13. Kapitel
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Der Silvesterball hatte bis an den frühen Morgen gedauert, und Effi war
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ausgiebig bewundert worden, freilich nicht ganz so anstandslos wie das
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Kamelienbukett, von dem man wußte, daß es aus dem Gieshüblerschen
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Treibhaus kam. Im übrigen blieb auch nach dem Silvesterball alles beim
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alten, kaum daß Versuche gesellschaftlicher Annäherung gemacht worden
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wären, und so kam es denn, daß der Winter als recht lange dauernd
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empfunden wurde. Besuche seitens der benachbarten Adelsfamilien fanden
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nur selten statt, und dem pflichtschuldigen Gegenbesuch ging in einem
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halben Trauerton jedesmal die Bemerkung voraus: »Ja, Geert, wenn es
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durchaus sein muß, aber ich vergehe vor Langeweile.« Worte, denen
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Innstetten nur immer zustimmte. Was an solchen Besuchsnachmittagen
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über Familie, Kinder, auch Landwirtschaft gesagt wurde, mochte gehen;
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wenn dann aber die kirchlichen Fragen an die Reihe kamen und die
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mitanwesenden Pastoren wie kleine Päpste behandelt wurden oder sich
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auch wohl selbst als solche ansahen, dann riß Effi der Faden der Geduld,
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und sie dachte mit Wehmut an Niemeyer, der immer zurückhaltend und
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anspruchslos war, trotzdem es bei jeder größeren Feierlichkeit hieß, er
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habe das Zeug, an den »Dom« berufen zu werden. Mit den Borckes, den
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Flemmings, den Grasenabbs, so freundlich die Familien, von Sidonie
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Grasenabb abgesehen, gesinnt waren – es wollte mit allen nicht so recht
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gehen, und es hätte mit Freude, Zerstreuung und auch nur leidlichem
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Sich-behaglich-Fühlen manchmal recht schlimm gestanden, wenn
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Gieshübler nicht gewesen wäre. Der sorgte für Effi wie eine kleine
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Vorsehung, und sie wußte es ihm auch Dank. Natürlich war er neben allem
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andern auch ein eifriger und aufmerksamer Zeitungsleser, ganz zu
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schweigen, daß er an der Spitze des Journalzirkels stand, und so verging
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denn fast kein Tag, wo nicht Mirambo ein großes weißes Kuvert gebracht
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hätte mit allerhand Blättern und Zeitungen, in denen die betreffenden
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Stellen angestrichen waren, meist eine kleine, feine Bleistiftlinie, mitunter
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aber auch dick mit Blaustift und ein Ausrufungs- oder Fragezeichen
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daneben. Und dabei ließ er es nicht bewenden; er schickte auch Feigen und
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Datteln, Schokoladentafeln in Satineepapier und ein rotes Bändchen drum,
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und wenn etwas besonders Schönes in seinem Treibhaus blühte, so
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brachte er es selbst und hatte dann eine glückliche Plauderstunde mit der
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ihm so sympathischen jungen Frau, für die er alle schönen Liebesgefühle
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durch- und nebeneinander hatte, die des Vaters und Onkels, des Lehrers
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und Verehrers. Effi war gerührt von dem allen und schrieb öfters darüber
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nach Hohen-Cremmen, so daß die Mama sie mit ihrer »Liebe zum
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Alchimisten« zu necken begann; aber diese wohlgemeinten Neckereien
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verfehlten ihren Zweck, ja berührten sie beinahe schmerzlich, weil ihr, wenn
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auch unklar, dabei zum Bewußtsein kam, was ihr in ihrer Ehe eigentlich
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fehlte: Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten. Innstetten war
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lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht. Er hatte das Gefühl, Effi zu
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lieben, und das gute Gewissen, daß es so sei, ließ ihn von besonderen
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Anstrengungen absehen. Es war fast zur Regel geworden, daß er sich,
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wenn Friedrich die Lampe brachte, aus seiner Frau Zimmer in sein eigenes
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zurückzog. »Ich habe da noch eine verzwickte Geschichte zu erledigen.«
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Und damit ging er. Die Portiere blieb freilich zurückgeschlagen, so daß Effi
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das Blättern in dem Aktenstück oder das Kritzeln seiner Feder hören
