Fünfter Auftritt
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Der Prinz. Marinelli. Odoardo Galotti.
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Der Prinz: Ah, mein lieber, rechtschaffner Galotti – so etwas muß auch
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geschehen, wenn ich Sie bei mir sehen soll. Um ein Geringeres tun Sie
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es nicht. Doch keine Vorwürfe!
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Odoardo: Gnädiger Herr, ich halte es in allen Fällen für unanständig, sich
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zu seinem Fürsten zu drängen. Wen er kennt, den wird er fodern
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lassen, wenn er seiner bedarf. Selbst itzt bitte ich um Verzeihung –
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Der Prinz: Wie manchem andern wollte ich diese stolze Bescheidenheit
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wünschen! – Doch zur Sache. Sie werden begierig sein, Ihre Tochter zu
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sehen. Sie ist in neuer Unruhe wegen der plötzlichen Entfernung einer
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so zärtlichen Mutter. – Wozu auch diese Entfernung? Ich wartete nur,
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daß die liebenswürdige Emilie sich völlig erholet hätte, um beide im
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Triumphe nach der Stadt zu bringen. Sie haben mir diesen Triumph um
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die Hälfte verkümmert, aber ganz werde ich mir ihn nicht nehmen
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lassen.
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Odoardo: Zu viel Gnade! – Erlauben Sie, Prinz, daß ich meinem
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unglücklichen Kinde alle die mannigfaltigen Kränkungen erspare, die
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Freund und Feind, Mitleid und Schadenfreude in Guastalla für sie bereit
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halten.
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Der Prinz: Um die süßen Kränkungen des Freundes und des Mitleids,
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würde es Grausamkeit sein, sie zu bringen. Daß aber die Kränkungen
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des Feindes und der Schadenfreude sie nicht erreichen sollen, dafür,
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lieber Galotti, lassen Sie mich sorgen.
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Odoardo: Prinz, die väterliche Liebe teilet ihre Sorgen nicht gern. – Ich
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denke, ich weiß es, was meiner Tochter in ihren itzigen Umständen
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einzig ziemet – Entfernung aus der Welt – ein Kloster – sobald als
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möglich.
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Der Prinz: Ein Kloster?
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Odoardo: Bis dahin weine sie unter den Augen ihres Vaters.
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Der Prinz: So viel Schönheit soll in einem Kloster verblühen? – Darf eine
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einzige fehlgeschlagene Hoffnung uns gegen die Welt so unversöhnlich
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machen? – Doch allerdings: dem Vater hat niemand einzureden.
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Bringen Sie Ihre Tochter, Galotti, wohin Sie wollen.
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Odoardo (gegen Marinelli): Nun, mein Herr?
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Marinelli: Wenn Sie mich sogar auffodern!
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Odoardo: O mitnichten, mitnichten.
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Der Prinz: Was haben Sie beide?
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Odoardo: Nichts, gnädiger Herr, nichts. – Wir erwägen bloß, welcher von
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uns sich in Ihnen geirret hat.
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Der Prinz: Wieso? – Reden Sie, Marinelli.
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Marinelli: Es geht mir nahe, der Gnade meines Fürsten in den Weg zu
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treten. Doch wenn die Freundschaft gebietet, vor allem in ihm den
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Richter aufzufodern –
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Der Prinz: Welche Freundschaft? –
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Marinelli: Sie wissen, gnädiger Herr, wie sehr ich den Grafen Appiani liebte,
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wie sehr unser beider Seelen ineinander verwebt schienen –
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Odoardo: Das wissen Sie, Prinz? So wissen Sie es wahrlich allein.
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Marinelli: Von ihm selbst zu seinem Rächer bestellet –
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Odoardo: Sie?
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Marinelli: Fragen Sie nur Ihre Gemahlin. Marinelli, der Name Marinelli war
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das letzte Wort des sterbenden Grafen, und in einem Tone! in einem
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Tone! – Daß er mir nie aus dem Gehöre komme, dieser schreckliche
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Ton, wenn ich nicht alles anwende, daß seine Mörder entdeckt und
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bestraft werden!
