Drittes Kapitel
2
Im leeren Sitzungssaal – Der Student – Die Kanzleien
3
4
K. wartete während der nächsten Woche von Tag zu Tag auf eine
5
neuerliche Verständigung, er konnte nicht glauben, daß man seinen
6
Verzicht auf Verhöre wörtlich genommen hatte, und als die erwartete
7
Verständigung bis Samstagabend wirklich nicht kam, nahm er an, er sei
8
stillschweigend in das gleiche Haus für die gleiche Zeit wieder vorgeladen.
9
Er begab sich daher Sonntags wieder hin, ging diesmal geradewegs über
10
Treppen und Gänge; einige Leute, die sich seiner erinnerten, grüßten ihn an
11
ihren Türen, aber er mußte niemanden mehr fragen und kam bald zu der
12
richtigen Tür. Auf sein Klopfen wurde ihm gleich aufgemacht, und ohne
13
sich weiter nach der bekannten Frau umzusehen, die bei der Tür
14
stehenblieb, wollte er gleich ins Nebenzimmer. »Heute ist keine Sitzung«,
15
sagte die Frau. »Warum sollte keine Sitzung sein?« fragte er und wollte es
16
nicht glauben. Aber die Frau überzeugte ihn, indem sie die Tür des
17
Nebenzimmers öffnete. Es war wirklich leer und sah in seiner Leere noch
18
kläglicher aus als am letzten Sonntag. Auf dem Tisch, der unverändert auf
19
dem Podium stand, lagen einige Bücher. »Kann ich mir die Bücher
20
anschauen?« fragte K., nicht aus besonderer Neugierde, sondern nur, um
21
nicht vollständig nutzlos hier gewesen zu sein. »Nein«, sagte die Frau und
22
schloß wieder die Tür, »das ist nicht erlaubt. Die Bücher gehören dem
23
Untersuchungsrichter.« »Ach so«, sagte K. und nickte, »die Bücher sind
24
wohl Gesetzbücher und es gehört zu der Art dieses Gerichtswesens, daß
25
man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend verurteilt wird.« »Es
26
wird so sein«, sagte die Frau, die ihn nicht genau verstanden hatte. »Nun,
27
dann gehe ich wieder«, sagte K. »Soll ich dem Untersuchungsrichter etwas
28
melden?« fragte die Frau. »Sie kennen ihn?« fragte K. »Natürlich«, sagte
29
die Frau, »mein Mann ist ja Gerichtsdiener.« Erst jetzt merkte K., daß das
30
Zimmer, in dem letzthin nur ein Waschbottich gestanden war, jetzt ein völlig
31
eingerichtetes Wohnzimmer bildete. Die Frau bemerkte sein Staunen und
32
sagte: »Ja, wir haben hier freie Wohnung, müssen aber an Sitzungstagen
33
das Zimmer ausräumen. Die Stellung meines Mannes hat manche
34
Nachteile.« »Ich staune nicht so sehr über das Zimmer«, sagte K. und
35
blickte sie böse an, »als vielmehr darüber, daß Sie verheiratet sind.«
36
»Spielen Sie vielleicht auf den Vorfall in der letzten Sitzung an, durch den
37
ich Ihre Rede störte?« fragte die Frau. »Natürlich«, sagte K., »heute ist es ja
38
schon vorüber und fast vergessen, aber damals hat es mich geradezu
39
wütend gemacht. Und nun sagen Sie selbst, daß Sie eine verheiratete Frau
40
sind.« »Es war nicht zu Ihrem Nachteil, daß Ihre Rede abgebrochen wurde.
41
Man hat nachher noch sehr ungünstig über sie geurteilt.« »Mag sein«,
42
sagte K. ablenkend, »aber Sie entschuldigt das nicht.« »Ich bin vor allen
43
entschuldigt, die mich kennen«, sagte die Frau, »der, welcher mich damals
44
umarmt hat, verfolgt mich schon seit langem. Ich mag im allgemeinen nicht
45
verlockend sein, für ihn bin ich es aber. Es gibt hierfür keinen Schutz, auch
46
mein Mann hat sich schon damit abgefunden; will er seine Stellung
47
behalten, muß er es dulden, denn jener Mann ist Student und wird
48
voraussichtlich zu größerer Macht kommen. Er ist immerfort hinter mir her,
49
gerade ehe Sie kamen, ist er fortgegangen.« »Es paßt zu allem anderen«,
50
sagte K., »es überrascht mich nicht.« »Sie wollen hier wohl einiges
51
verbessern?« fragte die Frau langsam und prüfend, als sage sie etwas, was
52
sowohl für sie als für K. gefährlich war. »Ich habe das schon aus Ihrer Rede
53
geschlossen, die mir persönlich sehr gut gefallen hat. Ich habe allerdings
54
nur einen Teil gehört, den Anfang habe ich versäumt und während des
55
Schlusses lag ich mit dem Studenten auf dem Boden. – Es ist ja so
56
widerlich hier«, sagte sie nach einer Pause und faßte K.s Hand. »Glauben
57
Sie, daß es ihnen gelingen wird, eine Besserung zu erreichen?« K. lächelte
58
und drehte seine Hand ein wenig in ihren weichen Händen. »Eigentlich«,
59
sagte er, »bin ich nicht dazu angestellt, Besserungen hier zu erreichen, wie
60
Sie sich ausdrücken, und wenn Sie es zum Beispiel dem
61
Untersuchungsrichter sagten, würden Sie ausgelacht oder bestraft werden.
62
Tatsächlich hätte ich mich auch aus freiem Willen in diese Dinge gewiß
63
nicht eingemischt, und meinen Schlaf hätte die Verbesserungsbedürftigkeit
64
dieses Gerichtswesens niemals gestört. Aber ich bin dadurch, daß ich
65
angeblich verhaftet wurde – ich bin nämlich verhaftet -, gezwungen worden,
66
hier einzugreifen, und zwar um meinetwillen. Wenn ich aber dabei auch
67
Ihnen irgendwie nützlich sein kann, werde ich es natürlich sehr gerne tun.
68
Nicht etwa nur aus Nächstenliebe, sondern außerdem deshalb, weil auch
69
Sie mir helfen können.« »Wie könnte ich denn das?« fragte die Frau.
70
»Indem Sie mir zum Beispiel die Bücher dort auf dem Tisch zeigen.« »Aber
71
gewiß«, rief die Frau und zog ihn eiligst hinter sich her. Es waren alte,
72
abgegriffene Bücher, ein Einbanddeckel war in der Mitte fast zerbrochen,
73
die Stücke hingen nur durch Fasern zusammen. »Wie schmutzig hier alles
74
ist«, sagte K. kopfschüttelnd, und die Frau wischte mit ihrer Schürze, ehe
75
K. nach den Büchern greifen konnte, wenigstens oberflächlich den Staub
76
weg. K. schlug das oberste Buch auf, es erschien ein unanständiges Bild.
77
Ein Mann und eine Frau saßen nackt auf einem Kanapee, die gemeine
78
Absicht des Zeichners war deutlich zu erkennen, aber seine
79
Ungeschicklichkeit war so groß gewesen, daß schließlich doch nur ein
80
Mann und eine Frau zu sehen waren, die allzu körperlich aus dem Bilde
81
hervorragten, übermäßig aufrecht dasaßen und sich infolge falscher
82
Perspektive nur mühsam einander zuwendeten. K. blätterte nicht weiter,
83
sondern schlug nur noch das Titelblatt des zweiten Buches auf, es war ein
84
Roman mit dem Titel: »Die Plagen, welche Grete von ihrem Manne Hans zu
85
erleiden hatte.« »Das sind die Gesetzbücher, die hier studiert werden«,
86
sagte K., »von solchen Menschen soll ich gerichtet werden.« »Ich werde
87
Ihnen helfen«, sagte die Frau. »Wollen Sie?« »Könnten Sie denn das
88
wirklich, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Sie sagten doch vorhin, Ihr
89
Mann sei sehr abhängig von Vorgesetzten.« »Trotzdem will ich Ihnen
90
helfen«, sagte die Frau, »kommen Sie, wir müssen es besprechen. Über
91
meine Gefahr reden Sie nicht mehr, ich fürchte die Gefahr nur dort, wo ich
92
sie fürchten will. Kommen Sie.« Sie zeigte auf das Podium und bat ihn, sich
93
mit ihr auf die Stufe zu setzen. »Sie haben schöne dunkle Augen«, sagte
94
sie, nachdem sie sich gesetzt hatten, und sah K. von unten ins Gesicht,
95
»man sagt mir, ich hätte auch schöne Augen, aber Ihre sind viel schöner.