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konnte, aber das war auch alles. Rollo kam dann wohl und legte sich vor
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sie hin auf den Kaminteppich, als ob er sagen wolle: »Muß nur mal wieder
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nach dir sehen; ein anderer tut's doch nicht.« Und dann beugte sie sich
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nieder und sagte leise: »Ja, Rollo, wir sind allein.« Um neun erschien dann
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Innstetten wieder zum Tee, meist die Zeitung in der Hand, sprach vom
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Fürsten, der wieder viel Ärger habe, zumal über diesen Eugen Richter,
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dessen Haltung und Sprache ganz unqualifizierbar seien, und ging dann die
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Ernennungen und Ordensverleihungen durch, von denen er die meisten
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beanstandete. Zuletzt sprach er von den Wahlen, und daß es ein Glück sei,
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einem Kreis vorzustehen, in dem es noch Respekt gäbe. War er damit
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durch, so bat er Effi, daß sie was spiele, aus Lohengrin oder aus der
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Walküre, denn er war ein Wagnerschwärmer. Was ihn zu diesem
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hinübergeführt hatte, war ungewiß; einige sagten, seine Nerven, denn so
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nüchtern er schien, eigentlich war er nervös; andere schoben es auf
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Wagners Stellung zur Judenfrage. Wahrscheinlich hatten beide recht. Um
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zehn war Innstetten dann abgespannt und erging sich in ein paar
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wohlgemeinten, aber etwas müden Zärtlichkeiten, die sich Effi gefallen ließ,
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ohne sie recht zu erwidern.
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So verging der Winter, der April kam, und in dem Garten hinter dem Hof
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begann es zu grünen, worüber sich Effi freute; sie konnte gar nicht
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abwarten, daß der Sommer komme mit seinen Spaziergängen am Strand
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und seinen Badegästen. Wenn sie so zurückblickte, der Trippelli-Abend bei
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Gieshübler und dann der Silvesterball, ja, das ging, das war etwas
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Hübsches gewesen; aber die Monate, die dann gefolgt waren, die hatten
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doch viel zu wünschen übriggelassen, und vor allem waren sie so monoton
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gewesen, daß sie sogar mal an die Mama geschrieben hatte: »Kannst Du
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Dir denken, Mama, daß ich mich mit unsrem Spuk beinah ausgesöhnt
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habe? Natürlich die schreckliche Nacht, wo Geert drüben beim Fürsten war,
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die möchte ich nicht noch einmal durchmachen, nein, gewiß nicht; aber
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immer das Alleinsein und so gar nichts erleben, das hat doch auch sein
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Schweres, und wenn ich dann in der Nacht aufwache, dann horche ich
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mitunter hinauf, ob ich nicht die Schuhe schleifen höre, und wenn alles still
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bleibt, so bin ich fast wie enttäuscht und sage mir: Wenn es doch nur
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wiederkäme, nur nicht zu arg und nicht zu nah.«
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Das war im Februar, daß Effi so schrieb, und nun war beinahe Mai.
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Drüben in der Plantage belebte sich's schon wieder, und man hörte die
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Finken schlagen. Und in derselben Woche war es auch, daß die Störche
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kamen, und einer schwebte langsam über ihr Haus hin und ließ sich dann
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auf einer Scheune nieder, die neben Utpatels Mühle stand. Das war seine
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alte Raststätte. Auch über dies Ereignis berichtete Effi, die jetzt überhaupt
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häufiger nach Hohen-Cremmen schrieb, und es war in demselben Brief, daß
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es am Schluß hieß: »Etwas, meine liebe Mama, hätte ich beinah vergessen:
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den neuen Landwehrbezirkskommandeur, den wir nun schon beinah vier
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Wochen hier haben. Ja, haben wir ihn wirklich? Das ist die Frage, und eine
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Frage von Wichtigkeit dazu, sosehr Du darüber lachen wirst und auch
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lachen mußt, weil Du den gesellschaftlichen Notstand nicht kennst, in dem
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wir uns nach wie vor befinden. Oder wenigstens ich, die ich mich mit dem
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Adel hier nicht gut zurechtfinden kann. Vielleicht meine Schuld. Aber das
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ist gleich. Tatsache bleibt: Notstand, und deshalb sah ich, durch all diese
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Winterwochen hin, dem neuen Bezirkskommandeur wie einem Trost- und
