Auf einen Blick
- Die Verwandlung entstand 1912 kurz nach der Erzählung Das Urteil und wurde 1915 zum ersten Mal veröffentlicht
- Das Werk vermischt Absurdes mit Realistischem (die Familie versucht, die Normalität trotz Gregors Verwandlung in einen Käfer wiederherzustellen)
- Es gibt drei wichtige Interpretationsansätze: den biographischen (Kafka stand unter familiärem Druck), den sozialkritischen (die Familie besteht aus „Spießern“) und den psychoanalytischen (die Verwandlung ist Abbild der Psyche Gregors)
- Kafka wird oft eine Nähe zum Expressionismus nachgesagt, mit dem er die Darstellung von Absurdem teilt, doch durch die Eigenwilligkeit seines nüchternen Stils ist er kein Vertreter dieser Strömung
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. [...] Es war kein Traum.“ (S.7)
Der berühmte Beginn von Franz Kafkas Erzählung
Die Verwandlung packt den Leser von der ersten Sekunde an mit einem kompromisslosen Griff. Es gibt keinen Prolog, keine Vorgeschichte, kein Zugeständnis an den Leser - Gregor Samsa ist in Ungeziefer verwandelt, es gibt kein Warum, Wann und Wie, die Verwandlung ist absolut und eine Tatsache, mit der sich der Leser abfinden muss. Denjenigen, die sich der Absurdität des unerhörten, phantastischen Geschehens entziehen wollen, erteilt Kafka gleich im nächsten Absatz eine Absage, denn „es war kein Traum.“ (s. o.) Die Verwandlung ist eine Realität, daran besteht kein Zweifel. Die Handlung setzt unvermittelt ein, dem Leser bleibt in seiner Hilflosigkeit nur die Chance, die Handlung zu akzeptieren, wird gleichsam wie Gregor von seinem verwandelten Aussehen überrascht. Bereits der Anfang der
Verwandlung zeigt uns die Einzigartigkeit von Kafkas Stil, der Phantasie und Realität derart vermischt, dass sie nicht mehr zu trennen sind. Nicht zuletzt wegen dieser Radikalität wurde ihr erster Satz 2007 in Deutschland zum zweitschönsten ersten Satz gewählt (direkt nach „Ilsebill salzte nach.“).
Der Beginn stellt uns gleich das Thema der Erzählung vor bzw. ihren Konflikt. Gregor Samsa, ein Handelsreisender, der bei seiner Familie wohnt und ihre Schulden durch mühsame Arbeit zu begleichen versucht, während sein Vater, seine Mutter und seine Schwester nicht arbeiten und ihm gegenüber kaum Dankbarkeit und Wärme zeigen, ist über Nacht zu einem Käfer geworden. Viele Schüler neigen dazu, an dieser Stelle „Na und?“ zu fragen. Gregor Samsa ist ein Käfer, schöne Information, aber was soll mir das sagen und warum schreibt Kafka eine ganze Geschichte über dieses absurde Thema? Das ist jedoch ein Ansatz, der am Werk vorbeigeht. Kafka geht es nicht um die
Phantastik.
Die Verwandlung ist davon bestimmt, was passiert, wenn die Realität brüchig wird, Altbekanntes und Gewohntes zugrunde geht, wenn das Absurde Alltag wird und bewältigt werden muss. Die Erzählung vollzieht eine folgenschwere Verwandlung nach, die sich an den Einbruch des Absurden anschließt: Gregor Samsa ist zwar ein Käfer, doch fortan versuchen er und seine Familie, damit zurechtzukommen und die zerstörte Normalität wiederherzustellen. Stell dir vor, du wachst eines Morgens als Käfer auf - eine wirklich absurde Vorstellung und von jeglicher Realität entfernt. Aber was wäre wenn? Wie würdest du dann leben? Kafka erzeugt mit der Phantastik ganz reale existenzielle Ängste. Und die wiederum sind ganz und gar nicht phantastisch!
Die Verwandlung entstand zwischen November und Dezember des Jahres 1912, also gerade einmal zwei Monate nach der Erzählung Das Urteil, von der Kafka sagt, sie sei der Beginn seines professionellen Schreibens gewesen. Aus diesem Erfolgsgefühl heraus ist anscheinend auch Die Verwandlung entstanden; zudem gibt es thematische Überschneidungen zwischen den Werken: In beiden gibt es einen ungerechten und tyrannischen Vater, der sich den Tod seines Sohnes wünscht, in beiden entschließt sich der Sohn schließlich zu sterben. Außerdem ähneln sich die Namen Gregor (der Protagonist der Verwandlung) und Georg (der Protagonist des Urteils) stark. In dieser Zeit war Kafka auch beruflich sehr aktiv, reiste er doch seit 1910 oft geschäftlich nach Böhmen; zudem forderte seine Familie, dass er sich für die Asbestfabrik seines Schwagers einsetzte, die dieser seit 1911 besaß.
Letzteres verdeutlicht, dass Kafka unter familiärem Druck stand. Der aus armen Verhältnissen stammende Vater, der sich nach oben gearbeitete hatte, erwartete, dass sein einziger Sohn dasselbe Durchsetzungsvermögen bewies wie er selbst und Geld in die Familienkasse einspielte. Auf das angespannte Vater-Sohn-Verhältnis beziehen sich die zahlreichen
biographischen Interpretationen der
Verwandlung. Doch auch für diese Erzählung gilt, was alle literarischen Werke Kafkas betrifft: Man kann sie nicht auf eine bestimmte Bedeutung festlegen. Kafka schätzte das Abstrakte, Zwei- und Mehrdeutige in der Literatur und schrieb sicherlich nicht nur wegen seiner familiären Probleme. Daher stellen wir dir in diesem Lektüreschlüssel neben der biographischen zusätzlich die
psychoanalytische und die
sozialkritische Interpretation vor, die eine ähnlich lange Tradition haben.
Die Vielzahl an Interpretationsansätzen zeigt, wie komplex Kafkas Literatur ist und wie sehr sie sich einer eindeutigen Zuordnung entzieht - ob Kafka einer literarischen Strömung angehörte oder ganz für sich stand, wurde in der Vergangenheit ausgiebig diskutiert.
Die Verwandlung jedenfalls wurde Oktober 1915 in der literarischen Zeitschrift
Die weißen Blätter veröffentlicht, die sich dem
Expressionismus verschrieben hatte, in Buchform erschien das Buch im Dezember desselben Jahres in der von Kurt Wolff herausgegebenen expressionistischen Buchreihe
Der Jüngste Tag. Tatsächlich teilt Kafka mit „den Expressionisten“, dass er die Brüchigkeit der Realität thematisiert, absurde wie erschreckende Szenarien entwirft, die stark vom wirklich Möglichen abweichen (so Gregors Verwandlung in einen Käfer) und einen
radikalen künstlerischen Individualismus pflegt - Kafka ist deswegen so berühmt, da er einen unverwechselbaren Stil hatte, der sich nicht an Konventionen orientierte. Jedoch ist dieser Individualismus auch der Grund, weswegen Kafka kein Teil der expressionistischen Strömung war: Er verstand sich nicht als Mitglied der expressionistischen Szene, deren Tendenz zu Selbstdarstellung und
experimentellem Sprachgebrauch (bis hin zur Unverständlichkeit des Texts) er kritisierte. Kafka zog einen klaren, nüchternen und ironischen Schreibstil vor.
Bildnachweise [nach oben]
Public Domain.