Aufbau
Lessings Nathan der Weise ist ein aristotelisches Drama und folgt daher einem streng vorgegebenen Aufbau.
Geschlossenes Drama
- Einheit der Handlung: Die Handlung ist in sich geschlossen und führt ohne Nebenhandlungen zur Katastrophe hin; alle Szenen bauen aufeinander auf und sind nicht austauschbar
- Einheit des Ortes: Die Handlung spielt an nur einem Schauplatz, in Jerusalem
- Einheit der Zeit: Die Handlung erstreckt sich über einen kurzen Zeitraum, es gibt keine Zeitsprünge
- Wenige Personen: Hauptpersonen sind Nathan, Recha, der Tempelherr und Saladin. Nebenpersonen sind Daja, Sittah, der Klosterbruder und Al-Hafi
- Hoher Stand: Die Hauptpersonen gehören dem Adel oder der gehobenen Gesellschaft an
Pyramidaler Aufbau
Die Struktur von Nathan der Weise kann anhand des Dramenschemas von Gustav Freytag dargestellt werden. Nach diesem Modell weisen geschlossene Dramen eine pyramidale Struktur auf.- 1. Aufzug: Exposition
Handlung, Jerusalem als Ort und die Zeit des 3. Kreuzzuges werden eingeführt
Nach und nach werden die Personen des Dramas vorgestellt und ihre Beziehungen aufgezeigt
Die ersten Konflikte deuten sich an: das Geheimnis um Recha, die Geldforderung des Sultans und die Verbindung zum Tempelherren - 2. Aufzug: Steigende Handlung mit erregendem Moment
Die Handlung nimmt ihren Lauf und die einzelnen Handlungsstränge werden miteinander verknüpft
Interessenkonflikte entstehen z.B. bei Al-Hafi und Daja; Intrigen werden gesponnen etwa von Sittah gegen Nathan
Die Spannung wird aufs Ende hin gesteigert - 3. Aufzug: Höhe- und Wendepunkt
Die Handlung spitzt sich zu: Der Tempelherr verliebt sich in Recha, diese aber nicht in ihn; Nathan weist den Tempelherren mit seinem Antrag zurück und Daja enthüllt später, dass Recha nicht Nathans Tochter ist
Es kommt zur entscheidenden Auseinandersetzung, die über Sieg oder Niederlage des Helden entscheidet: Nathan wird von Saladin nach der wahren Religion gefragt, was über Saladins weiteres Vorgehen entscheiden soll; hier baute Lessing die berühmte Ringparabel ein - 4. Aufzug: Fallende Handlung und retardierendes Moment
Die Handlung flacht ab; das Ende scheint erkennbar, bis das retardierende Moment den Ausgang in Frage stellt und die Spannung kurz steigert
Der Tempelherr wendet sich an den Patriarchen, der den Juden, der eine Christin in seinem Glauben großgezogen hat, verbrennen will; plötzlich ist ein schlimmer Ausgang für Nathan in Sicht - 5. Aufzug: Lösung des Konflikts
Das Geschehen wird aufgelöst als Katastrophe oder Triumph des Helden; Lessing beendete sein Drama mit einem positiven Ausgang: Nathan klärt die Familienbeziehungen auf, die sogleich alle drei Religionen vereinen. Ihn als Juden, Recha als „erzogene“ Jüdin, den Tempelherren als Christen sowie Saladin und Sittah als Muslime
Funktion
- Die Tragödie soll eine Handlung nachahmen, die der Zuschauer gut verstehen und auf seine Wirklichkeit übertragen kann
- Die wenigen Darsteller sollen bewirken, dass die Zuschauer sich in die Personen hineinversetzen können und mit ihnen mitfühlen
- Durch die Konflikte und Intrigen will Aristoteles beim Zuschauer Jammer (éleos) und Schauder (phóbos) hervorrufen
- Nach Aristoteles Theorie findet beim Zuschauer so eine innere Reinigung statt, die sogenannte Katharsis
Parabel
- Eine Parabel ist eine kurze Textsorte, die für den Leser lehrreich sein soll
- Der Text wird in eine Sachebene und eine Bildebene unterteilt
- Was auf der Bildebene bildlich erzählt wird, ist nicht, worum es eigentlich geht
- Der Leser muss die Bilder übertragen und entschlüsseln, was tiefgründig gesehen hinter der Bildebene steckt
- Lessings Ringparabel:
Bildebene: Vater, drei Söhne und die Suche nach dem wahren Ring vor dem Richter
Sachebene: Saladins Frage nach der wahren Religion
Übertragung: Vater = liebender Gott; Ringe der Söhne = drei Religionen; Richter = Nathan
Bedeutung: Die Parabel verweist darauf, dass es unmöglich ist, eine Entscheidung zu treffen; Religion hat nicht den Sinn, dass eine besser ist als die andere, sondern dass man nach ihren Vorgaben gut lebt; die Ringparabel verweist auf Tolerenz und darauf, dass man vorurteilsfrei denken soll; es soll stets nur mit Wohlwollen und Humanität um den Beweis der echten Religion gestritten werden; am Ende entscheidet nur das jüngste Gericht