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Rettungsbringer entgegen. Sein Vorgänger war ein Greuel, von schlechten
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Manieren und noch schlechteren Sitten, und zum Überfluß auch noch
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immer schlecht bei Kasse. Wir haben all die Zeit über unter ihm gelitten,
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Innstetten noch mehr als ich, und als wir Anfang April hörten, Major von
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Crampas sei da, das ist nämlich der Name des neuen, da fielen wir uns in
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die Arme, als könne uns nichts Schlimmes mehr in diesem lieben Kessin
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passieren. Aber, wie schon kurz erwähnt, es scheint, trotzdem er da ist,
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wieder nichts werden zu wollen. Crampas ist verheiratet, zwei Kinder von
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zehn und acht Jahren, die Frau ein Jahr älter als er, also sagen wir
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fünfundvierzig. Das würde nun an und für sich nicht viel schaden, warum
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soll ich mich nicht mit einer mütterlichen Freundin wundervoll unterhalten
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können? Die Trippelli war auch nahe an Dreißig, und es ging ganz gut. Aber
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mit der Frau von Crampas, übrigens keine Geborene, kann es nichts
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werden. Sie ist immer verstimmt, beinahe melancholisch (ähnlich wie
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unsere Frau Kruse, an die sie mich überhaupt erinnert), und das alles aus
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Eifersucht. Er, Crampas, soll nämlich ein Mann vieler Verhältnisse sein, ein
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Damenmann, etwas, was mir immer lächerlich ist und mir auch in diesem
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Falle lächerlich sein würde, wenn er nicht um eben solcher Dinge willen ein
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Duell mit einem Kameraden gehabt hätte. Der linke Arm wurde ihm dicht
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unter der Schulter zerschmettert, und man sieht es sofort, trotzdem die
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Operation, wie mir Innstetten erzählt (ich glaube, sie nennen es Resektion,
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damals noch von Wilms ausgeführt), als ein Meisterstück der Kunst
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gerühmt wurde. Beide, Herr und Frau von Crampas, waren vor vierzehn
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Tagen bei uns, um uns ihren Besuch zu machen; es war eine sehr peinliche
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Situation, denn Frau von Crampas beobachtete ihren Mann so, daß er in
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eine halbe und ich in eine ganze Verlegenheit kam. Daß er selbst sehr
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anders sein kann, ausgelassen und übermütig, davon überzeugte ich mich,
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als er vor drei Tagen mit Innstetten allein war und ich, von meinem Zimmer
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her, dem Gang ihrer Unterhaltung folgen konnte. Nachher sprach auch ich
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ihn. Vollkommener Kavalier, ungewöhnlich gewandt. Innstetten war
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während des Krieges in derselben Brigade mit ihm, und sie haben sich im
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Norden von Paris bei Graf Gröben öfter gesehen. Ja, meine liebe Mama, das
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wäre nun also etwas gewesen, um in Kessin ein neues Leben beginnen zu
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können; er, der Major, hat auch nicht die pommerschen Vorurteile, trotzdem
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er in Schwedisch-Pommern zu Hause sein soll. Aber die Frau! Ohne sie
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geht es natürlich nicht, und mit ihr erst recht nicht.«
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Effi hatte ganz recht gehabt, und es kam wirklich zu keiner weiteren
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Annäherung mit dem Crampasschen Paar. Man sah sich mal bei der
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Borckeschen Familie draußen, ein andermal ganz flüchtig auf dem Bahnhof
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und wenige Tage später auf einer Boots- und Vergnügungsfahrt, die nach
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einem am Breitling gelegenen großen Buchen- und Eichenwald, der »Der
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Schnatermann« hieß, gemacht wurde; es kam aber über kurze
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Begrüßungen nicht hinaus, und Effi war froh, als Anfang Juni die Saison
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sich ankündigte. Freilich fehlte es noch an Badegästen, die vor Johanni
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überhaupt nur in Einzelexemplaren einzutreffen pflegten, aber schon die
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Vorbereitungen waren eine Zerstreuung. In der Plantage wurden Karussell
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und Scheibenstände hergerichtet, die Schiffersleute kalfaterten und
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strichen ihre Boote, jede kleine Wohnung erhielt neue Gardinen, die
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Zimmer, die feucht lagen, also den Schwamm unter der Diele hatten,
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wurden ausgeschwefelt und dann gelüftet.
