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Inhaltsverzeichnis

Erster Abschnitt

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Es war ein schöner Sommerabend, als Florio, ein junger Edelmann,
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langsam auf die Tore von Lucca zuritt, sich erfreuend an dem feinen Dufte,
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der über der wunderschönen Landschaft und den Türmen und Dächern der
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Stadt vor ihm zitterte, sowie an den bunten Zügen zierlicher Damen und
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Herren, welche sich zu beiden Seiten der Straße unter den hohen
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Kastanienalleen fröhlich schwärmend ergingen. Da gesellte sich, auf
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zierlichem Zelter desselben Weges ziehend, ein anderer Reiter in bunter
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Tracht, eine goldene Kette um den Hals und ein samtnes Barett mit Federn
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über den dunkelbraunen Locken, freundlich grüßend zu ihm. Beide hatten,
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so nebeneinander in den dunkelnden Abend hineinreitend, gar bald ein
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Gespräch angeknüpft, und dem jungen Florio dünkte die schlanke Gestalt
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des Fremden, sein frisches, keckes Wesen, ja selbst seine fröhliche Stimme
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so überaus anmutig, daß er gar nicht von demselben wegsehen konnte.
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«Welches Geschäft führt Euch nach Lucca?» fragte endlich der Fremde.
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«Ich habe eigentlich gar keine Geschäfte», antwortete Florio ein wenig
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schüchtern. «Gar keine Geschäfte? – Nun, so seid Ihr sicherlich ein Poet!»
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versetzte jener lustig lachend. «Das wohl eben nicht», erwiderte Florio und
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wurde über und über rot. «Ich liebe mich wohl zuweilen in der fröhlichen
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Sangeskunst versucht, aber wenn ich dann wieder die alten großen Meister
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las, wie da alles wirklich da ist und leibt und lebt, was ich mir manchmal
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heimlich nur wünschte und ahnete, da komm ich mir vor wie ein
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schwaches, vom Winde verwehtes Lerchenstimmlein unter dem
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unermeßlichen Himmelsdom.» – «Jeder lobt Gott auf seine Weise», sagte
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der Fremde, «und alle Stimmen zusammen machen den Frühling.» Dabei
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ruhten seine großen, geistreichen Augen mit sichtbarem Wohlgefallen auf
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dem schönen Jünglinge, der so unschuldig in die dämmernde Welt vor sich
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hinaussah.
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«Ich habe jetzt», fuhr dieser nun kühner und vertraulicher fort, «das
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Reisen erwählt und befinde mich wie aus einem Gefängnis erlöst, alle alten
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Wünsche und Freuden sind nun auf einmal in Freiheit gesetzt. Auf dem
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Lande in der Stille aufgewachsen, wie lange habe ich da die fernen blauen
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Berge sehnsüchtig betrachtet, wenn der Frühling wie ein zauberischer
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Spielmann durch unsern Garten ging und von der wunderschönen Ferne
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verlockend sang und von großer, unermeßlicher Lust.» Der Fremde war
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über die letzten Worte in tiefe Gedanken versunken. «Habt Ihr wohl jemals»,
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sagte er zerstreut, aber sehr ernsthaft, «von dem wunderbaren Spielmann
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gehört, der durch seine Töne die Jugend in einen Zauberberg hinein
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verlockt, aus dem keiner wieder zurückgekehrt ist? Hütet Euch!»
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Florio wußte nicht, was er aus diesen Worten des Fremden machen sollte,
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konnte ihn auch weiter darum nicht befragen; denn sie waren soeben, statt
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zu dem Tore, unvermerkt dem Zuge der Spaziergänger folgend, an einen
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weiten grünen Platz gekommen, auf dem sich ein fröhlichschallendes Reich
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von Musik, bunten Zelten, Reitern und Spazierengehenden in den letzten
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Abendgluten schimmernd hin und her bewegte.
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«Hier ist gut wohnen», sagte der Fremde lustig, sich vom Zelter
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schwingend; «auf baldiges Wiedersehen!» und hiermit war er schnell in
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dem Gewühle verschwunden.