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Der Prinz: Rechnen Sie auf meine kräftigste Mitwirkung.
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Odoardo: Und meine heißesten Wünsche! – Gut, gut! – Aber was weiter?
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Der Prinz: Das frag ich, Marinelli.
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Marinelli: Man hat Verdacht, daß es nicht Räuber gewesen, welche den
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Grafen angefallen.
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Odoardo (höhnisch): Nicht? Wirklich nicht?
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Marinelli: Daß ein Nebenbuhler ihn aus dem Wege räumen lassen.
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Odoardo (bitter): Ei! Ein Nebenbuhler?
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Marinelli: Nicht anders.
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Odoardo: Nun dann – Gott verdamm' ihn, den meuchelmörderischen
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Buben!
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Marinelli: Ein Nebenbuhler, und ein begünstigter Nebenbuhler –
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Odoardo: Was? ein begünstigter? – Was sagen Sie?
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Marinelli: Nichts, als was das Gerüchte verbreitet.
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Odoardo: Ein begünstigter? von meiner Tochter begünstiget?
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Marinelli: Das ist gewiß nicht. Das kann nicht sein. Dem widersprech ich,
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trotz Ihnen. – Aber bei dem allen, gnädiger Herr – denn das
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gegründetste Vorurteil wieget auf der Waage der Gerechtigkeit soviel
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als nichts – bei dem allen wird man doch nicht umhin können, die
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schöne Unglückliche darüber zu vernehmen.
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Der Prinz: Jawohl, allerdings.
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Marinelli: Und wo anders? wo kann das anders geschehen als in
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Guastalla?
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Der Prinz: Da haben Sie recht, Marinelli, da haben Sie recht. – Ja so, das
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verändert die Sache, lieber Galotti. Nicht wahr? Sie sehen selbst –
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Odoardo: O ja, ich sehe – Ich sehe, was ich sehe. – Gott! Gott!
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Der Prinz: Was ist Ihnen? was haben Sie mit sich?
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Odoardo: Daß ich es nicht vorausgesehen, was ich da sehe. Das ärgert
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mich, weiter nichts. – Nun ja, sie soll wieder nach Guastalla. Ich will sie
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wieder zu ihrer Mutter bringen, und bis die strengste Untersuchung sie
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freigesprochen, will ich selbst aus Guastalla nicht weichen. Denn wer
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weiß – (mit einem bittern Lachen) wer weiß, ob die Gerechtigkeit nicht
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auch nötig findet, mich zu vernehmen.
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Marinelli: Sehr möglich! In solchen Fällen tut die Gerechtigkeit lieber zuviel
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als zuwenig. – Daher fürchte ich sogar –
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Der Prinz: Was? was fürchten Sie?
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Marinelli: Man werde vor der Hand nicht verstatten können, daß Mutter und
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Tochter sich sprechen.
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Odoardo: Sich nicht sprechen?
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Marinelli: Man werde genötiget sein, Mutter und Tochter zu trennen.
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Odoardo: Mutter und Tochter zu trennen?
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Marinelli: Mutter und Tochter und Vater. Die Form des Verhörs erfodert
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diese Vorsichtigkeit schlechterdings. Und es tut mir leid, gnädiger Herr,
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daß ich mich gezwungen sehe, ausdrücklich darauf anzutragen,
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wenigstens Emilien in eine besondere Verwahrung zu bringen.
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Odoardo: Besondere Verwahrung? – Prinz! Prinz! – Doch ja, freilich,
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freilich! Ganz recht: in eine besondere Verwahrung! Nicht, Prinz? nicht?
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– O wie fein die Gerechtigkeit ist! Vortrefflich! (Fährt schnell nach dem
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Schubsacke, in welchem er den Dolch hat.)
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Der Prinz (schmeichelhaft auf ihn zutretend): Fassen Sie sich, lieber Galotti
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Odoardo (beiseite, indem er die Hand leer wieder herauszieht): Das sprach
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sein Engel!