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Auch in Effis eigener Wohnung, freilich um eines anderen Ankömmlings
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als der Badegäste willen, war alles in einer gewissen Erregung; selbst Frau
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Kruse wollte mittun, so gut es ging. Aber davor erschrak Effi lebhaft und
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sagte: »Geert, daß nur die Frau Kruse nichts anfaßt; da kann nichts werden,
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und ich ängstige mich schon gerade genug.«
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Innstetten versprach auch alles, Christel und Johanna hätten ja Zeit
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genug, und um seiner jungen Frau Gedanken überhaupt in eine andere
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Richtung zu bringen, ließ er das Thema der Vorbereitungen ganz fallen und
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fragte statt dessen, ob sie schon bemerkt habe, daß drüben ein Badegast
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eingezogen sei, nicht gerade der erste, aber doch einer der ersten.
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»Ein Herr?«
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»Nein, eine Dame, die schon früher hier war, jedesmal in derselben
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Wohnung. Und sie kommt immer so früh, weil sie's nicht leiden kann, wenn
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alles schon so voll ist.«
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»Das kann ich ihr nicht verdenken. Und wer ist es denn?«
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Die verwitwete Registrator Rode. «
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»Sonderbar. Ich habe mir Registratorwitwen immer arm gedacht.«
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»Ja«, lachte Innstetten, »das ist die Regel. Aber hier hast du eine
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Ausnahme. Jedenfalls hat sie mehr als ihre Witwenpension. Sie kommt
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immer mit viel Gepäck, unendlich viel mehr, als sie gebraucht, und scheint
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überhaupt eine ganz eigene Frau, wunderlich, kränklich und namentlich
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schwach auf den Füßen. Sie mißtraut sich deshalb auch und hat immer eine
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ältliche Dienerin um sich, die kräftig genug ist, sie zu schützen oder sie zu
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tragen, wenn ihr was passiert. Diesmal hat sie eine neue. Aber doch wieder
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eine ganz ramassierte Person, ähnlich wie die Trippelli, nur noch stärker.«
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»Oh, die hab ich schon gesehen. Gute braune Augen, die einen treu und
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zuversichtlich ansehen. Aber ein klein bißchen dumm.« – »Richtig, das ist
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sie.«
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Das war Mitte Juni, daß Innstetten und Effi dies Gespräch hatten. Von da
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ab brachte jeder Tag Zuzug, und nach dem Bollwerk hin spazierengehen,
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um daselbst die Ankunft des Dampfschiffes abzuwarten, wurde, wie immer
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um diese Zeit, eine Art Tagesbeschäftigung für die Kessiner. Effi freilich,
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weil Innstetten sie nicht begleiten konnte, mußte darauf verzichten, aber sie
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hatte doch wenigstens die Freude, die nach dem Strand und dem
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Strandhotel hinausführende, sonst so menschenleere Straße sich beleben
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zu sehen, und war denn auch, um immer wieder Zeuge davon zu sein, viel
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mehr als sonst in ihrem Schlafzimmer, von dessen Fenstern aus sich alles
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am besten beobachten ließ. Johanna stand dann neben ihr und gab
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Antwort auf ziemlich alles, was sie wissen wollte; denn da die meisten
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alljährlich wiederkehrende Gäste waren, so konnte das Mädchen nicht bloß
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die Namen nennen, sondern mitunter auch eine Geschichte dazu geben.
