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Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

3. Kapitel

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Noch an demselben Tage hatte sich Baron Innstetten mit Effi Briest
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verlobt. Der joviale Brautvater, der sich nicht leicht in seiner
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Feierlichkeitsrolle zurechtfand, hatte bei dem Verlobungsmahl, das folgte,
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das junge Paar leben lassen, was auf Frau von Briest, die dabei der nun um
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kaum achtzehn Jahre zurückliegenden Zeit gedenken mochte, nicht ohne
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herzbeweglichen Eindruck geblieben war. Aber nicht auf lange; sie hatte es
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nicht sein können, nun war es statt ihrer die Tochter – alles in allem
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ebensogut oder vielleicht noch besser. Denn mit Briest ließ sich leben,
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trotzdem er ein wenig prosaisch war und dann und wann einen kleinen
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frivolen Zug hatte. Gegen Ende der Tafel, das Eis wurde schon
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herumgereicht, nahm der alte Ritterschaftsrat noch einmal das Wort, um in
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einer zweiten Ansprache das allgemeine Familien-Du zu proponieren. Er
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umarmte dabei Innstetten und gab ihm einen Kuß auf die linke Backe.
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Hiermit war aber die Sache für ihn noch nicht abgeschlossen, vielmehr fuhr
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er fort, außer dem »Du« zugleich intimere Namen und Titel für den
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Hausverkehr zu empfehlen, eine Art Gemütlichkeitsrangliste aufzustellen,
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natürlich unter Wahrung berechtigter, weil wohlerworbener
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Eigentümlichkeiten. Für seine Frau, so hieß es, würde der Fortbestand von
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»Mama« (denn es gäbe auch junge Mamas) wohl das beste sein, während
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er für seine Person, unter Verzicht auf den Ehrentitel »Papa«, das einfache
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Briest entschieden bevorzugen müsse, schon weil es so hübsch kurz sei.
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Und was nun die Kinder angehe – bei welchem Wort er sich, Aug in Auge
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mit dem nur etwa um ein Dutzend Jahre jüngeren Innstetten, einen Ruck
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geben mußte –, nun, so sei Effi eben Effi und Geert Geert. Geert, wenn er
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nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen
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Stamm, und Effi sei dann also der Efeu, der sich darumzuranken habe. Das
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Brautpaar sah sich bei diesen Worten etwas verlegen an. Effi zugleich mit
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einem Ausdruck kindlicher Heiterkeit, Frau von Briest aber sagte: »Briest,
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sprich, was du willst, und formuliere deine Toaste nach Gefallen, nur
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poetische Bilder, wenn ich bitten darf, laß beiseite, das liegt jenseits deiner
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Sphäre.« Zurechtweisende Worte, die bei Briest mehr Zustimmung als
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Ablehnung gefunden hatten. »Es ist möglich, daß du recht hast, Luise.«
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Gleich nach Aufhebung der Tafel beurlaubte sich Effi, um einen Besuch
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drüben bei Pastors zu machen. Unterwegs sagte sie sich: »Ich glaube,
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Hulda wird sich ärgern. Nun bin ich ihr doch zuvorgekommen – sie war
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immer zu eitel und eingebildet.« Aber Effi traf es mit ihrer Erwartung nicht
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ganz; Hulda, durchaus Haltung bewahrend, benahm sich sehr gut und
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überließ die Bezeugung von Unmut und Ärger ihrer Mutter, der Frau
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Pastorin, die denn auch sehr sonderbare Bemerkungen machte. »Ja, ja, so
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geht es. Natürlich. Wenn's die Mutter nicht sein konnte, muß es die Tochter
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sein. Das kennt man. Alte Familien halten immer zusammen, und wo was is,
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da kommt was dazu.« Der alte Niemeyer kam in arge Verlegenheit über
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diese fortgesetzten Spitzen Redensarten ohne Bildung und Anstand und
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beklagte mal wieder, eine Wirtschafterin geheiratet zu haben.
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Von Pastors ging Effi natürlich auch zu Kantor Jahnkes; die Zwillinge
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hatten schon nach ihr ausgeschaut und empfingen sie im Vorgarten.
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»Nun, Effi«, sagte Hertha, während alle drei zwischen den rechts und
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links blühenden Studentenblumen auf und ab schritten, »nun, Effi, wie ist
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dir eigentlich?«
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»Wie mir ist? Oh, ganz gut. Wir nennen uns auch schon du und bei
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Vornamen. Er heißt nämlich Geert, was ich euch, wie mir einfällt, auch
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schon gesagt habe.«
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»Ja, das hast du. Mir ist aber doch so bange dabei. Ist es denn auch der
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Richtige?«
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»Gewiß ist es der Richtige. Das verstehst du nicht, Hertha. Jeder ist der
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Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut
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aussehen.«
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»Gott, Effi, wie du nur sprichst. Sonst sprachst du doch ganz anders. «
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»Ja, sonst.«
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»Und bist du auch schon ganz glücklich?«
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»Wenn man zwei Stunden verlobt ist, ist man immer ganz glücklich.