96
Sie fielen mir übrigens gleich damals auf, als Sie zum erstenmal hier
97
eintraten. Sie waren auch der Grund, warum ich dann später hierher ins
98
Versammlungszimmer ging, was ich sonst niemals tue und was mir sogar
99
gewissermaßen verboten ist.« Das ist also alles, dachte K., sie bietet sich
100
mir an, sie ist verdorben wie alle hier rings herum, sie hat die
101
Gerichtsbeamten satt, was ja begreiflich ist, und begrüßt deshalb jeden
102
beliebigen Fremden mit einem Kompliment wegen seiner Augen. Und K.
103
stand stillschweigend auf, als hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen
104
und dadurch der Frau sein Verhalten erklärt. »Ich glaube nicht, daß Sie mir
105
helfen können«, sagte er, »um mir wirklich zu helfen, müßte man
106
Beziehungen zu hohen Beamten haben. Sie aber kennen gewiß nur die
107
niedrigen Angestellten, die sich hier in Mengen herumtreiben. Diese kennen
108
Sie gewiß sehr gut und könnten bei ihnen auch manches durchsetzen, das
109
bezweifle ich nicht, aber das Größte, was man bei ihnen durchsetzen
110
könnte, wäre für den endgültigen Ausgang des Prozesses gänzlich
111
belanglos. Sie aber hätten sich dadurch doch einige Freunde verscherzt.
112
Das will ich nicht. Führen Sie Ihr bisheriges Verhältnis zu diesen Leuten
113
weiter, es scheint mir nämlich, daß es Ihnen unentbehrlich ist. Ich sage das
114
nicht ohne Bedauern, denn, um Ihr Kompliment doch auch irgendwie zu
115
erwidern, auch Sie gefallen mir gut, besonders wenn Sie mich wie jetzt so
116
traurig ansehen, wozu übrigens für Sie gar kein Grund ist. Sie gehören zu
117
der Gesellschaft, die ich bekämpfen muß, befinden sich aber in ihr sehr
118
wohl, Sie lieben sogar den Studenten, und wenn Sie ihn nicht lieben, so
119
ziehen Sie ihn doch wenigstens Ihrem Manne vor. Das konnte man aus
120
Ihren Worten leicht erkennen.« »Nein!« rief sie, blieb sitzen und griff nach
121
K.s Hand, die er ihr nicht rasch genug entzog. »Sie dürfen jetzt nicht
122
weggehen, Sie dürfen nicht mit einem falschen Urteil über mich weggehen!
123
Brächten Sie es wirklich zustande, jetzt wegzugehen? Bin ich wirklich so
124
wertlos, daß Sie mir nicht einmal den Gefallen tun wollen, noch ein kleines
125
Weilchen hierzubleiben?« »Sie mißverstehen mich«, sagte K. und setzte
126
sich, »wenn Ihnen wirklich daran liegt, daß ich hier bleibe, bleibe ich gern,
127
ich habe ja Zeit, ich kam doch in der Erwartung her, daß heute eine
128
Verhandlung sein werde. Mit dem, was ich früher sagte, wollte ich Sie nur
129
bitten, in meinem Prozeß nichts für mich zu unternehmen. Aber auch das
130
muß Sie nicht kränken, wenn Sie bedenken, daß mir am Ausgang des
131
Prozesses gar nichts liegt und daß ich über eine Verurteilung nur lachen
132
werde. Vorausgesetzt, daß es überhaupt zu einem wirklichen Abschluß des
133
Prozesses kommt, was ich sehr bezweifle. Ich glaube vielmehr, daß das
134
Verfahren infolge Faulheit oder Vergeßlichkeit oder vielleicht sogar infolge
135
Angst der Beamtenschaft schon abgebrochen ist oder in der nächsten Zeit
136
abgebrochen werden wird. Möglich ist allerdings auch, daß man in
137
Hoffnung auf irgendeine größere Bestechung den Prozeß scheinbar
138
weiterführen wird, ganz vergeblich, wie ich heute schon sagen kann, denn
139
ich besteche niemanden. Es wäre immerhin eine Gefälligkeit, die Sie mir
140
leisten könnten, wenn Sie dem Untersuchungsrichter oder irgend
141
jemandem sonst, der wichtige Nachrichten gern verbreitet, mitteilten, daß
142
ich niemals und durch keine Kunststücke, an denen die Herren wohl reich
143
sind, zu einer Bestechung zu bewegen sein werde. Es wäre ganz
144
aussichtslos, das können Sie ihnen offen sagen. Übrigens wird man es
145
vielleicht selbst schon bemerkt haben, und selbst wenn dies nicht sein
146
sollte, liegt mir gar nicht so viel daran, daß man es jetzt schon erfährt. Es
147
würde ja dadurch den Herren nur Arbeit erspart werden, allerdings auch mir
148
einige Unannehmlichkeiten, die ich aber gern auf mich nehme, wenn ich
149
weiß, daß jede gleichzeitig ein Hieb für die anderen ist. Und daß es so wird,
150
dafür will ich sorgen. Kennen Sie eigentlich den Untersuchungsrichter?«
151
»Natürlich«, sagte die Frau, »an den dachte ich sogar zuerst, als ich Ihnen
152
Hilfe anbot. Ich wußte nicht, daß er nur ein niedriger Beamter ist, aber da
153
Sie es sagen, wird es wahrscheinlich richtig sein. Trotzdem glaube ich, daß,
154
der Bericht, den er nach oben liefert, immerhin einigen Einfluß hat. Und er
155
schreibt soviel Berichte. Sie sagen, daß die Beamten faul sind, alle gewiß
156
nicht, besonders dieser Untersuchungsrichter nicht, er schreibt sehr viel.
157
Letzten Sonntag zum Beispiel dauerte die Sitzung bis gegen Abend. Alle
158
Leute gingen weg, der Untersuchungsrichter aber blieb im Saal, ich mußte
159
ihm eine Lampe bringen, ich hatte nur eine kleine Küchenlampe, aber er
160
war mit ihr zufrieden und fing gleich zu schreiben an. Inzwischen war auch
161
mein Mann gekommen, der an jenem Sonntag gerade Urlaub hatte, wir
162
holten die Möbel, richteten wieder unser Zimmer ein, es kamen dann noch
163
Nachbarn, wir unterhielten uns noch bei einer Kerze, kurz, wir vergaßen
164
den Untersuchungsrichter und gingen schlafen. Plötzlich in der Nacht, es
165
muß schon tief in der Nacht gewesen sein, wache ich auf, neben dem Bett
166
steht der Untersuchungsrichter und blendet die Lampe mit der Hand ab, so
167
daß auf meinen Mann kein Licht fällt, es war unnötige Vorsicht, mein Mann
168
hat einen solchen Schlaf, daß ihn auch das Licht nicht geweckt hätte. Ich
169
war so erschrocken, daß ich fast geschrien hätte, aber der
170
Untersuchungsrichter war sehr freundlich, ermahnte mich zur Vorsicht,
171
flüsterte mir zu, daß er bis jetzt geschrieben habe, daß er mir jetzt die
172
Lampe zurückbringe und daß er niemals den Anblick vergessen werde, wie
173
er mich schlafend gefunden habe. Mit dem allem wollte ich Ihnen nur
174
sagen, daß der Untersuchungsrichter tatsächlich viele Berichte schreibt,
175
insbesondere über Sie, denn Ihre Einvernahme war gewiß einer der
176
Hauptgegenstände der sonntäglichen Sitzung. Solche langen Berichte
177
können aber doch nicht ganz bedeutungslos sein. Außerdem aber können
178
Sie doch auch aus dem Vorfall sehen, daß sich der Untersuchungsrichter
179
um mich bewirbt und daß ich gerade jetzt in der ersten Zeit, er muß mich
180
überhaupt erst jetzt bemerkt haben, großen Einfluß auf ihn haben kann.