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Das alles war unterhaltlich und erheiternd für Effi. Gerade am
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Johannistag aber traf es sich, daß kurz vor elf Uhr vormittags, wo sonst der
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Verkehr vom Dampfschiff her am buntesten vorüberflutete, statt der mit
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Ehepaaren, Kindern und Reisekoffern besetzten Droschken aus der Mitte
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der Stadt her ein schwarz verhangener Wagen (dem sich zwei
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Trauerkutschen anschlossen) die zur Plantage führende Straße
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herunterkam und vor dem der landrätlichen Wohnung gegenüber
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gelegenen Hause hielt. Die verwitwete Frau Registrator Rode war nämlich
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drei Tage vorher gestorben, und nach Eintreffen der in aller Kürze
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benachrichtigten Berliner Verwandten war seitens ebendieser beschlossen
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worden, die Tote nicht nach Berlin hin überzuführen, sondern auf dem
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Kessiner Dünenkirchhof begraben zu wollen. Effi stand am Fenster und sah
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neugierig auf die sonderbar feierliche Szene, die sich drüben abspielte. Die
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zum Begräbnis von Berlin her Eingetroffenen waren zwei Neffen mit ihren
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Frauen, alle gegen Vierzig, etwas mehr oder weniger, und von
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beneidenswert gesunder Gesichtsfarbe. Die Neffen, in gutsitzenden Fracks,
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konnten passieren, und die nüchterne Geschäftsmäßigkeit, die sich in
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ihrem gesamten Tun ausdrückte, war im Grunde mehr kleidsam als
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störend. Aber die beiden Frauen! Sie waren ganz ersichtlich bemüht, den
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Kessinern zu zeigen, was eigentlich Trauer sei, und trugen denn auch
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lange, bis an die Erde reichende schwarze Kreppschleier, die zugleich ihr
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Gesicht verhüllten. Und nun wurde der Sarg, auf dem einige Kränze und
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sogar ein Palmwedel lagen, auf den Wagen gestellt, und die beiden
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Ehepaare setzten sich in die Kutschen. In die erste – gemeinschaftlich mit
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dem einen der beiden leidtragenden Paare – stieg auch Lindequist, hinter
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der zweiten Kutsche aber ging die Hauswirtin und neben dieser die
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stattliche Person, die die Verstorbene zur Aushilfe mit nach Kessin
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gebracht hatte. Letztere war sehr aufgeregt und schien durchaus ehrlich
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darin, wenn dies Aufgeregtsein auch vielleicht nicht gerade Trauer war; der
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sehr heftig schluchzenden Hauswirtin aber, einer Witwe, sah man dagegen
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fast allzu deutlich an, daß sie sich beständig die Möglichkeit eines
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Extrageschenkes berechnete, trotzdem sie in der bevorzugten und von
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anderen Wirtinnen auch sehr beneideten Lage war, die für den ganzen
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Sommer vermietete Wohnung noch einmal vermieten zu können.
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Effi, als der Zug sich in Bewegung setzte, ging in ihren hinter dem Hof
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gelegenen Garten, um hier, zwischen den Buchsbaumbeeten, den Eindruck
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des Lieb- und Leblosen, den die ganze Szene drüben auf sie gemacht hatte,
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wieder loszuwerden. Als dies aber nicht glücken wollte, kam ihr die Lust,
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statt ihrer eintönigen Gartenpromenade lieber einen weiteren Spaziergang
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zu machen, und zwar um so mehr, als ihr der Arzt gesagt hatte, viel
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Bewegung im Freien sei das Beste, was sie bei dem, was ihr bevorstände,
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tun könne. Johanna, die mit im Garten war, brachte ihr denn auch Umhang,
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Hut und Entoutcas, und mit einem freundlichen »Guten Tag« trat Effi aus
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dem Hause heraus und ging auf das Wäldchen zu, neben dessen breitem
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chaussierten Mittelweg ein schmalerer Fußsteig auf die Dünen und das am
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Strand gelegene Hotel zulief. Unterwegs standen Bänke, von denen sie jede
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benutzte, denn das Gehen griff sie an, und um so mehr, als inzwischen die
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heiße Mittagsstunde herangekommen war. Aber wenn sie saß und von
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ihrem bequemen Platz aus die Wagen und die Damen in Toilette
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beobachtete, die da hinausfuhren, so belebte sie sich wieder. Denn Heiteres
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sehen, war ihr wie Lebensluft. Als das Wäldchen aufhörte, kam freilich
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noch eine allerschlimmste Wegstelle – Sand und wieder Sand, und
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nirgends eine Spur von Schatten; aber glücklicherweise waren hier Bohlen
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und Bretter gelegt, und so kam sie, wenn auch erhitzt und müde, doch in
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guter Laune bei dem Strandhotel an. Drinnen im Saal wurde schon
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gegessen, aber hier draußen um sie her war alles still und leer, was ihr in
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diesem Augenblick denn auch das liebste war. Sie ließ sich ein Glas Sherry
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und eine Flasche Biliner Wasser bringen und sah auf das Meer hinaus, das
