Wohlbefinden, jedoch ist er auch nicht abgeneigt, sich hin und wieder sinnlichen Genüssen wie dem Trinken von Milch. Allerdings legt der Wissenschaftler auch großen Wert auf eine Trennung der beiden Zustände und differenziert zwischen sozialer sowie geistiger Tätigkeit, wobei er auf Letztere unmöglich vermag zu verzichten
- Gesellschaftliche Norm: Am Beispiel der Milch lässt sich gut erkennen, dass Galilei zwar auf materiellen Genuss nicht verzichten möchte, sich jedoch auch schwertut, sich in das gesellschaftlich-soziale Gefüge einzugliedern. Letztere Annahme lässt sich darin begründen, dass der Wissenschaftler des Öfteren von Frau Sarti daran erinnert werden muss, seine Milchrechnung zu bezahlen (S. 12)