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Florio stand in freudigem Erstaunen einen Augenblick still vor der
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unerwarteten Aussicht. Dann folgte auch er dem Beispiele seines
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Begleiters, übergab das Pferd seinem Diener und mischte sich in den
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munteren Schwarm.
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Versteckte Musikchöre erschauten da von allen Seiten aus den blühenden
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Gebüschen, unter den hohen Bäumen wandelten sittige Frauen auf und
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nieder und ließen die schönen Augen musternd ergehen über die
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glänzende Wiese, lachend und plaudernd und mit den bunten Federn
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nickend im lauen Abendgolde wie ein Blumenbeet, das sich im Winde
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wiegt. Weiterhin auf einem heitergrünen Plane vergnügten sich mehrere
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Mädchen mit Ballspielen. Die buntgefiederten Bälle flatterten wie
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Schmetterlinge, glänzende Bogen hin und her beschreibend, durch die
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blaue Luft, während die unten im Grünen auf und nieder schwebenden
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Mädchenbilder den lieblichsten Anblick gewährten. Besonders zog die eine
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durch ihre zierliche, fast noch kindliche Gestalt und die Anmut aller ihrer
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Bewegungen Florios Augen auf sich. Sie hatte einen vollen, bunten
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Blumenkranz in den Haaren und war recht wie ein fröhliches Bild des
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Frühlings anzuschauen, wie sie so überaus frisch bald über den Rasen
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dahinflog, bald sich neigte, bald wieder mit ihren anmutigen Gliedern in die
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heitere Luft hinauflangte. Durch ein Versehen ihrer Gegnerin nahm ihr
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Federball eine falsche Richtung und flatterte gerade vor Florio nieder. Er
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hob ihn auf und überreichte ihn der nacheilenden Bekränzten. Sie stand
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fast wie erschrocken vor ihm und sah ihn schweigend aus den schönen,
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großen Augen an. Dann verneigte sie sich errötend und eilte schnell wieder
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zu ihren Gespielinnen zurück.
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Der größere, funkelnde Strom von Wagen und Reitern, der sich in der
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Hauptallee langsam und prächtig fortbewegte, wendete indes auch Florio
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von jenem reizenden Spiele wieder ab, und er schweifte wohl eine Stunde
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lang allein zwischen den ewig wechselnden Bildern umher.
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«Da ist der Sänger Fortunato!» hörte er da auf einmal mehrere Frauen und
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Ritter neben sich ausrufen. Er sah sich schnell nach dem Platze um, wohin
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sie wiesen, und erblickte zu seinem großen Erstaunen den anmutigen
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Fremden, der ihn vorhin hierher begleitet. Abseits auf der Wiese an einen
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Baum gelehnt, stand er soeben inmitten eines zierlichen Kranzes von
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Frauen und Rittern, welche seinem Gesange zuhörten, der zuweilen von
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einigen Stimmen aus dem Kreise holdselig erwidert wurde. Unter ihnen
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bemerkte Florio auch die schöne Ballspielerin wieder, die in stiller
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Freudigkeit mit weiten, offenen Augen in die Klänge vor sich hinaussah.
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Ordentlich erschrocken gedachte da Florio, wie er vorhin mit dem
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berühmten Sänger, den er lange dem Rufe nach verehrte, so vertraulich
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geplaudert, und blieb scheu in einiger Entfernung stehen, um den
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lieblichen Wettstreit mitzuvernehmen. Er hätte die ganze Nacht hindurch
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dort gestanden, so ermutigend flogen diese Töne ihn an, und er ärgerte
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sich recht, als Fortunato nun so bald endigte und die ganze Gesellschaft
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sich von dem Rasen erhob.
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Da gewahrte der Sänger den Jüngling in der Ferne und kam sogleich auf
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ihn zu. Freundlich faßte er ihn bei beiden Händen und führte den Blöden,
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ungeachtet aller Gegenreden, wie einen lieblichen Gefangenen nach dem
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nahegelegenen offenen Zelte, wo sich die Gesellschaft nun versammelte
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und ein fröhliches Nachtmahl bereitet hatte. Alle begrüßten ihn wie alte
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Bekannte, manche schöne Augen ruhten in freudigem Erstaunen auf der
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jungen, blühenden Gestalt.