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im hellen Sonnenlichte schimmerte, während es am Ufer in kleinen Wellen
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brandete. »Da drüben liegt Bornholm und dahinter Wisby, wovon mir
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Jahnke vor Zeiten immer Wunderdinge vorschwärmte. Und hinter Wisby
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kommt Stockholm, wo das Stockholmer Blutbad war, und dann kommen die
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großen Ströme und dann das Nordkap und dann die Mitternachtssonne.«
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Und im Augenblick erfaßte sie eine Sehnsucht, das alles zu sehen. Aber
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dann gedachte sie wieder dessen, was ihr so nahe bevorstand, und sie
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erschrak fast. »Es ist eine Sünde, daß ich so leichtsinnig bin und solche
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Gedanken habe und mich wegträume, während ich doch an das nächste
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denken müßte. Vielleicht bestraft es sich auch noch, und alles stirbt hin,
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das Kind und ich. Und der Wagen und die zwei Kutschen, die halten dann
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nicht drüben vor dem Hause, die halten dann bei uns ... Nein, nein, ich mag
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hier nicht sterben, ich will hier nicht begraben sein, ich will nach
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Hohen-Cremmen. Und Lindequist, so gut er ist – aber Niemeyer ist mir
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lieber; er hat mich getauft und eingesegnet und getraut, und Niemeyer soll
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mich auch begraben.« Und dabei fiel eine Träne auf ihre Hand. Dann aber
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lachte sie wieder. »Ich lebe ja noch und bin erst siebzehn, und Niemeyer ist
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siebenundfünfzig.«
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In dem Eßsaal hörte sie das Geklapper des Geschirrs. Aber mit einem
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Male war es ihr, als ob die Stühle geschoben würden; vielleicht stand man
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schon auf, und sie wollte jede Begegnung vermeiden. So erhob sie sich
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auch ihrerseits rasch wieder von ihrem Platz, um auf einem Umweg nach
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der Stadt zurückzukehren. Dieser Umweg führte sie dicht an dem
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Dünenkirchhof vorüber, und weil der Torweg des Kirchhofs gerade
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offenstand, trat sie ein. Alles blühte hier, Schmetterlinge flogen über die
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Gräber hin, und hoch in den Lüften standen ein paar Möwen. Es war so still
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und schön, und sie hätte hier gleich bei den ersten Gräbern verweilen
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mögen; aber weil die Sonne mit jedem Augenblick heißer niederbrannte,
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ging sie höher hinauf, auf einen schattigen Gang zu, den Hängeweiden und
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etliche an den Gräbern stehende Trauereschen bildeten. Als sie bis an das
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Ende dieses Ganges gekommen, sah sie zur Rechten einen frisch
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aufgeworfenen Sandhügel, mit vier, fünf Kränzen darauf, und dicht daneben
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eine schon außerhalb der Baumreihe stehende Bank, darauf die gute,
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robuste Person saß, die an der Seite der Hauswirtin dem Sarge der
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verwitweten Registratorin als letzte Leidtragende gefolgt war. Effi erkannte
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sie sofort wieder und war in ihrem Herzen bewegt, die gute, treue Person,
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denn dafür mußte sie sie halten, in sengender Sonnenhitze hier
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vorzufinden. Seit dem Begräbnis waren wohl an zwei Stunden vergangen.
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»Es ist eine heiße Stelle, die Sie sich da ausgesucht haben«, sagte Effi,
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»viel zu heiß. Und wenn ein Unglück kommen soll, dann haben Sie den
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Sonnenstich.«
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Das wäre auch das beste.«
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Wie das?« – »Dann wär ich aus der Welt.«
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Ich meine, das darf man nicht sagen, auch wenn man unglücklich ist oder
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wenn einem wer gestorben ist, den man liebhatte. Sie hatten sie wohl sehr
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lieb?«
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Ich? Die? I, Gott bewahre.«
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Sie sind aber doch sehr traurig. Das muß doch einen Grund haben.«
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Den hat es auch, gnädigste Frau.«
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Kennen Sie mich?«
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Ja. Sie sind die Frau Landrätin von drüben. Und ich habe mit der Alten
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immer von Ihnen gesprochen. Zuletzt konnte sie nicht mehr, weil sie keine
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rechte Luft mehr hatte, denn es saß ihr hier und wird wohl Wasser gewesen
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sein; aber solange sie noch reden konnte, redete sie immerzu. Es war ne
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richtige Berlinsche ...« – »Gute Frau?«
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Nein; wenn ich das sagen wollte, müßt ich lügen. Da liegt sie nun, und
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man soll von einem Toten nichts Schlimmes sagen, und erst recht nicht,
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wenn er so kaum seine Ruhe hat. Na, die wird sie ja wohl haben! Aber sie
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taugte nichts und war zänkisch und geizig, und für mich hat sie auch nicht
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gesorgt. Und die Verwandtschaft, die da gestern von Berlin gekommen ...