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Der Prinz: Sie sind irrig, Sie verstehen ihn nicht. Sie denken bei dem Worte
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Verwahrung wohl gar an Gefängnis und Kerker.
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Odoardo: Lassen Sie mich daran denken: und ich bin ruhig!
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Der Prinz: Kein Wort von Gefängnis, Marinelli! Hier ist die Strenge der
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Gesetze mit der Achtung gegen unbescholtene Tugend leicht zu
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vereinigen. Wenn Emilia in besondere Verwahrung gebracht werden
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muß, so weiß ich schon – die alleranständigste. Das Haus meines
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Kanzlers – Keinen Widerspruch, Marinelli! – Da will ich sie selbst
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hinbringen, da will ich sie der Aufsicht einer der würdigsten Damen
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übergeben. Die soll mir für sie bürgen, haften. – Sie gehen zu weit,
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Marinelli, wirklich zu weit, wenn Sie mehr verlangen. – Sie kennen
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doch, Galotti, meinen Kanzler Grimaldi und seine Gemahlin?
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Odoardo: Was sollt' ich nicht? Sogar die liebenswürdigen Töchter dieses
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edeln Paares kenn ich. Wer kennt sie nicht? – (Zu Marinelli.) Nein, mein
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Herr, geben Sie das nicht zu. Wenn Emilia verwahrt werden muß, so
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müsse sie in dem tiefsten Kerker verwahret werden. Dringen Sie darauf,
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ich bitte Sie. – Ich Tor, mit meiner Bitte! ich alter Geck! – Jawohl hat sie
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recht die gute Sibylle: »Wer über gewisse Dinge seinen Verstand nicht
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verlieret, der hat keinen zu verlieren!«
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Der Prinz: Ich verstehe Sie nicht. – Lieber Galotti, was kann ich mehr tun? –
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Lassen Sie es dabei, ich bitte Sie. – Ja, ja, in das Haus meines
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Kanzlers! da soll sie hin; da bring ich sie selbst hin; und wenn ihr da
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nicht mit der äußersten Achtung begegnet wird, so hat mein Wort nichts
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gegolten. Aber sorgen Sie nicht. – Dabei bleibt es! dabei bleibt es! – Sie
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selbst, Galotti, mit sich, können es halten, wie Sie wollen. – Sie können
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uns nach Guastalla folgen, Sie können nach Sabionetta zurückkehren:
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wie Sie wollen. Es wäre lächerlich, Ihnen vorzuschreiben. – Und nun,
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auf Wiedersehen, lieber Galotti! – Kommen Sie, Marinelli, es wird spät.
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Odoardo (der in tiefen Gedanken gestanden): Wie? so soll ich sie gar nicht
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sprechen, meine Tochter? Auch hier nicht? – Ich lasse mir ja alles
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gefallen, ich finde ja alles ganz vortrefflich. Das Haus eines Kanzlers ist
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natürlicherweise eine Freistatt der Tugend. Oh, gnädiger Herr, bringen
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Sie ja meine Tochter dahin, nirgends anders als dahin. – Aber sprechen
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wollt' ich sie doch gerne vorher. Der Tod des Grafen ist ihr noch
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unbekannt. Sie wird nicht begreifen können, warum man sie von ihren
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Eltern trennet. Ihr jenen auf gute Art beizubringen, sie dieser Trennung
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wegen zu beruhigen – muß ich sie sprechen, gnädiger Herr, muß ich
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sie sprechen.
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Der Prinz: So kommen Sie denn –
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Odoardo: Oh, die Tochter kann auch wohl zu dem Vater kommen. – Hier,
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unter vier Augen, bin ich gleich mit ihr fertig. Senden Sie mir sie nur,
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gnädiger Herr.
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Der Prinz: Auch das! – O Galotti, wenn Sie mein Freund, mein Führer, mein
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Vater sein wollten! (Der Prinz und Marinelli geben ab.)