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Nach mancherlei lustigem Gespräche lagerten sich bald alle um den
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runden Tisch, der in der Mitte des Zeltes stand. Erquickliche Früchte und
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Wein in hellgeschliffenen Gläsern funkelten von dem blendendweißen
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Gedecke, in silbernen Gefäßen dufteten große Blumensträuße, zwischen
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denen die hübschen Mädchengesichter anmutig hervorsahen; draußen
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spielten die letzten Abendlichter golden auf dem Rasen und dem Flusse,
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der spiegelglatt vor dem Zelte dahinglitt. Florio hatte sich fast unwillkürlich
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zu der niedlichen Ballspielerin gesellt. Sie erkannte ihn sogleich wieder und
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saß still und schüchtern da, aber die langen, furchtsamen Augenwimpern
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hüteten nur schlecht die dunkelglühenden Blicke.
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Es war ausgemacht worden, daß jeder in die Runde seinem Liebchen mit
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einem kleinen, improvisierten Liedchen zutrinken solle. Der leichte Gesang,
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der nur gaukelnd wie ein Frühlingswind die Oberfläche des Lebens
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berührte, ohne es in sich selbst zu versenken, bewegte fröhlich den Kranz
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heiterer Bilder um die Tafel. Florio war recht innerlichst vergnügt, alle blöde
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Bangigkeit war von seiner Seele genommen, und er sah fast träumerisch
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still vor fröhlichen Gedanken zwischen den Lichtern und Blumen in die
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wunderschöne, langsam in die Abendgluten versinkende Landschaft vor
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sich hinaus. Und als nun auch an ihn die Reihe kam, seinen Trinkspruch zu
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sagen, hob er sein Glas in die Höh und sang:
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Jeder nennet froh die seine,
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Ich nur stehe hier alleine,
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Denn was früge wohl die eine,
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Wen der Fremdling eben meine?
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Und so muß ich, wie im Strome dort die Welle,
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Ungehört verrauschen an des Frühlings Schwelle.
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Seine schöne Nachbarin sah bei diesen Worten beinahe schelmisch an
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ihm herauf und senkte schnell wieder das Köpfchen, da sie seinem Blicke
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begegnete. Aber er hatte so herzlich bewegt gesungen und neigte sich nun
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mit den schönen, bittenden Augen so dringend herüber, daß sie es willig
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geschehen ließ, als er sie schnell auf die roten, heißen Lippen küßte. –
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«Bravo, bravo!» riefen mehrere Herren, ein mutwilliges, aber argloses
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Lachen erschallte um den Tisch. – Florio stürzte hastig und verwirrt sein
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Glas hinunter, die schöne Geküßte schaute hochrot in den Schoß und sah
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so unter dem vollen Blumenkranze unbeschreiblich reizend aus.
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So hatte ein jeder der Glücklichen sein Liebchen in dem Kreise sich heiter
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erkoren. Nur Fortunato allein gehörte allen oder keiner an und erschien fast
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einsam in dieser anmutigen Verwirrung. Er war ausgelassen lustig, und
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mancher hätte ihn wohl übermütig genannt, wie er so wild-wechselnd in
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Witz, Ernst und Scherz sich ganz und gar losließ, hätte er dabei nicht
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wieder mit so frommklaren Augen beinahe wunderbar dreingeschaut. Florio
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hatte sich fest vorgenommen, ihm über Tische einmal so recht seine Liebe
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und Ehrfurcht, die er längst für ihn hegte, zu sagen. Aber es wollte heute
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nicht gelingen, alle leisen Versuche glitten an der spröden Lustigkeit des
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Sängers ab. Er konnte ihn gar nicht begreifen.