181
Daß ihm viel an mir liegt, dafür habe ich jetzt auch noch andere Beweise. Er
182
hat mir gestern durch den Studenten, zu dem er viel Vertrauen hat und der
183
sein Mitarbeiter ist, seidene Strümpfe zum Geschenk geschickt, angeblich
184
dafür, daß ich das Sitzungszimmer aufräume, aber das ist nur ein Vorwand,
185
denn diese Arbeit ist doch nur meine Pflicht und für sie wird mein Mann
186
bezahlt. Es sind schöne Strümpfe, sehen Sie« – sie streckte die Beine, zog
187
die Röcke bis zum Knie hinauf und sah auch selbst die Strümpfe an -, »es
188
sind schöne Strümpfe, aber doch eigentlich zu fein und für mich nicht
189
geeignet.«
190
Plötzlich unterbrach sie sich, legte ihre Hand auf K.s Hand, als wolle sie
191
ihn beruhigen, und flüsterte: »Still, Berthold sieht uns zu.« K. hob langsam
192
den Blick. In der Tür des Sitzungszimmers stand ein junger Mann, er war
193
klein, hatte nicht ganz gerade Beine und suchte sich durch einen kurzen,
194
schütteren, rötlichen Vollbart, in dem er die Finger fortwährend
195
herumführte, Würde zu geben. K. sah ihn neugierig an, es war ja der erste
196
Student der unbekannten Rechtswissenschaft, dem er gewissermaßen
197
menschlich begegnete, ein Mann, der wahrscheinlich auch einmal zu
198
höheren Beamtenstellen gelangen würde. Der Student dagegen kümmerte
199
sich um K. scheinbar gar nicht, er winkte nur mit einem Finger, den er für
200
einen Augenblick aus seinem Barte zog, der Frau und ging zum Fenster, die
201
Frau beugte sich zu K. und flüsterte: »Seien Sie mir nicht böse, ich bitte Sie
202
vielmals, denken Sie auch nicht schlecht von mir, ich muß jetzt zu ihm
203
gehen, zu diesem scheußlichen Menschen, sehen Sie nur seine krummen
204
Beine an. Aber ich komme gleich zurück, und dann gehe ich mit Ihnen,
205
wenn Sie mich mitnehmen, ich gehe, wohin Sie wollen, Sie können mit mir
206
tun, was Sie wollen, ich werde glücklich sein, wenn ich von hier für
207
möglichst lange Zeit fort bin, am liebsten allerdings für immer.« Sie
208
streichelte noch K.s Hand, sprang auf und lief zum Fenster. Unwillkürlich
209
haschte noch K. nach ihrer Hand ins Leere. Die Frau verlockte ihn wirklich,
210
er fand trotz allem Nachdenken keinen haltbaren Grund dafür, warum er der
211
Verlockung nicht nachgeben sollte. Den flüchtigen Einwand, daß ihn die
212
Frau für das Gericht einfange, wehrte er ohne Mühe ab. Auf welche Weise
213
konnte sie ihn einfangen? Blieb er nicht immer so frei, daß er das ganze
214
Gericht, wenigstens soweit es ihn betraf, sofort zerschlagen konnte?
215
Konnte er nicht dieses geringe Vertrauen zu sich haben? Und ihr
216
Anerbieten einer Hilfe klang aufrichtig und war vielleicht nicht wertlos. Und
217
es gab vielleicht keine bessere Rache an dem Untersuchungsrichter und
218
seinem Anhang, als daß er ihnen diese Frau entzog und an sich nahm. Es
219
könnte sich dann einmal der Fall ereignen, daß der Untersuchungsrichter
220
nach mühevoller Arbeit an Lügenberichten über K. in später Nacht das Bett
221
der Frau leer fand. Und leer deshalb, weil sie K. gehörte, weil diese Frau am
222
Fenster, dieser üppige, gelenkige, warme Körper im dunklen Kleid aus
223
grobem, schwerem Stoff, durchaus nur K. gehörte.
224
Nachdem er auf diese Weise die Bedenken gegen die Frau beseitigt hatte,
225
wurde ihm das leise Zwiegespräch am Fenster zu lang, er klopfte mit den
226
Knöcheln auf das Podium und dann auch mit der Faust. Der Student sah
227
kurz über die Schulter der Frau hinweg nach K. hin, ließ sich aber nicht
228
stören, ja drückte sich sogar eng an die Frau und umfaßte sie. Sie senkte
229
tief den Kopf, als höre sie ihm aufmerksam zu, er küßte sie, als sie sich
230
bückte, laut auf den Hals, ohne sich im Reden wesentlich zu unterbrechen.
231
K. sah darin die Tyrannei bestätigt, die der Student nach den Klagen der
232
Frau über sie ausübte, stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Er
233
überlegte unter Seitenblicken nach dem Studenten, wie er ihn möglichst
234
schnell wegschaffen könnte, und es war ihm daher nicht unwillkommen, als
235
der Student, offenbar gestört durch K.s Herumgehen, das schon zeitweilig
236
zu einem Trampeln ausgeartet war, bemerkte: »Wenn Sie ungeduldig sind,
237
können Sie weggehen. Sie hätten auch schon früher weggehen können, es
238
hätte Sie niemand vermißt. Ja, Sie hätten sogar weggehen sollen, und zwar
239
schon bei meinem Eintritt, und zwar schleunigst.« Es mochte in dieser
240
Bemerkung alle mögliche Wut zum Ausbruch kommen, jedenfalls lag darin
241
aber auch der Hochmut des künftigen Gerichtsbeamten, der zu einem
242
mißliebigen Angeklagten sprach. K. blieb ganz nahe bei ihm stehen und
243
sagte lächelnd: »Ich bin ungeduldig, das ist richtig, aber diese Ungeduld
244
wird am leichtesten dadurch zu beseitigen sein, daß Sie uns verlassen.
245
Wenn Sie aber vielleicht hergekommen sind, um zu studieren – ich hörte,
246
daß Sie Student sind -, so will ich Ihnen gerne Platz machen und mit der
247
Frau weggehen. Sie werden übrigens noch viel studieren müssen, ehe Sie
248
Richter werden. Ich kenne zwar Ihr Gerichtswesen noch nicht sehr genau,
249
nehme aber an, daß es mit groben Reden allein, die Sie allerdings schon
250
unverschämt gut zu führen wissen, noch lange nicht getan ist.« »Man hätte
251
ihn nicht so frei herumlaufen lassen sollen«, sagte der Student, als wolle er
252
der Frau eine Erklärung für K.s beleidigende Rede geben, »es war ein
253
Mißgriff. Ich habe es dem Untersuchungsrichter gesagt. Man hätte ihn
254
zwischen den Verhören zumindest in seinem Zimmer halten sollen. Der
255
Untersuchungsrichter ist manchmal unbegreiflich.« »Unnütze Reden«,
256
sagte K. und streckte die Hand nach der Frau aus, »kommen Sie.« »Ach
257
so«, sagte der Student, »nein, nein, die bekommen Sie nicht«, und mit einer
258
Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, hob er sie auf einen Arm und lief
259
mit gebeugtem Rücken, zärtlich zu ihr aufsehend, zur Tür. Eine gewisse
260
Angst vor K. war hierbei nicht zu verkennen, trotzdem wagte er es, K. noch
261
zu reizen, indem er mit der freien Hand den Arm der Frau streichelte und
262
drückte. K. lief ein paar Schritte neben ihm her, bereit, ihn zu fassen und,
263
wenn es sein mußte, zu würgen, da sagte die Frau: »Es hilft nichts, der
264
Untersuchungsrichter läßt mich holen, ich darf nicht mit Ihnen gehen,
265
dieses kleine Scheusal«, sie fuhr hierbei dem Studenten mit der Hand übers
266
Gesicht, »dieses kleine Scheusal läßt mich nicht.« »Und Sie wollen nicht
267
befreit werden!« schrie K. und legte die Hand auf die Schulter des
268
Studenten, der mit den Zähnen nach ihr schnappte. »Nein!« rief die Frau
269
und wehrte K. mit beiden Händen ab, »nein, nein, nur das nicht, woran
270
denken Sie denn! Das wäre mein Verderben. Lassen Sie ihn doch, o bitte,
271
lassen Sie ihn doch. Er führt ja nur den Befehl des Untersuchungsrichters
272
aus und trägt mich zu ihm.« »Dann mag er laufen und Sie will ich nie mehr
273
sehen«, sagte K. wütend vor Enttäuschung und gab dem Studenten einen
274
Stoß in den Rücken, daß er kurz stolperte, um gleich darauf, vor Vergnügen
275
darüber, daß er nicht gefallen war, mit seiner Last desto höher zu springen.