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Wenigstens denk ich es mir so.«
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»Und ist es dir denn gar nicht, ja, wie sag ich nur, ein bißchen genant ? «
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»Ja, ein bißchen genant ist es mir, aber doch nicht sehr. Und ich denke,
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ich werde darüber wegkommen.«
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Nach diesem im Pfarr- und Kantorhause gemachten Besuche, der keine
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halbe Stunde gedauert hatte, war Effi wieder nach drüben zurückgekehrt,
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wo man auf der Gartenveranda eben den Kaffee nehmen wollte.
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Schwiegervater und Schwiegersohn gingen auf dem Kieswege zwischen
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den zwei Platanen auf und ab. Briest sprach von dem Schwierigen einer
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landrätlichen Stellung; sie sei ihm verschiedentlich angetragen worden,
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aber er habe jedesmal gedankt. »So nach meinem eigenen Willen schalten
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und walten zu können ist mir immer das liebste gewesen, jedenfalls lieber –
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Pardon, Innstetten –, als so die Blicke beständig nach oben richten zu
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müssen. Man hat dann bloß immer Sinn und Merk für hohe und höchste
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Vorgesetzte. Das ist nichts für mich. Hier leb ich so freiweg und freue mich
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über jedes grüne Blatt und über den wilden Wein, der da drüben in die
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Fenster wächst.«
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Er sprach noch mehr dergleichen, allerhand Antibeamtliches, und
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entschuldigte sich von Zeit zu Zeit mit einem kurzen, verschiedentlich
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wiederkehrenden »Pardon, Innstetten«. Dieser nickte mechanisch
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zustimmend, war aber eigentlich wenig bei der Sache, sah vielmehr wie
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gebannt immer aufs neue nach dem drüben am Fenster rankenden wilden
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Wein hinüber, von dem Briest eben gesprochen, und während er dem
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nachhing, war es ihm, als säh' er wieder die rotblonden Mädchenköpfe
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zwischen den Weinranken und höre dabei den übermütigen Zuruf: »Effi,
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komm.«
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Er glaubte nicht an Zeichen und ähnliches, im Gegenteil, wies alles
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Abergläubische weit zurück. Aber er konnte trotzdem von den zwei Worten
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nicht los, und während Briest immer weiterperorierte, war es ihm
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beständig, als wäre der kleine Hergang doch mehr als ein bloßer Zufall
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gewesen.
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Innstetten, der nur einen kurzen Urlaub genommen, war schon am
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folgenden Tag wieder abgereist, nachdem er versprochen, jeden Tag
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schreiben zu wollen. »Ja, das mußt du«, hatte Effi gesagt, ein Wort, das ihr
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von Herzen kam, da sie seit Jahren nichts Schöneres kannte als
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beispielsweise den Empfang vieler Geburtstagsbriefe. Jeder mußte ihr zu
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diesem Tag schreiben. In den Brief eingestreute Wendungen, etwa wie
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»Gertrud und Klara senden Dir mit mir ihre herzlichsten Glückwünsche«,
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waren verpönt; Gertrud und Klara, wenn sie Freundinnen sein wollten,
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hatten dafür zu Sorgen, daß ein Brief mit selbständiger Marke daläge,
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womöglich – denn ihr Geburtstag fiel noch in die Reisezeit mit einer
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fremden, aus der Schweiz oder Karlsbad.
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Innstetten, wie versprochen, schrieb wirklich jeden Tag; was aber den
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Empfang seiner Briefe ganz besonders angenehm machte, war der
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Umstand, daß er allwöchentlich nur einmal einen ganz kleinen Antwortbrief
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erwartete. Den erhielt er dann auch, voll reizend nichtigen und ihn jedesmal
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entzückenden Inhalts. Was es von ernsteren Dingen zu besprechen gab,
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das verhandelte Frau von Briest mit ihrem Schwiegersohn: Festsetzungen
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wegen der Hochzeit, Ausstattungs- und Wirtschaftseinrichtungsfragen.