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Draußen war indes die Gegend schon stiller geworden und feierlich,
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einzelne Sterne traten zwischen den Wipfeln der dunkelnden Bäume hervor,
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der Fluß rauschte stärker durch die erquickende Kühle. Da war auch zuletzt
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an Fortunato die Reihe zu singen gekommen. Er sprang rasch auf, griff in
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seine Gitarre und sang:
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Was klingt mir so heiter
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Durch Busen und Sinn?
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Zu Wolken und weiter –
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Wo trägt es mich hin?
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Wie auf Bergen hoch bin ich
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So einsam gestellt
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Und grüße herzinnig,
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Was schön auf der Welt.
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Ja, Bacchus, dich seh ich.
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Wie göttlich bist du!
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Dein Glühen versteh ich,
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Die träumende Ruh.
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O rosenbekränztes
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Jünglingsbild,
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Dein Auge, wie glänzt es,
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Die Flammen so mild!
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Ists Liebe, ists Andacht,
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Was so dich beglückt?
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Rings Frühling dich anlacht,
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Du sinnest entzückt.
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Frau Venus, du frohe,
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So klingend und weich,
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In Morgenrots Lohe
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Erblick ich dein Reich
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Auf sonnigen Hügeln
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Wie ein Zauberring. –
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Zart Bübchen mit Flügeln
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Bedienen dich flink,
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Durchsäuseln die Räume
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Und laden, was fein,
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Als goldene Träume
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Zur Königin ein.
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Und Ritter und Frauen
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Im grünen Revier
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Durchschwärmen die Auen
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Wie Blumen zur Zier.
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Und jeglicher hegt sich
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Sein Liebchen im Arm,
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So wirrt und bewegt sich
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Der selige Schwarm.
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Hier änderte er plötzlich Weise und Ton und fuhr fort:
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Die Klänge verrinnen,
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Es bleichet das Grün,
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Die Frauen stehn sinnend,
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Die Ritter schaun kühn.
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Und himmlisches Sehnen
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Geht singend durchs Blau,
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Da schimmert von Tränen
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Rings Garten und Au. –
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Und mitten im Feste
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Erblick ich, wie mild!
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Den stillsten der Gäste.
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Woher, einsam Bild?
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Mit blühendem Mohne,
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Der träumerisch glänzt,
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Und Lilienkrone
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Erscheint er bekränzt.
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Sein Mund schwillt zum Küssen
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So lieblich und bleich,
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Als brächt er ein Grüßen
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Aus himmlischem Reich.
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Eine Fackel wohl trägt er,
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Die wunderbar prangt.
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«Wo ist einer», frägt er,
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«Den heimwärts verlangt?»
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Und manchmal da drehet
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Die Fackel er um –
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Tiefschauend vergehet
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Die Welt und wird stumm.
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Und was hier versunken
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Als Blumen zum Spiel,
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Siehst oben du funkeln
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Als Sterne nun kühl.
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O Jüngling vom Himmel,
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Wie bist du so schön!
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Ich laß das Gewimmel,
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Mit dir will ich gehn!
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Was will ich noch hoffen?
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Hinauf, ach, hinauf!
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Der Himmel ist offen,
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Nimm, Vater, mich auf!
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Fortunato war still und alle die übrigen auch, denn wirklich waren
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draußen nun die Klänge verronnen und die Musik, das Gewimmel und alle
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die gaukelnde Zauberei nach und nach verhallend untergegangen vor dem
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unermeßlichen Sternenhimmel und dem gewaltigen Nachtgesange der
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Ströme und Wälder. Da trat ein hoher, schlanker Ritter in reichem
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Geschmeide, das grünlichgoldene Scheine zwischen die im Winde
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flackernden Lichter warf, in das Zelt herein. Sein Blick aus tiefen
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Augenhöhlen war irre flammend, das Gesicht schön, aber blaß und wüst.
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Alle dachten bei seinem plötzlichen Erscheinen unwillkürlich schaudernd
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an den stillen Gast in Fortunatos Liede. – Er aber begab sich nach einer
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flüchtigen Verbeugung gegen die Gesellschaft zu dem Büfett des Zeltwirtes
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und schlürfte hastig dunkelroten Wein mit den bleichen Lippen in langen
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Zügen hinunter.