276
K. ging ihnen langsam nach, er sah ein, daß das die erste zweifellose
277
Niederlage war, die er von diesen Leuten erfahren hatte. Es war natürlich
278
kein Grund, sich deshalb zu ängstigen, er erhielt die Niederlage nur
279
deshalb, weil er den Kampf aufsuchte. Wenn er zu Hause bliebe und sein
280
gewohntes Leben führte, war er jedem dieser Leute tausendfach überlegen
281
und konnte jeden mit einem Fußtritt von seinem Wege räumen. Und er
282
stellte sich die allerlächerlichste Szene vor, die es zum Beispiel geben
283
würde, wenn dieser klägliche Student, dieses aufgeblasene Kind, dieser
284
krumme Bartträger vor Elsas Bett knien und mit gefalteten Händen um
285
Gnade bitten würde. K. gefiel diese Vorstellung so, daß er beschloß, wenn
286
sich nur irgendeine Gelegenheit dafür ergeben sollte, den Studenten einmal
287
zu Elsa mitzunehmen.
288
Aus Neugierde eilte K. noch zur Tür, er wollte sehen, wohin die Frau
289
getragen wurde, der Student würde sie doch nicht etwa über die Straßen
290
auf dem Arm tragen. Es zeigte sich, daß der Weg viel kürzer war. Gleich
291
gegenüber der Wohnung führte eine schmale hölzerne Treppe
292
wahrscheinlich zum Dachboden, sie machte eine Wendung, so daß man ihr
293
Ende nicht sah. Über diese Treppe trug der Student die Frau hinauf, schon
294
sehr langsam und stöhnend, denn er war durch das bisherige Laufen
295
geschwächt. Die Frau grüßte mit der Hand zu K. hinunter und suchte durch
296
Auf- und Abziehen der Schultern zu zeigen, daß sie an der Entführung
297
unschuldig sei, viel Bedauern lag aber in dieser Bewegung nicht. K. sah sie
298
ausdruckslos wie eine Fremde an, er wollte weder verraten, daß er
299
enttäuscht war, noch auch, daß er die Enttäuschung leicht überwinden
300
könne.
301
Die zwei waren schon verschwunden, K. aber stand noch immer in der
302
Tür. Er mußte annehmen, daß ihn die Frau nicht nur betrogen, sondern mit
303
der Angabe, daß sie zum Untersuchungsrichter getragen werde, auch
304
belogen habe. Der Untersuchungsrichter würde doch nicht auf dem
305
Dachboden sitzen und warten. Die Holztreppe erklärte nichts, so lange man
306
sie auch ansah. Da bemerkte K. einen kleinen Zettel neben dem Aufgang,
307
ging hinüber und las in einer kindlichen, ungeübten Schrift: »Aufgang zu
308
den Gerichtskanzleien.« Hier auf dem Dachboden dieses Miethauses waren
309
also die Gerichtskanzleien? Das war keine Einrichtung, die viel Achtung
310
einzuflößen imstande war und es war für einen Angeklagten beruhigend,
311
sich vorzustellen, wie wenig Geldmittel diesem Gericht zur Verfügung
312
standen, wenn es seine Kanzleien dort unterbrachte, wo die Mietsparteien,
313
die schon selbst zu den Ärmsten gehörten, ihren unnützen Kram hinwerfen.
314
Allerdings war es nicht ausgeschlossen, daß man Geld genug hatte, daß
315
aber die Beamtenschaft sich darüber warf, ehe es für Gerichtszwecke
316
verwendet wurde. Das war nach den bisherigen Erfahrungen K.s sogar sehr
317
wahrscheinlich, nur war dann eine solche Verlotterung des Gerichtes für
318
einen Angeklagten zwar entwürdigend, aber im Grunde noch beruhigender,
319
als es die Armut des Gerichtes gewesen wäre. Nun war es K. auch
320
begreiflich, daß man sich beim ersten Verhör schämte, den Angeklagten
321
auf den Dachboden vorzuladen und es vorzog, ihn in seiner Wohnung zu
322
belästigen. In welcher Stellung befand sich doch K. gegenüber dem Richter,
323
der auf dem Dachboden saß, während er selbst in der Bank ein großes
324
Zimmer mit einem Vorzimmer hatte und durch eine riesige Fensterscheibe
325
auf den belebten Stadtplatz hinuntergehen konnte! Allerdings hatte er keine
326
Nebeneinkünfte aus Bestechungen oder Unterschlagungen und konnte
327
sich auch vom Diener keine Frau auf dem Arm ins Büro tragen lassen.
328
Darauf wollte K. aber, wenigstens in diesem Leben, gerne verzichten.
329
K. stand noch vor dem Anschlagzettel, als ein Mann die Treppe
330
heraufkam, durch die offene Tür ins Wohnzimmer sah, aus dem man auch
331
das Sitzungszimmer sehen konnte, und schließlich K. fragte, ob er hier
332
nicht vor kurzem eine Frau gesehen habe. »Sie sind der Gerichtsdiener,
333
nicht?« fragte K. »Ja«, sagte der Mann, »ach so, Sie sind der Angeklagte K.,
334
jetzt erkenne ich Sie auch, seien Sie willkommen.« Und er reichte K., der es
335
gar nicht erwartet hatte, die Hand. »Heute ist aber keine Sitzung angezeigt«,
336
sagte dann der Gerichtsdiener, als K. schwieg. »Ich weiß«, sagte K. und
337
betrachtete den Zivilrock des Gerichtsdieners, der als einziges amtliches
338
Abzeichen neben einigen gewöhnlichen Knöpfen auch zwei vergoldete
339
Knöpfe aufwies, die von einem alten Offiziersmantel abgetrennt zu sein
340
schienen. »Ich habe vor einem Weilchen mit Ihrer Frau gesprochen. Sie ist
341
nicht mehr hier. Der Student hat sie zum Untersuchungsrichter getragen.«
342
»Sehen Sie«, sagte der Gerichtsdiener, »immer trägt man sie mir weg.
343
Heute ist doch Sonntag, und ich bin zu keiner Arbeit verpflichtet, aber nur,
344
um mich von hier zu entfernen, schickt man mich mit einer jedenfalls
345
unnützen Meldung weg. Und zwar schickt man mich nicht weit weg, so daß
346
ich die Hoffnung habe, wenn ich mich sehr beeile, vielleicht noch
347
rechtzeitig zurückzukommen. Ich laufe also, so sehr ich kann, schreie dem
348
Amt, zu dem ich geschickt wurde, meine Meldung durch den Türspalt so
349
atemlos zu, daß man sie kaum verstanden haben wird, laufe wieder zurück,
350
aber der Student hat sich noch mehr beeilt als ich, er hatte allerdings auch
351
einen kürzeren Weg, er mußte nur die Bodentreppe hinunterlaufen. Wäre
352
ich nicht so abhängig, ich hätte den Studenten schon längst hier an der
353
Wand zerdrückt. Hier neben dem Anschlagzettel. Davon träume ich immer.
