Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben LF
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

Fünfter Auftritt

2
Nathan und bald darauf der Tempelherr.
3
Nathan:
4
Fast scheu ich mich des Sonderlings. Fast macht
5
Mich seine rauhe Tugend stutzen. Daß
6
Ein Mensch doch einen Menschen so verlegen
7
Soll machen können! – Ha! er kömmt. – Bei Gott!
8
Ein Jüngling wie ein Mann. Ich mag ihn wohl
9
Den guten, trotz'gen Blick! den prallen Gang!
10
Die Schale kann nur bitter sein: der Kern
11
Ist's sicher nicht. – Wo sah ich doch dergleichen? –
12
Verzeihet, edler Franke ...
13
Tempelherr:
14
Was?
15
Nathan:
16
Erlaubt ...
17
Tempelherr:
18
Was, Jude? was?
19
Nathan:
20
Daß ich mich untersteh,
21
Euch anzureden.
22
Tempelherr:
23
Kann ich's wehren? Doch
24
Nur kurz.
25
Nathan:
26
Verzieht, und eilet nicht so stolz,
27
Nicht so verächtlich einem Mann vorüber,
28
Den Ihr auf ewig Euch verbunden habt.
29
Tempelherr:
30
Wie das? – Ah, fast errat ich's. Nicht? Ihr seid ...
31
Nathan:
32
Ich heiße Nathan; bin des Mädchens Vater,
33
Das Eure Großmut aus dem Feu'r gerettet;
34
Und komme ...
35
Tempelherr:
36
Wenn zu danken: – spart's! Ich hab
37
Um diese Kleinigkeit des Dankes schon
38
Zu viel erdulden müssen. – Vollends Ihr,
39
Ihr seid mir gar nichts schuldig. Wußt' ich denn,
40
Daß dieses Mädchen Eure Tochter war?
41
Es ist der Tempelherren Pflicht, dem ersten
42
Dem besten beizuspringen, dessen Not
43
Sie sehn. Mein Leben war mir ohnedem
44
In diesem Augenblicke lästig. Gern,
45
Sehr gern ergriff ich die Gelegenheit,
46
Es für ein andres Leben in die Schanze
47
Zu schlagen: für ein andres – wenn's auch nur
48
Das Leben einer Jüdin wäre.
49
Nathan:
50
Groß!
51
Groß und abscheulich! – Doch die Wendung läßt
52
Sich denken. Die bescheidne Größe flüchtet
53
Sich hinter das Abscheuliche, um der
54
Bewundrung auszuweichen. – Aber wenn
55
Sie so das Opfer der Bewunderung
56
Verschmäht: was für ein Opfer denn verschmäht
57
Sie minder? – Ritter, wenn Ihr hier nicht fremd
58
Und nicht gefangen wäret, würd' ich Euch
59
So dreist nicht fragen. Sagt, befehlt: womit
60
Kann man Euch dienen?
61
Tempelherr:
62
Ihr? Mit nichts.
63
Nathan:
64
Ich bin
65
Ein reicher Mann.
66
Tempelherr:
67
Der reichre Jude war
68
Mir nie der beßre Jude.
69
Nathan:
70
Dürft Ihr denn
71
Darum nicht nützen, was dem ungeachtet
72
Er Beßres hat? nicht seinen Reichtum nützen?
73
Tempelherr:
74
Nun gut, das will ich auch nicht ganz verreden;
75
Um meines Mantels willen nicht. Sobald
76
Der ganz und gar verschlissen; weder Stich
77
Noch Fetze länger halten will: komm ich
78
Und borge mir bei Euch zu einem neuen,
79
Tuch oder Geld. – Seht nicht mit eins so finster!
80
Noch seid Ihr sicher; noch ist's nicht so weit
81
Mit ihm. Ihr seht; er ist so ziemlich noch
82
Im Stande. Nur der eine Zipfel da
83
Hat einen garstigen Fleck; er ist versengt.
84
Und das bekam er, als ich Eure Tochter
85
Durchs Feuer trug.
86
Nathan (der nach dem Zipfel greift und ihn betrachtet):
87
Es ist doch sonderbar,
88
Daß so ein böser Fleck, daß so ein Brandmal
89
Dem Mann ein beßres Zeugnis redet, als
90
Sein eigner Mund. Ich möcht' ihn küssen gleich –
91
Den Flecken! – Ah, verzeiht! – Ich tat es ungern.
92
Tempelherr:
93
Was?
94
Nathan:
95
Eine Träne fiel darauf.
96
Tempelherr:
97
Tut nichts!
98
Er hat der Tropfen mehr. – (Bald aber fängt
99
Mich dieser Jud' an zu verwirren.)
100
Nathan:
101
Wärt
102
Ihr wohl so gut, und schicktet Euern Mantel
103
Auch einmal meinem Mädchen?
104
Tempelherr:
105
Was damit?
106
Nathan:
107
Auch ihren Mund an diesen Fleck zu drücken.
108
Denn Eure Knie selber zu umfassen,
109