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Florio fuhr ordentlich zusammen, als der Seltsame sich darauf vor allen
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andern zu ihm wandte und ihn als einen früheren Bekannten in Lucca
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willkommen hieß. Erstaunt und nachsinnend betrachtete er ihn von oben
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bis unten, denn er wußte sich durchaus nicht zu erinnern, ihn jemals
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gesehn zu haben. Doch war der Ritter ausnehmend beredt und sprach viel
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über mancherlei Begebenheiten aus Florios früheren Tagen. Auch war er so
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genau bekannt mit der Gegend seiner Heimat, dem Garten und jedem
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heimischen Platz, der Florio herzlich lieb war aus alter Zeit, daß sich
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derselbe bald mit der dunkeln Gestalt auszusöhnen anfing.
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In die übrige Gesellschaft indes schien Donati, so nannte sich der Ritter,
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nirgends hineinzupassen. Eine ängstliche Störung, deren Grund sich
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niemand anzugeben wußte, wurde überall sichtbar. Und da unterdes auch
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die Nacht nun völlig hereingekommen war, so brachen bald alle auf.
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Es begann nun ein wunderliches Gewimmel von Wagen, Pferden, Dienern
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und hohen Windlichtern, die seltsame Scheine auf das nahe Wasser,
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zwischen die Bäume und die schönen, wirrenden Gestalten umherwarfen.
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Donati erschien in der wilden Beleuchtung noch viel bleicher und
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schauerlicher als vorher. Das schöne Fräulein mit dem Blumenkranze hatte
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ihn beständig mit heimlicher Furcht von der Seite angesehen. Nun, da er
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gar auf sie zukam, um ihr mit ritterlicher Artigkeit auf den Zelter zu helfen,
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drängte sie sich scheu an den zurückstehenden Florio, der die Liebliche mit
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klopfendem Herzen in den Sattel hob. Alles war unterdes reisefertig, sie
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nickte ihm noch einmal von ihrem zierlichen Sitze freundlich zu, und bald
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war die ganze schimmernde Erscheinung in der Nacht verschwunden.
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Es war Florio recht sonderbar zumute, als er sich plötzlich so allein mit
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Donati und dem Sänger auf dem weiten, leeren Platze befand. Seine Gitarre
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im Arme, ging der letztere am Ufer des Flusses vor dem Zelte auf und
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nieder und schien auf neue Weisen zu sinnen, während er einzelne Töne
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griff, die beschwichtigend über die stille Wiese dahinzogen. Dann brach er
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plötzlich ab. Ein seltsamer Mißmut schien über seine sonst immer klaren
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Züge zu fliegen, er verlangte ungeduldig fort.
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Alle drei bestiegen daher nun auch ihre Pferde und zogen miteinander der
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nahen Stadt zu. Fortunato sprach kein Wort unterwegs, desto freundlicher
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ergoß sich Donati in wohlgesetzten, zierlichen Reden; Florio, noch im
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Nachklange der Lust, ritt still wie ein träumendes Mädchen zwischen
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beiden.
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Als sie ans Tor kamen, stellte sich Donatis Roß, das schon vorher vor
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manchem Vorübergehenden gescheuet, plötzlich fast gerade in die Höh
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und wollte nicht hinein. Ein funkelnder Zornesblitz fuhr fast verzerrend über
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das Gesicht des Ritters und ein wilder, nur halb ausgesprochener Fluch
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aus den zuckenden Lippen, worüber Florio nicht wenig erstaunte, da ihm
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solches Wesen zu der sonstigen feinen und besonnenen Anständigkeit des
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Ritters ganz und gar nicht zu passen schien. Doch faßte sich dieser bald
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wieder. «Ich wollte Euch bis in die Herberge begleiten», sagte er lächelnd
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und mit der gewohnten Zierlichkeit zu Florio gewendet, «aber mein Pferd
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will es anders, wie Ihr seht. Ich bewohne hier vor der Stadt ein Landhaus,
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wo ich Euch recht bald bei mir zu sehen hoffe.» – Und hiermit verneigte er
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sich, und das Pferd, in unbegreiflicher Hast und Angst kaum mehr zu
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halten, flog pfeilschnell mit ihm in die Dunkelheit fort, daß der Wind hinter
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ihm dreinpfiff.