354
Hier, ein wenig über dem Fußboden, ist er festgedrückt, die Arme gestreckt,
355
die Finger gespreizt, die krummen Beine zum Kreis gedreht, und
356
ringsherum Blutspritzer. Bisher war es aber nur Traum.« »Eine andere Hilfe
357
gibt es nicht?« fragte K. lächelnd. »Ich wüßte keine«, sagte der
358
Gerichtsdiener. »Und jetzt wird es ja noch ärger, bisher hat er sie nur zu
359
sich getragen, jetzt trägt er sie, was ich allerdings längst erwartet habe,
360
auch zum Untersuchungsrichter.« »Hat denn ihre Frau gar keine Schuld
361
dabei«, fragte K., er mußte sich bei dieser Frage bezwingen, so sehr fühlte
362
auch er jetzt die Eifersucht. »Aber gewiß«, sagte der Gerichtsdiener, »sie
363
hat sogar die größte Schuld. Sie hat sich ja an ihn gehängt. Was ihn betrifft,
364
er läuft allen Weibern nach. In diesem Hause allein ist er schon aus fünf
365
Wohnungen, in die er sich eingeschlichen hat, hinausgeworfen worden.
366
Meine Frau ist allerdings die Schönste im ganzen Haus, und gerade ich darf
367
mich nicht wehren.« »Wenn es sich so verhält, dann gibt es allerdings
368
keine Hilfe«, sagte K. »Warum denn nicht?« fragte der Gerichtsdiener. »Man
369
müßte den Studenten, der ein Feigling ist, einmal, wenn er meine Frau
370
anrühren will, so durchprügeln, daß er es niemals mehr wagt. Aber ich darf
371
es nicht, und andere machen mir den Gefallen nicht, denn alle fürchten
372
seine Macht. Nur ein Mann wie Sie könnte es tun.« »Wieso denn ich?«
373
fragte K. erstaunt. »Sie sind doch angeklagt«, sagte der Gerichtsdiener.
374
»Ja«, sagte K., »aber desto mehr müßte ich doch fürchten, daß er, wenn
375
auch vielleicht nicht Einfluß auf den Ausgang des Prozesses, so doch
376
wahrscheinlich auf die Voruntersuchung hat.« »Ja, gewiß«, sagte der
377
Gerichtsdiener, als sei die Ansicht K.s genau so richtig wie seine eigene.
378
»Es werden aber bei uns in der Regel keine aussichtslosen Prozesse
379
geführt.« »Ich bin nicht ihrer Meinung«, sagte K., »das soll mich aber nicht
380
hindern, gelegentlich den Studenten in Behandlung zu nehmen.« »Ich wäre
381
Ihnen sehr dankbar«, sagte der Gerichtsdiener etwas förmlich, er schien
382
eigentlich doch nicht an die Erfüllbarkeit seines höchsten Wunsches zu
383
glauben. »Es würden vielleicht«, fuhr K. fort, »auch noch andere Ihrer
384
Beamten und vielleicht sogar alle das gleiche verdienen.« »Ja, ja«, sagte
385
der Gerichtsdiener, als handle es sich um etwas Selbstverständliches.
386
Dann sah er K. mit einem zutraulichen Blick an, wie er es bisher trotz aller
387
Freundlichkeit nicht getan hatte, und fügte hinzu: »Man rebelliert eben
388
immer.« Aber das Gespräch schien ihm doch ein wenig unbehaglich
389
geworden zu sein, denn er brach es ab, indem er sagte: »Jetzt muß ich
390
mich in der Kanzlei melden. Wollen Sie mitkommen?« »Ich habe dort nichts
391
zu tun«, sagte K. »Sie können die Kanzleien ansehen. Es wird sich niemand
392
um Sie kümmern.« »Ist es denn sehenswert?« fragte K. zögernd, hatte aber
393
große Lust, mitzugehen. »Nun«, sagte der Gerichtsdiener, »ich dachte, es
394
würde Sie interessieren.« »Gut«, sagte K. schließlich, »ich gehe mit.« Und
395
er lief schneller als der Gerichtsdiener die Treppe hinauf.
396
Beim Eintritt wäre er fast hingefallen, denn hinter der Tür war noch eine
397
Stufe. »Auf das Publikum nimmt man nicht viel Rücksicht«, sagte er. »Man
398
nimmt überhaupt keine Rücksicht«, sagte der Gerichtsdiener, »sehen Sie
399
nur hier das Wartezimmer.« Es war ein langer Gang, von dem aus roh
400
gezimmerte Türen zu den einzelnen Abteilungen des Dachbodens führten.
401
Obwohl kein unmittelbarer Lichtzutritt bestand, war es doch nicht
402
vollständig dunkel, denn manche Abteilungen hatten gegen den Gang zu
403
statt einheitlicher Bretterwände bloße, allerdings bis zur Decke reichende
404
Holzgitter, durch die einiges Licht drang und durch die man auch einzelne
405
Beamte sehen konnte, wie sie an Tischen schrieben oder geradezu am
406
Gitter standen und durch die Lücken die Leute auf dem Gang
407
beobachteten. Es waren, wahrscheinlich weil Sonntag war, nur wenig Leute
408
auf dem Gang. Sie machten einen sehr bescheidenen Eindruck. In fast
409
regelmäßigen Entfernungen voneinander saßen sie auf den zwei Reihen
410
langer Holzbänke, die zu beiden Seiten des Ganges angebracht waren. Alle
411
waren vernachlässigt angezogen, obwohl die meisten nach dem
412
Gesichtsausdruck, der Haltung, der Barttracht und vielen, kaum
413
sicherzustellenden kleinen Einzelheiten den höheren Klassen angehörten.
414
Da keine Kleiderhaken vorhanden waren, hatten sie die Hüte,
415
wahrscheinlich einer dem Beispiel des anderen folgend, unter die Bank
416
gestellt. Als die, welche zunächst der Tür saßen, K. und den Gerichtsdiener
417
erblickten, erhoben sie sich zum Gruß, da das die Folgenden sahen,
418
glaubten sie auch grüßen zu müssen, so daß alle beim Vorbeigehen der
419
beiden sich erhoben. Sie standen niemals vollständig aufrecht, der Rücken
420
war geneigt, die Knie geknickt, sie standen wie Straßenbettler. K. wartete
421
auf den ein wenig hinter ihm gehenden Gerichtsdiener und sagte: »Wie
422
gedemütigt die sein müssen.« »Ja«, sagte der Gerichtsdiener, »es sind
423
Angeklagte, alle, die Sie hier sehn, sind Angeklagte.« »Wirklich!« sagte K.
424
»Dann sind es ja meine Kollegen.« Und er wandte sich an den nächsten,
425
einen großen, schlanken, schon fast grauhaarigen Mann. »Worauf warten
426
Sie hier?« fragte K. höflich. Die unerwartete Ansprache aber machte den
427
Mann verwirrt, was um so peinlicher aussah, da es sich offenbar um einen
428
welterfahrenen Menschen handelte, der anderswo gewiß sich zu
429
beherrschen verstand und die Überlegenheit, die er sich über viele
430
erworben hatte, nicht leicht aufgab. Hier aber wußte er auf eine so einfache
431
Frage nicht zu antworten und sah auf die anderen hin, als seien sie
432
verpflichtet, ihm zu helfen, und als könne niemand von ihm eine Antwort
433
verlangen, wenn diese Hilfe ausbliebe. Da trat der Gerichtsdiener hinzu und
434
sagte, um den Mann zu beruhigen und aufzumuntern: »Der Herr hier fragt ja
435
nur, worauf Sie warten. Antworten Sie doch.« Die ihm wahrscheinlich
436
bekannte Stimme des Gerichtsdieners wirkte besser: »Ich warte –« begann
437
er und stockte. Offenbar hatte er diesen Anfang gewählt, um ganz genau
438
auf die Fragestellung zu antworten, fand aber jetzt die Fortsetzung nicht.
439
Einige der Wartenden hatten sich genähert und umstanden die Gruppe, der
440
Gerichtsdiener sagte zu ihnen: »Weg, weg, macht den Gang frei.« Sie
441
wichen ein wenig zurück, aber nicht bis zu ihren früheren Sitzen.