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gezankt haben sie sich bis in die sinkende Nacht ... na, die taugt auch
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nichts, die taugt erst recht nichts. Lauter schlechtes Volk, happig und gierig
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und hartherzig, und haben mir barsch und unfreundlich und mit allerlei
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Redensarten meinen Lohn ausgezahlt, bloß weil sie mußten und weil es
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bloß noch sechs Tage sind bis zum Vierteljahresersten. Sonst hätte ich
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nichts gekriegt oder bloß halb oder bloß ein Viertel. Nichts aus freien
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Stücken. Und einen eingerissenen Fünfmarkschein haben sie mir gegeben,
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daß ich nach Berlin zurückreisen kann; na, es reicht so gerade für die vierte
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Klasse, und ich werde wohl auf meinem Koffer sitzen müssen. Aber ich will
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auch gar nicht; ich will hier sitzen bleiben und warten, bis ich sterbe ...
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Gott, ich dachte nun mal Ruhe zu haben und hätte auch ausgehalten bei
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der Alten. Und nun ist es wieder nichts und soll mich wieder rumstoßen
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lassen. Und kattolsch bin ich auch noch. Ach, ich hab es satt und läg am
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liebsten, wo die Alte liegt, und sie könnte meinetwegen weiterleben ... Sie
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hätte gerne noch weitergelebt; solche Menschenschikanierer, die nich mal
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Luft haben, die leben immer am liebsten.«
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Rollo, der Effi begleitet hatte, hatte sich mittlerweile vor die Person
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hingesetzt, die Zunge weit heraus, und sah sie an. Als sie jetzt schwieg,
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erhob er sich, ging einen Schritt vor und legte seinen Kopf auf ihre Knie.
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Mit einem Male war die Person wie verwandelt. »Gott, das bedeutet mir
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was. Das is ja 'ne Kreatur, die mich leiden kann, die mich freundlich ansieht
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und ihren Kopf auf meine Knie legt. Gott, das ist lange her, daß ich so was
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gehabt habe. Nu, mein Alterchen, wie heißt du denn? Du bist ja ein
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Prachtkerl.« – »Rollo«, sagte Effi.
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»Rollo; das ist sonderbar. Aber der Name tut nichts. Ich habe auch einen
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sonderbaren Namen, das heißt Vornamen. Und einen andern hat unsereins
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ja nicht.«
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»Wie heißen Sie denn?« – »Ich heiße Roswitha.«
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Ja, das ist selten, das ist ja ...«
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»Ja, ganz recht, gnädige Frau, das ist ein kattolscher Name. Und das
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kommt auch noch dazu, daß ich eine Kattolsche bin.