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«Gott sei Dank», rief Fortunato aus, «daß ihn die Nacht wieder
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verschlungen hat! Kam er mir doch wahrhaftig vor wie einer von den
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falben, ungestalten Nachtschmetterlingen, die, wie aus einem
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phantastischen Traume entflogen, durch die Dämmerung schwirren und mit
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ihrem langen Katzenbarte und gräßlich großen Augen ordentlich ein
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Gesicht haben wollen.» Florio, der sich mit Donati schon ziemlich
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befreundet hatte, äußerte seine Verwunderung über dieses harte Urteil.
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Aber der Sänger, durch solche erstaunliche Sanftmut nur immer mehr
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gereizt, schimpfte lustig fort und nannte den Ritter, zu Florios heimlichem
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Ärger, einen Mondscheinjäger, einen Schmachthahn, einen Renommisten in
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der Melancholie.
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Unter solchen Gesprächen waren sie endlich bei der Herberge angelangt,
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und jeder begab sich bald in das ihm angewiesene Gemach.
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Florio warf sich angekleidet auf das Ruhebett hin, aber er konnte lange
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nicht einschlafen. In seiner von den Bildern des Tages aufgeregten Seele
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wogte und hallte und sang es noch immer fort. Und wie die Türen im Hause
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nun immer seltener auf- und zugingen, nur manchmal noch eine Stimme
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erschallte, bis endlich Haus, Stadt und Feld in tiefe Stille versank: da war es
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ihm, als führe er mit schwanenweißen Segeln einsam auf einem
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mondbeglänzten Meer. Leise schlugen die Wellen an das Schiff, Sirenen
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tauchten aus dem Wasser, die alle aussahen wie das schöne Mädchen mit
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dem Blumenkranze vom vorigen Abend. Sie sang so wunderbar, traurig und
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ohne Ende, als müsse er vor Wehmut untergehn. Das Schiff neigte sich
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unmerklich und sank langsam immer tiefer und tiefer. – Da wachte er
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erschrocken auf.
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Er sprang von seinem Bette und öffnete das Fenster. Das Haus lag am
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Ausgange der Stadt, er übersah einen weiten, stillen Kreis von Hügeln,
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Gärten und Tälern, vom Monde klar beschienen. Auch da draußen war es
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überall in den Bäumen und Strömen noch wie ein Verhallen und Nachhallen
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der vergangenen Lust, als sänge die ganze Gegend leise, gleich den
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Sirenen, die er im Schlummer gehört. Da konnte er der Versuchung nicht
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widerstehen. Er ergriff die Gitarre, die Fortunato bei ihm zurückgelassen,
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verließ das Zimmer und ging leise durch das ruhige Haus hinab. Die Tür
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unten war nur angelehnt, ein Diener lag eingeschlafen auf der Schwelle. So
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kam er unbemerkt ins Freie und wandelte fröhlich zwischen Weingärten
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durch leere Alleen an schlummernden Hütten vorüber immer weiter fort.
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Zwischen den Rebengeländen hinaus sah er den Fluß im Tale; viele
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weißglänzende Schlösser, hin und wieder zerstreut, ruhten wie
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eingeschlafene Schwäne unten in dem Meer von Stille. Da sang er mit
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fröhlicher Stimme:
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Wie kühl schweift sichs bei nächtger
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Stunde,
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Die Zither treulich in der Hand!
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Vom Hügel grüß ich in die Runde
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Den Himmel und das stille Land.
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Wie ist das alles so verwandelt,
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Wo ich so fröhlich war, im Tal.
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Im Wald wie still, der Mond nur wandelt
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Nun durch den hohen Buchensaal.