442
Inzwischen hatte sich der Gefragte gesammelt und antwortete sogar mit
443
einem kleinen Lächeln: »Ich habe vor einem Monat einige Beweisanträge in
444
meiner Sache gemacht und warte auf die Erledigung.« »Sie scheinen sich ja
445
viele Mühe zu geben«, sagte K. »Ja«, sagte der Mann, »es ist ja meine
446
Sache.« »Jeder denkt nicht so wie Sie«, sagte K., »ich zum Beispiel bin
447
auch angeklagt, habe aber, so wahr ich selig werden will, weder einen
448
Beweisantrag gestellt, noch auch sonst irgend etwas Derartiges
449
unternommen. Halten Sie denn das für nötig?« »Ich weiß nicht genau«,
450
sagte der Mann wieder in vollständiger Unsicherheit; er glaubte offenbar, K.
451
mache mit ihm einen Scherz, deshalb hätte er wahrscheinlich am liebsten,
452
aus Furcht, irgendeinen neuen Fehler zu machen, seine frühere Antwort
453
ganz wiederholt, vor K.s ungeduldigem Blick aber sagte er nur: »Was mich
454
betrifft, ich habe Beweisanträge gestellt.« »Sie glauben wohl nicht, daß ich
455
angeklagt bin?« fragte K. »O bitte, gewiß«, sagte der Mann, und trat ein
456
wenig zur Seite, aber in der Antwort war nicht Glaube, sondern nur Angst.
457
»Sie glauben mir also nicht?« fragte K. und faßte ihn, unbewußt durch das
458
demütige Wesen des Mannes aufgefordert, beim Arm, als wolle er ihn zum
459
Glauben zwingen. Aber er wollte ihm nicht Schmerz bereiten, hatte ihn auch
460
nur ganz leicht angegriffen, trotzdem schrie der Mann auf, als habe K. ihn
461
nicht mit zwei Fingern, sondern mit einer glühenden Zange erfaßt. Dieses
462
lächerliche Schreien machte ihn K. endgültig überdrüssig; glaubte man ihm
463
nicht, daß er angeklagt war, so war es desto besser; vielleicht hielt er ihn
464
sogar für einen Richter. Und er faßte ihn nun zum Abschied wirklich fester,
465
stieß ihn auf die Bank zurück und ging weiter. »Die meisten Angeklagten
466
sind so empfindlich«, sagte der Gerichtsdiener. Hinter ihnen sammelten
467
sich jetzt fast alle Wartenden um den Mann, der schon zu schreien
468
aufgehört hatte, und schienen ihn über den Zwischenfall genau
469
auszufragen. K. entgegen kam jetzt ein Wächter, der hauptsächlich an
470
einem Säbel kenntlich war, dessen Scheide, wenigstens der Farbe nach,
471
aus Aluminium bestand. K. staunte darüber und griff sogar mit der Hand
472
hin. Der Wächter, der wegen des Schreiens gekommen war, fragte nach
473
dem Vorgefallenen. Der Gerichtsdiener suchte ihn mit einigen Worten zu
474
beruhigen, aber der Wächter erklärte, doch noch selbst nachsehen zu
475
müssen, salutierte und ging weiter mit sehr eiligen, aber sehr kurzen,
476
wahrscheinlich durch Gicht abgemessenen Schritten.
477
K. kümmerte sich nicht lange um ihn und die Gesellschaft auf dem Gang,
478
besonders da er etwa in der Hälfte des Ganges die Möglichkeit sah, rechts
479
durch eine türlose Öffnung einzubiegen. Er verständigte sich mit dem
480
Gerichtsdiener darüber, ob das der richtige Weg sei, der Gerichtsdiener
481
nickte, und K. bog nun wirklich dort ein. Es war ihm lästig, daß er immer
482
einen oder zwei Schritte vor dem Gerichtsdiener gehen mußte, es konnte
483
wenigstens an diesem Ort den Anschein haben, als ob er verhaftet
484
vorgeführt werde. Er wartete also öfters auf den Gerichtsdiener, aber dieser
485
blieb gleich wieder zurück. Schließlich sagte K., um seinem Unbehagen ein
486
Ende zu machen: »Nun habe ich gesehen, wie es hier aussieht, ich will jetzt
487
weggehen.« »Sie haben noch nicht alles gesehen«, sagte der
488
Gerichtsdiener vollständig unverfänglich. »Ich will nicht alles sehen«, sagte
489
K., der sich übrigens wirklich müde fühlte, »ich will gehen, wie kommt man
490
zum Ausgang?« »Sie haben sich doch nicht schon verirrt?« fragte der
491
Gerichtsdiener erstaunt, »Sie gehen hier bis zur Ecke und dann rechts den
492
Gang hinunter geradeaus zur Tür.« »Kommen Sie mit«, sagte K., »zeigen
493
Sie mir den Weg, ich werde ihn verfehlen, es sind hier so viele Wege.« »Es
494
ist der einzige Weg«, sagte der Gerichtsdiener nun schon vorwurfsvoll, »ich
495
kann nicht wieder mit Ihnen zurückgehen, ich muß doch meine Meldung
496
vorbringen und habe schon viel Zeit durch Sie versäumt.« »Kommen Sie
497
mit!« wiederholte K. jetzt schärfer, als habe er endlich den Gerichtsdiener
498
auf einer Unwahrheit ertappt. »Schreien Sie doch nicht so«, flüsterte der
499
Gerichtsdiener, »es sind ja hier überall Büros. Wenn Sie nicht allein
500
zurückgehen wollen, so gehen Sie noch ein Stückchen mit mir oder warten
501
Sie hier, bis ich meine Meldung erledigt habe, dann will ich ja gern mit
502
Ihnen wieder zurückgehen.« »Nein, nein«, sagte K., »ich werde nicht
503
warten, und Sie müssen jetzt mit mir gehen.« K. hatte sich noch gar nicht in
504
dem Raum umgesehen, in dem er sich befand, erst als jetzt eine der vielen
505
Holztüren, die ringsherum standen, sich öffnete, blickte er hin. Ein
506
Mädchen, das wohl durch K.s lautes Sprechen herbeigerufen war, trat ein
507
und fragte: »Was wünscht der Herr?« Hinter ihr in der Ferne sah man im
508
Halbdunkel noch einen Mann sich nähern. K. blickte den Gerichtsdiener an.
509
Dieser hatte doch gesagt, daß sich niemand um K. kümmern werde, und
510
nun kamen schon zwei, es brauchte nur wenig und die Beamtenschaft
511
wurde auf ihn aufmerksam, würde eine Erklärung seiner Anwesenheit
512
haben wollen. Die einzig verständliche und annehmbare war die, daß er
513
Angeklagter war und das Datum des nächsten Verhörs erfahren wollte,
514
gerade diese Erklärung aber wollte er nicht geben, besonders da sie auch
515
nicht wahrheitsgemäß war, denn er war nur aus Neugierde gekommen oder,
516
was als Erklärung noch unmöglicher war, aus dem Verlangen, festzustellen,
517
daß das Innere dieses Gerichtswesens ebenso widerlich war wie sein
518
Äußeres. Und es schien ja, daß er mit dieser Annahme recht hatte, er wollte
519
nicht weiter eindringen, er war beengt genug von dem, was er bisher
520
gesehen hatte, er war gerade jetzt nicht in der Verfassung, einem höheren
521
Beamten gegenüberzutreten, wie er hinter jeder Tür auftauchen konnte, er
522
wollte weggehen, und zwar mit dem Gerichtsdiener oder allein, wenn es
523
sein mußte.