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Aus'n Eichsfeld. Und das Kattolsche, das macht es einem immer noch
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schwerer und saurer. Viele wollen keine Kattolsche, weil sie so viel in die
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Kirche rennen. 'Immer in die Beichte; und die Hauptsache sagen sie doch
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nich' – Gott, wie oft hab ich das hören müssen, erst als ich in
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Giebichenstein im Dienst war und dann in Berlin. Ich bin aber eine
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schlechte Katholikin und bin ganz davon abgekommen, und vielleicht geht
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es mir deshalb so schlecht; ja, man darf nich von seinem Glauben lassen
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und muß alles ordentlich mitmachen.«
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»Roswitha«, wiederholte Effi den Namen und setzte sich zu ihr auf die
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Bank. »Was haben Sie nun vor?«
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»Ach, gnäd'ge Frau, was soll ich vorhaben. Ich habe gar nichts vor. Wahr
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und wahrhaftig, ich möchte hier sitzen bleiben und warten, bis ich tot
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umfalle. Das wäre mir das liebste. Und dann würden die Leute noch
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denken, ich hätte die Alte so geliebt wie ein treuer Hund und hätte von
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ihrem Grab nicht weggewollt und wäre da gestorben. Aber das ist falsch,
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für solche Alte stirbt man nicht; ich will bloß sterben, weil ich nicht leben
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kann.«
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»Ich will Sie was fragen, Roswitha. Sind Sie, was man so 'kinderlieb'
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nennt? Waren Sie schon mal bei kleinen Kindern ?«
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»Gewiß war ich. Das ist ja mein Bestes und Schönstes. Solche alte
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Berlinsche – Gott verzeih mir die Sünde, denn sie ist nun tot und steht vor
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Gottes Thron und kann mich da verklagen –, solche Alte, wie die da, ja, das
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ist schrecklich, was man da alles tun muß, und steht einem hier vor Brust
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und Magen, aber solch kleines, liebes Ding, solch Dingelchen wie ne
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Puppe, das einen mit seinen Guckäugelchen ansieht, ja, das ist was, da
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geht einem das Herz auf. Als ich in Halle war, da war ich Amme bei der Frau
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Salzdirektorin, und in Giebichenstein, wo ich nachher hinkam, da hab ich
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Zwillinge mit der Flasche großgezogen; ja, gnäd'ge Frau, das versteh ich,
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da drin bin ich wie zu Hause.«
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»Nun, wissen Sie was, Roswitha, Sie sind eine gute, treue Person, das
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seh ich Ihnen an, ein bißchen gradezu, aber das schadet nichts, das sind
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mitunter die Besten, und ich habe gleich ein Zutrauen zu Ihnen gefaßt.
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Wollen Sie mit zu mir kommen? Mir ist, als hätte Gott Sie mir geschickt. Ich
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erwarte nun bald ein Kleines, Gott gebe mir seine Hilfe dazu, und wenn das
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Kind da ist, dann muß es gepflegt und abgewartet werden und vielleicht
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auch gepäppelt. Man kann das ja nicht wissen, wiewohl ich es anders
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wünsche. Was meinen Sie, wollen Sie mit zu mir kommen? Ich kann mir
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nicht denken, daß ich mich in Ihnen irre.«
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Roswitha war aufgesprungen und hatte die Hand der jungen Frau
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ergriffen und küßte sie mit Ungestüm. »Ach, es ist doch ein Gott im
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Himmel, und wenn die Not am größten ist, ist die Hilfe am nächsten. Sie
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sollen sehn, gnäd'ge Frau, es geht; ich bin eine ordentliche Person und
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habe gute Zeugnisse. Das können Sie sehn, wenn ich Ihnen mein Buch
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bringe. Gleich den ersten Tag, als ich die gnäd'ge Frau sah, da dacht ich:
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Ja, wenn du mal solchen Dienst hättest.' Und nun soll ich ihn haben. O du
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lieber Gott, o du heil'ge Jungfrau Maria, wer mir das gesagt hätte, wie wir
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die Alte hier unter der Erde hatten und die Verwandten machten, daß sie
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wieder fortkamen, und mich hier sitzenließen.«
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»Ja, unverhofft kommt oft, Roswitha, und mitunter auch im Guten. Und
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nun wollen wir gehen. Rollo wird schon ungeduldig und läuft immer auf das
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Tor zu.«
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Roswitha war gleich bereit, trat aber noch einmal an das Grab, brummelte
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was vor sich hin und machte ein Kreuz. Und dann gingen sie den
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schattigen Gang hinunter und wieder auf das Kirchhofstor zu.
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Drüben lag die eingegitterte Stelle, deren weißer Stein in der
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Nachmittagssonne blinkte und blitzte. Effi konnte jetzt ruhiger hinsehen.
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Eine Weile noch führte der Weg zwischen Dünen hin, bis sie, dicht vor
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Utpatels Mühle, den Außenrand des Wäldchens erreichte. Da bog sie links
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ein, und unter Benutzung einer schräglaufenden Allee, die die
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»Reeperbahn« hieß, ging sie mit Roswitha auf die landrätliche Wohnung zu.