Wünscht sie nun wohl vergebens.
110
Tempelherr:
111
Aber, Jude –
112
Ihr heißet Nathan? – Aber, Nathan – Ihr
113
Setzt Eure Worte sehr – sehr gut – sehr spitz –
114
Ich bin betreten – Allerdings – ich hätte ...
115
Nathan:
116
Stellt und verstellt Euch, wie Ihr wollt. Ich find
117
Auch hier Euch aus. Ihr wart zu gut, zu bieder,
118
Um höflicher zu sein. – Das Mädchen, ganz
119
Gefühl; der weibliche Gesandte, ganz
120
Dienstfertigkeit; der Vater weit entfernt –
121
Ihr trugt für ihren guten Namen Sorge;
122
Floht ihre Prüfung; floht, um nicht zu siegen.
123
Auch dafür dank ich Euch –
124
Tempelherr:
125
Ich muß gestehn,
126
Ihr wißt, wie Tempelherren denken sollten.
127
Nathan:
128
Nur Tempelherren? sollten bloß? und bloß
129
Weil es die Ordensregeln so gebieten?
130
Ich weiß, wie gute Menschen denken; weiß,
131
Daß alle Länder gute Menschen tragen.
132
Tempelherr:
133
Mit Unterschied, doch hoffentlich?
134
Nathan:
135
Jawohl;
136
An Farb', an Kleidung, an Gestalt verschieden.
137
Tempelherr:
138
Auch hier bald mehr, bald weniger, als dort.
139
Nathan:
140
Mit diesem Unterschied ist's nicht weit her.
141
Der große Mann braucht überall viel Boden;
142
Und mehrere, zu nah gepflanzt, zerschlagen
143
Sich nur die Äste. Mittelgut, wie wir,
144
Find't sich hingegen überall in Menge.
145
Nur muß der eine nicht den andern mäkeln.
146
Nur muß der Knorr den Knuppen hübsch vertragen.
147
Nur muß ein Gipfelchen sich nicht vermessen,
148
Daß es allein der Erde nicht entschossen.
149
Tempelherr:
150
Sehr wohl gesagt! – Doch kennt Ihr auch das Volk,
151
Das diese Menschenmäkelei zuerst
152
Getrieben? Wißt Ihr, Nathan, welches Volk
153
Zuerst das auserwählte Volk sich nannte?
154
Wie? wenn ich dieses Volk nun, zwar nicht haßte,
155
Doch wegen seines Stolzes zu verachten,
156
Mich nicht entbrechen könnte? Seines Stolzes;
157
Den es auf Christ und Muselmann vererbte,
158
Nur sein Gott sei der rechte Gott! – Ihr stutzt,
159
Daß ich, ein Christ, ein Tempelherr, so rede?
160
Wenn hat, und wo die fromme Raserei,
161
Den bessern Gott zu haben, diesen bessern
162
Der ganzen Welt als besten auf zudringen,
163
In ihrer schwärzesten Gestalt sich mehr
164
Gezeigt, als hier, als itzt? Wem hier, wem itzt
165
Die Schuppen nicht vom Auge fallen ... Doch
166
Sei blind, wer will! – Vergeßt, was ich gesagt;
167
Und laßt mich! (Will gehen.)
168
Nathan:
169
Ha! Ihr wißt nicht, wie viel fester
170
Ich nun mich an Euch drängen werde. – Kommt,
171
Wir müssen, müssen Freunde sein! – Verachtet
172
Mein Volk so sehr Ihr wollt. Wir haben beide
173
Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind
174
Wir unser Volk? Was heißt denn Volk?
175
Sind Christ und Jude eher Christ und Jude,
176
Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch
177
Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch
178
Zu heißen!
179
Tempelherr:
180
Ja, bei Gott, das habt Ihr, Nathan!
181
Das habt Ihr! – Eure Hand! – Ich schäme mich,
182
Euch einen Augenblick verkannt zu haben.
183
Nathan:
184
Und ich bin stolz darauf. Nur das Gemeine
185
Verkennt man selten.
186
Tempelherr:
187
Und das Seltene
188
Vergißt man schwerlich. – Nathan, ja;
189
Wir müssen, müssen Freunde werden.
190
Nathan:
191
Sind
192
Es schon. – Wie wird sich meine Recha freuen! –
193
Und ah! welch eine heitre Ferne schließt
194
Sich meinen Blicken auf! – Kennt sie nur erst.
195
Tempelherr:
196
Ich brenne vor Verlangen. – Wer stürzt dort
197
Aus Euerm Hause? Ist's nicht ihre Daja?
198
Nathan:
199
Jawohl. So ängstlich?
200
Tempelherr:
201
Unsrer Recha ist
202
Doch nichts begegnet?

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?