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Innstetten, schon an die drei Jahre im Amt, war in seinem Kessiner Hause
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nicht glänzend, aber doch sehr standesgemäß eingerichtet, und es empfahl
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sich, in der Korrespondenz mit ihm ein Bild von allem, was da war, zu
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gewinnen, um nichts Unnützes anzuschaffen. Schließlich, als Frau von
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Briest über all diese Dinge genugsam unterrichtet war, wurde seitens
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Mutter und Tochter eine Reise nach Berlin beschlossen, um, wie Briest sich
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ausdrückte, den »Trousseau« für Prinzessin Effi zusammenzukaufen. Effi
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freute sich sehr auf den Aufenthalt in Berlin, um so mehr, als der Vater
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darein gewilligt hatte, im Hotel du Nord Wohnung zu nehmen. Was es koste,
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könne ja von der Ausstattung abgezogen werden; Innstetten habe ohnehin
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alles. Effi ganz im Gegensatz zu der solche »Mesquinerien« ein für allemal
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sich verbittenden Mama – hatte dem Vater, ohne jede Sorge darum, ob er's
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scherz- oder ernsthaft gemeint hatte, freudig zugestimmt und beschäftigte
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sich in ihren Gedanken viel, viel mehr mit dem Eindruck, den sie beide,
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Mutter und Tochter, bei ihrem Erscheinen an der Table d'hôte machen
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würden, als mit Spinn und Mencke, Goschenhofer und ähnlichen Firmen,
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die vorläufig notiert worden waren. Und diesen ihren heiteren Phantasien
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entsprach denn auch ihre Haltung, als die große Berliner Woche nun
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wirklich da war. Vetter Briest vom Alexanderregiment, ein ungemein
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ausgelassener junger Leutnant, der die »Fliegenden Blätter« hielt und über
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die besten Witze Buch führte, stellte sich den Damen für jede dienstfreie
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Stunde zur Verfügung, und so saßen sie denn mit ihm bei Kranzler am
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Eckfenster oder zu statthafter Zeit auch wohl im Café Bauer und fuhren
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nachmittags in den Zoologischen Garten, um da die Giraffen zu sehen, von
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denen Vetter Briest, der übrigens Dagobert hieß, mit Vorliebe behauptete,
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sie sähen aus wie adlige alte Jungfern. Jeder Tag verlief programmäßig,
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und am dritten oder vierten Tag gingen sie, wie vorgeschrieben, in die
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Nationalgalerie, weil Vetter Dagobert seiner Cousine die »Insel der Seligen«
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zeigen wollte. Fräulein Cousine stehe zwar auf dem Punkte, sich zu
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verheiraten, es sei aber doch vielleicht gut, die »Insel der Seligen« schon
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vorher kennengelernt zu haben. Die Tante gab ihm einen Schlag mit dem
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Fächer, begleitete diesen Schlag aber mit einem so gnädigen Blick, daß er
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keine Veranlassung hatte, den Ton zu ändern. Es waren himmlische Tage
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für alle drei, nicht zum wenigsten für den Vetter, der so wundervoll zu
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chaperonnieren und kleine Differenzen immer rasch auszugleichen
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verstand. An solchen Meinungsverschiedenheiten zwischen Mutter und
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Tochter war nun, wie das so geht, all die Zeit über kein Mangel, aber sie
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traten glücklicherweise nie bei den zu machenden Einkäufen hervor. Ob
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man von einer Sache sechs oder drei Dutzend erstand, Effi war mit allem
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gleichmäßig einverstanden, und wenn dann auf dem Heimweg von dem
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Preis der eben eingekauften Gegenstände gesprochen wurde, so
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verwechselte sie regelmäßig die Zahlen. Frau von Briest, sonst so kritisch,
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auch ihrem eigenen geliebten Kinde gegenüber, nahm dies anscheinend
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mangelnde Interesse nicht nur von der leichten Seite, sondern erkannte
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sogar einen Vorzug darin. Alle diese Dinge, so sagte sie sich, bedeuten Effi
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nicht viel. Effi ist anspruchslos; sie lebt in ihren Vorstellungen und
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Träumen, und wenn die Prinzessin Friedrich Karl vorüberfährt und sie von
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ihrem Wagen aus freundlich grüßt, so gilt ihr das mehr als eine ganze Truhe
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voll Weißzeug.
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Das alles war auch richtig, aber doch nur halb. An dem Besitze mehr oder
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weniger alltäglicher Dinge lag Effi nicht viel, aber wenn sie mit der Mama
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die Linden hinauf- und hinunterging und nach Musterung der schönsten
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Schaufenster in den Demuthschen Laden eintrat, um für die gleich nach der
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Hochzeit geplante italienische Reise allerlei Einkäufe zu machen, so zeigte
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sich ihr wahrer Charakter. Nur das Eleganteste gefiel ihr, und wenn sie das
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Beste nicht haben konnte, so verzichtete sie auf das Zweitbeste, weil ihr
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dies Zweite nun nichts mehr bedeutete. Ja, sie konnte verzichten, darin
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hatte die Mama recht, und in diesem Verzichtenkönnen lag etwas von
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Anspruchslosigkeit; wenn es aber ausnahmsweise mal wirklich etwas zu
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besitzen galt, so mußte dies immer was ganz Apartes sein. Und darin war
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sie anspruchsvoll.

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