524
Aber sein stummes Dastehen mußte auffallend sein, und wirklich sahen
525
ihn das Mädchen und der Gerichtsdiener derartig an, als ob in der nächsten
526
Minute irgendeine große Verwandlung mit ihm geschehen müsse, die sie zu
527
beobachten nicht versäumen wollten. Und in der Türöffnung stand der
528
Mann, den K. früher in der Ferne bemerkt hatte, er hielt sich am Deckbalken
529
der niedrigen Tür fest und schaukelte ein wenig auf den Fußspitzen, wie ein
530
ungeduldiger Zuschauer. Das Mädchen aber erkannte doch zuerst, daß das
531
Benehmen K.s in einem leichten Unwohlsein seinen Grund hatte, sie
532
brachte einen Sessel und fragte: »Wollen Sie sich nicht setzen?« K. setzte
533
sich sofort und stützte, um noch besseren Halt zu bekommen, die Ellbogen
534
auf die Lehnen. »Sie haben ein wenig Schwindel, nicht?« fragte sie ihn. Er
535
hatte nun ihr Gesicht nahe vor sich, es hatte den strengen Ausdruck, wie
536
ihn manche Frauen gerade in ihrer schönsten Jugend haben. »Machen Sie
537
sich darüber keine Gedanken«, sagte sie, »das ist hier nichts
538
Außergewöhnliches, fast jeder bekommt einen solchen Anfall, wenn er zum
539
erstenmal herkommt. Sie sind zum erstenmal hier? Nun ja, das ist also
540
nichts Außergewöhnliches. Die Sonne brennt hier auf das Dachgerüst, und
541
das heiße Holz macht die Luft so dumpf und schwer. Der Ort ist deshalb für
542
Büroräumlichkeiten nicht sehr geeignet, so große Vorteile er allerdings
543
sonst bietet. Aber was die Luft betrifft, so ist sie an Tagen großen
544
Parteienverkehrs, und das ist fast jeder Tag, kaum mehr atembar. Wenn Sie
545
dann noch bedenken, daß hier auch vielfach Wäsche zum Trocknen
546
ausgehängt wird – man kann es den Mietern nicht gänzlich untersagen -, so
547
werden Sie sich nicht mehr wundern, daß Ihnen ein wenig übel wurde. Aber
548
man gewöhnt sich schließlich an die Luft sehr gut. Wenn Sie zum zweitenoder
549
drittenmal herkommen, werden Sie das Drückende hier kaum mehr
550
spüren. Fühlen Sie sich schon besser?« K. antwortete nicht, es war ihm zu
551
peinlich, durch diese plötzliche Schwäche den Leuten hier ausgeliefert zu
552
sein, überdies war ihm, da er jetzt die Ursachen seiner Übelkeit erfahren
553
hatte, nicht besser, sondern noch ein wenig schlechter. Das Mädchen
554
merkte es gleich, nahm, um K. eine Erfrischung zu bereiten, eine
555
Hakenstange, die an der Wand lehnte, und stieß damit eine kleine Luke auf,
556
die gerade über K. angebracht war und ins Freie führte. Aber es fiel so viel
557
Ruß herein, daß das Mädchen die Luke gleich wieder zuziehen und mit
558
ihrem Taschentuch die Hände K.s vom Ruß reinigen mußte, denn K. war zu
559
müde, um das selbst zu besorgen. Er wäre gern hier ruhig sitzengeblieben,
560
bis er sich zum Weggehen genügend gekräftigt hatte, das mußte aber um
561
so früher geschehen, je weniger man sich um ihn kümmern würde. Nun
562
sagte aber überdies das Mädchen: »Hier können Sie nicht bleiben, hier
563
stören wir den Verkehr –« K. fragte mit den Blicken, welchen Verkehr er
564
denn hier störe – »Ich werde Sie, wenn Sie wollen, ins Krankenzimmer
565
führen. Helfen Sie mir, bitte«, sagte sie zu dem Mann in der Tür, der auch
566
gleich näher kam. Aber K. wollte nicht ins Krankenzimmer, gerade das
567
wollte er ja vermeiden, weiter geführt zu werden, je weiter er kam, desto
568
ärger mußte es werden. »Ich kann schon gehen«, sagte er deshalb und
569
stand, durch das bequeme Sitzen verwöhnt, zitternd auf. Dann aber konnte
570
er sich nicht aufrecht halten. »Es geht doch nicht«, sagte er kopfschüttelnd
571
und setzte sich seufzend wieder nieder. Er erinnerte sich an den
572
Gerichtsdiener, der ihn trotz allem leicht hinausführen könnte, aber der
573
schien schon längst weg zu sein, K. sah zwischen dem Mädchen und dem
574
Mann, die vor ihm standen, hindurch, konnte aber den Gerichtsdiener nicht
575
finden.
576
»Ich glaube«, sagte der Mann, der übrigens elegant gekleidet war und
577
besonders durch eine graue Weste auffiel, die in zwei langen,
578
scharfgeschnittenen Spitzen endigte, »das Unwohlsein des Herrn geht auf
579
die Atmosphäre hier zurück, es wird daher am besten und auch ihm am
580
liebsten sein, wenn wir ihn nicht erst ins Krankenzimmer, sondern
581
überhaupt aus den Kanzleien hinausführen.« »Das ist es«, rief K. und fuhr
582
vor lauter Freude fast noch in die Rede des Mannes hinein, »mir wird gewiß
583
sofort besser werden, ich bin auch gar nicht so schwach, nur ein wenig
584
Unterstützung unter den Achseln brauche ich, ich werde Ihnen nicht viel
585
Mühe machen, es ist ja auch kein langer Weg, führen Sie mich nur zur Tür,
586
ich setze mich dann noch ein wenig auf die Stufen und werde gleich erholt
587
sein, ich leide nämlich gar nicht unter solchen Anfällen, es kommt mir
588
selbst überraschend. Ich bin doch auch Beamter und an Büroluft gewöhnt,
589
aber hier scheint es doch zu arg, Sie sagen es selbst. Wollen Sie also die
590
Freundlichkeit haben, mich ein wenig zu führen, ich habe nämlich
591
Schwindel, und es wird mir schlecht, wenn ich allein aufstehe.« Und er hob
592
die Schultern, um es den beiden zu erleichtern, ihm unter die Arme zu
593
greifen.
594
Aber der Mann folgte der Aufforderung nicht, sondern hielt die Hände
595
ruhig in den Hosentaschen und lachte laut. »Sehen Sie«, sagte er zu dem
596
Mädchen, »ich habe also doch das Richtige getroffen. Dem Herrn ist nur
597
hier nicht wohl, nicht im allgemeinen.« Das Mädchen lächelte auch, schlug
598
aber dem Mann leicht mit den Fingerspitzen auf den Arm, als hätte er sich
599
mit K. einen zu starken Spaß erlaubt. »Aber was denken Sie denn«, sagte
600
der Mann noch immer lachend, »ich will ja den Herrn wirklich
601
hinausführen.« »Dann ist es gut«, sagte das Mädchen, indem sie ihren
602
zierlichen Kopf für einen Augenblick neigte. »Messen Sie dem Lachen nicht
603
zuviel Bedeutung zu«, sagte das Mädchen zu K., der, wieder traurig
604
geworden, vor sich hinstarrte und keine Erklärung zu brauchen schien,
605
»dieser Herr – ich darf Sie doch vorstellen?« (der Herr gab mit einer
606
Handbewegung die Erlaubnis) – »dieser Herr also ist der Auskunftgeber. Er
607
gibt den wartenden Parteien alle Auskunft, die sie brauchen, und da unser
608
Gerichtswesen in der Bevölkerung nicht sehr bekannt ist, werden viele
609
Auskünfte verlangt. Er weiß auf alle Fragen eine Antwort, Sie können ihn,
610
wenn Sie einmal Lust dazu haben, daraufhin erproben. Das ist aber nicht
611
sein einziger Vorzug, sein zweiter Vorzug ist die elegante Kleidung. Wir, das
612
heißt die Beamtenschaft, meinten einmal, man müsse den Auskunftgeber,
613
der immerfort, und zwar als erster, mit Parteien verhandelt, des würdigen
614
ersten Eindrucks halber, auch elegant anziehen. Wir anderen sind, wie Sie
615
gleich an mir sehen können, leider sehr schlecht und altmodisch
616
angezogen; es hat auch nicht viel Sinn, für die Kleidung etwas zu
617
verwenden, da wir fast unaufhörlich in den Kanzleien sind, wir schlafen ja
618
auch hier. Aber, wie gesagt, für den Auskunftgeber hielten wir einmal
619
schöne Kleidung für nötig. Da sie aber von unserer Verwaltung, die in
620
dieser Hinsicht etwas sonderbar ist, nicht erhältlich war, machten wir eine
621
Sammlung – auch Parteien steuerten bei – und wir kauften ihm dieses
622
schöne Kleid und noch andere. Alles wäre jetzt vorbereitet, einen guten
623
Eindruck zu machen, aber durch sein Lachen verdirbt er es wieder und
624
erschreckt die Leute.« »So ist es«, sagte der Herr spöttisch, »aber ich
625
verstehe nicht, Fräulein, warum Sie dem Herrn alle unsere Intimitäten
626
erzählen oder besser, aufdrängen, denn er will sie ja gar nicht erfahren.