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Der Winzer Jauchzen ist verklungen
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Und all der bunte Lebenslauf,
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Die Ströme nur, im Tal geschlungen,
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Sie blicken manchmal silbern auf.
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Und Nachtigallen wie aus Träumen
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Erwachen oft mit süßem Schall,
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Erinnernd rührt sich in den Bäumen
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Ein heimlich Flüstern überall.
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Die Freude kann nicht gleich verklingen,
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Und von des Tages Glanz und Lust
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Ist so auch mir ein heimlich Singen
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Geblieben in der tiefsten Brust.
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Und fröhlich greif ich in die Saiten,
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O Mädchen, jenseits überm Fluß,
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Du lauschest wohl und hörsts von weiten
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Und kennst den Sänger an dem Gruß!
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Er mußte über sich selber lachen, da er am Ende nicht wußte, wem er das
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Ständchen brachte. Denn die reizende Kleine mit dem Blumenkranze war es
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lange nicht mehr, die er eigentlich meinte. Die Musik bei den Zelten, der
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Traum auf seinem Zimmer und sein die Klänge und den Traum und die
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zierliche Erscheinung des Mädchens nachträumendes Herz hatten ihr Bild
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unmerklich und wundersam verwandelt in ein viel schöneres, größeres und
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herrlicheres, wie er es noch nirgends gesehen.
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So in Gedanken schritt er noch lange fort, als er unerwartet bei einem
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großen, von hohen Bäumen rings umgebenen Weiher anlangte. Der Mond,
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der eben über die Wipfel trat, beleuchtete scharf ein marmornes Venusbild,
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das dort dicht am Ufer auf einem Steine stand, als wäre die Göttin soeben
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erst aus den Wellen aufgetaucht und betrachte nun, selber verzaubert, das
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Bild der eigenen Schönheit, das der trunkene Wasserspiegel zwischen den
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leise aus dem Grunde aufblühenden Sternen widerstrahlte. Einige Schwäne
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beschrieben still ihre einförmigen Kreise um das Bild, ein leises Rauschen
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ging durch die Bäume ringsumher.
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Florio stand wie eingewurzelt im Schauen, denn ihm kam jenes Bild wie
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eine langgesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor, wie eine
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Wunderblume, aus der Frühlingsdämmerung und träumerischen Stille
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seiner frühesten Jugend heraufgewachsen. Je länger er hinsah, je mehr
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schien es ihm, als schlüge es die seelenvollen Augen langsam auf, als
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wollten sich die Lippen bewegen zum Gruße, als blühe Leben wie ein
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lieblicher Gesang erwärmend durch die schönen Glieder herauf. Er hielt die
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Augen lange geschlossen vor Blendung, Wehmut und Entzücken.
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Als er wieder aufblickte, schien auf einmal alles wie verwandelt. Der Mond
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sah seltsam zwischen Wolken hervor, ein stärkerer Wind kräuselte den
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Weiher in trübe Wellen, das Venusbild, so fürchterlich weiß und
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regungslos, sah ihn fast schreckhaft mit den steinernen Augenhöhlen aus
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der grenzenlosen Stille an. Ein nie gefühltes Grausen überfiel da den
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Jüngling. Er verließ schnell den Ort, und immer schneller und ohne
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auszuruhen eilte er durch die Gärten und Weinberge wieder fort, der
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ruhigen Stadt zu; denn auch das Rauschen der Bäume kam ihm nun wie ein
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verständliches, vernehmliches Geflüster vor, und die langen,
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gespenstischen Pappeln schienen mit ihren weitgestreckten Schatten
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hinter ihm dreinzulangen.
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So kam er sichtbar verstört in der Herberge an. Da lag der Schlafende
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noch auf der Schwelle und fuhr erschrocken auf, als Florio an ihm
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vorüberstreifte. Florio aber schlug schnell die Tür hinter sich zu und atmete
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erst tief auf, als er oben sein Zimmer betrat. Hier ging er noch lange auf und
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nieder, ehe er sich beruhigte. Dann warf er sich aufs Bett und schlummerte
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endlich unter den seltsamsten Träumen ein.

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