627
Sehen Sie nur, wie er, offenbar mit seinen eigenen Angelegenheiten
628
beschäftigt, dasitzt.« K. hatte nicht einmal Lust, zu widersprechen, die
629
Absicht des Mädchens mochte eine gute sein, sie war vielleicht darauf
630
gerichtet, ihn zu zerstreuen oder ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu
631
sammeln, aber das Mittel war verfehlt. »Ich mußte ihm ihr Lachen erklären«,
632
sagte das Mädchen. »Es war ja beleidigend.« »Ich glaube, er würde noch
633
ärgere Beleidigungen verzeihen, wenn ich ihn schließlich hinausführe.« K.
634
sagte nichts, sah nicht einmal auf, er duldete es, daß die zwei über ihn wie
635
über eine Sache verhandelten, es war ihm sogar am liebsten. Aber plötzlich
636
fühlte er die Hand des Auskunftgebers an einem Arm und die Hand des
637
Mädchens am anderen. »Also auf, Sie schwacher Mann«, sagte der
638
Auskunftgeber. »Ich danke Ihnen beiden vielmals«, sagte K., freudig
639
überrascht, erhob sich langsam und führte selbst die fremden Hände an die
640
Stellen, an denen er die Stütze am meisten brauchte. »Es sieht so aus«,
641
sagte das Mädchen leise in K.s Ohr, während sie sich dem Gang näherten,
642
»als ob mir besonders viel daran gelegen wäre, den Auskunftgeber in ein
643
gutes Licht zu stellen, aber man mag es glauben, ich will doch die Wahrheit
644
sagen. Er hat kein hartes Herz. Er ist nicht verpflichtet, kranke Parteien
645
hinauszuführen, und tut es doch, wie Sie sehen. Vielleicht ist niemand von
646
uns hartherzig, wir wollten vielleicht alle gern helfen, aber als
647
Gerichtsbeamte bekommen wir leicht den Anschein, als ob wir hartherzig
648
wären und niemandem helfen wollten. Ich leide geradezu darunter.«
649
»Wollen Sie sich nicht hier ein wenig setzen?« fragte der Auskunftgeber,
650
sie waren schon im Gang und gerade vor dem Angeklagten, den K. früher
651
angesprochen hatte. K. schämte sich fast vor ihm, früher war er so aufrecht
652
vor ihm gestanden, jetzt mußten ihn zwei stützen, seinen Hut balancierte
653
der Auskunftgeber auf den gespreizten Fingern, die Frisur war zerstört, die
654
Haare hingen ihm in die schweißbedeckte Stirn. Aber der Angeklagte
655
schien nichts davon zu bemerken, demütig stand er vor dem
656
Auskunftgeber, der über ihn hinwegsah, und suchte nur seine Anwesenheit
657
zu entschuldigen. »Ich weiß«, sagte er, »daß die Erledigung meiner Anträge
658
heute noch nicht gegeben werden kann. Ich bin aber doch gekommen, ich
659
dachte, ich könnte doch hier warten, es ist Sonntag, ich habe ja Zeit und
660
hier störe ich nicht.« »Sie müssen das nicht so sehr entschuldigen«, sagte
661
der Auskunftgeber, »Ihre Sorgsamkeit ist ja ganz lobenswert, Sie nehmen
662
hier zwar unnötigerweise den Platz weg, aber ich will Sie trotzdem, solange
663
es mir nicht lästig wird, durchaus nicht hindern, den Gang Ihrer
664
Angelegenheit genau zu verfolgen. Wenn man Leute gesehen hat, die ihre
665
Pflicht schändlich vernachlässigten, lernt man es, mit Leuten, wie Sie sind,
666
Geduld zu haben. Setzen Sie sich.« »Wie er mit den Parteien zu reden
667
versteht«, flüsterte das Mädchen. K. nickte, fuhr aber gleich auf, als ihn der
668
Auskunftgeber wieder fragte: »Wollen Sie sich nicht hier niedersetzen?«
669
»Nein«, sagte K., »ich will mich nicht ausruhen.« Er hatte das mit
670
möglichstes Bestimmtheit gesagt, in Wirklichkeit hätte es ihm sehr
671
wohlgetan, sich niederzusetzen. Er war wie seekrank. Er glaubte auf einem
672
Schiff zu sein, das sich in schwerem Seegang befand. Es war ihm, als
673
stürze das Wasser gegen die Holzwände, als komme aus der Tiefe des
674
Ganges ein Brausen her, wie von überschlagendem Wasser, als schaukle
675
der Gang in der Quere und als würden die wartenden Parteien zu beiden
676
Seiten gesenkt und gehoben. Desto unbegreiflicher war die Ruhe des
677
Mädchens und des Mannes, die ihn führten. Er war ihnen ausgeliefert,
678
ließen sie ihn los, so mußte er hinfallen wie ein Brett. Aus ihren kleinen
679
Augen gingen scharfe Blicke hin und her, ihre gleichmäßigen Schritte fühlte
680
K., ohne sie mitzumachen, denn er wurde fast von Schritt zu Schritt
681
getragen. Endlich merkte er, daß sie zu ihm sprachen, aber er verstand sie
682
nicht, er hörte nur den Lärm, der alles erfüllte und durch den hindurch ein
683
unveränderlicher hoher Ton, wie von einer Sirene, zu klingen schien.
684
»Lauter«, flüsterte er mit gesenktem Kopf und schämte sich, denn er wußte,
685
daß sie laut genug, wenn auch für ihn unverständlich, gesprochen hatten.
686
Da kam endlich, als wäre die Wand vor ihm durchrissen, ein frischer
687
Luftzug ihm entgegen, und er hörte neben sich sagen: »Zuerst will er weg,
688
dann aber kann man ihm hundertmal sagen, daß hier der Ausgang ist, und
689
er rührt sich nicht.« K. merkte, daß er vor der Ausgangstür stand, die das
690
Mädchen geöffnet hatte. Ihm war, als wären alle seine Kräfte mit einemmal
691
zurückgekehrt, um einen Vorgeschmack der Freiheit zu gewinnen, trat er
692
gleich auf eine Treppenstufe und verabschiedete sich von dort aus von
693
seinen Begleitern, die sich zu ihm hinabbeugten. »Vielen Dank«,
694
wiederholte er, drückte beiden wiederholt die Hände und ließ erst ab, als er
695
zu sehen glaubte, daß sie, an die Kanzleiluft gewöhnt, die verhältnismäßig
696
frische Luft, die von der Treppe kam, schlecht ertrugen. Sie konnten kaum
697
antworten, und das Mädchen wäre vielleicht abgestürzt, wenn nicht K.
698
äußerst schnell die Tür geschlossen hätte. K. stand dann noch einen
699
Augenblick still, strich sich mit Hilfe eines Taschenspiegels das Haar
700
zurecht, hob seinen Hut auf, der auf dem nächsten Treppenabsatz lag – der
701
Auskunftgeber hatte ihn wohl hingeworfen – und lief dann die Treppe
702
hinunter, so frisch und in so langen Sprüngen, daß er vor diesem
703
Umschwung fast Angst bekam. Solche Überraschungen hatte ihm sein
704
sonst ganz gefestigter Gesundheitszustand noch nie bereitet. Wollte etwa
705
sein Körper revolutionieren und ihm einen neuen Prozeß bereiten, da er
706
den alten so mühelos ertrug? Er lehnte den Gedanken nicht ganz ab, bei
707
nächster Gelegenheit zu einem Arzt zu gehen, jedenfalls aber wollte er –
708
darin konnte er sich selbst beraten – alle künftigen Sonntagvormittage
709
besser als diesen verwenden.