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Inhaltsverzeichnis

7. Kapitel

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Es war schon heller Tag, als Effi am andern Morgen erwachte. Sie hatte
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Mühe, sich zurechtzufinden. Wo war sie? Richtig, in Kessin, im Hause des
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Landrats von Innstetten, und sie war seine Frau, Baronin Innstetten. Und
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sich aufrichtend, sah sie sich neugierig um; am Abend vorher war sie zu
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müde gewesen, um alles, was sie da halb fremdartig, halb altmodisch
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umgab, genauer in Augenschein zu nehmen. Zwei Säulen stützten den
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Deckenbalken, und grüne Vorhänge schlossen den alkovenartigen
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Schlafraum, in welchem die Betten standen, von dem Rest des Zimmers ab;
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nur in der Mitte fehlte der Vorhang oder war zurückgeschlagen, was ihr von
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ihrem Bett aus eine bequeme Orientierung gestattete. Da, zwischen den
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zwei Fenstern, stand der schmale, bis hoch hinaufreichende Trumeau,
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während rechts daneben, und schon an der Flurwand hin, der große
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schwarze Kachelofen aufragte, der noch (soviel hatte sie schon am Abend
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vorher bemerkt) nach alter Sitte von außen her geheizt wurde. Sie fühlte
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jetzt, wie seine Wärme herüberströmte.
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Wie schön es doch war, im eigenen Hause zu sein; soviel Behagen hatte
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sie während der ganzen Reise nicht empfunden, nicht einmal in Sorrent.
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Aber wo war Innstetten? Alles still um sie her, niemand da. Sie hörte nur
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den Ticktackschlag einer kleinen Pendüle und dann und wann einen
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dumpfen Ton im Ofen, woraus sie schloß, daß vom Flur her ein paar neue
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Scheite nachgeschoben würden. Allmählich entsann sie sich auch, daß
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Geert am Abend vorher von einer elektrischen Klingel gesprochen hatte,
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nach der sie dann auch nicht lange mehr zu suchen brauchte; dicht neben
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ihrem Kissen war der kleine weiße Elfenbeinknopf, auf den sie nun leise
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drückte.
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Gleich danach erschien Johanna. »Gnädige Frau haben befohlen.«
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»Ach, Johanna, ich glaube, ich habe mich verschlafen. Es muß schon
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spät sein.«
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»Eben neun.«
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»Und der Herr ...«, es wollte ihr nicht glücken, so ohne ,weiteres von
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ihrem »Mann« zu sprechen ..., »der Herr, er muß sehr leise gemacht haben;
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ich habe nichts gehört.«
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»Das hat er gewiß. Und gnäd'ge Frau werden fest geschlafen haben. Nach
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der langen Reise ...«
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»Ja, das hab ich. Und der Herr, ist er immer so früh auf?« Immer, gnäd'ge
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Frau. Darin ist er streng; er kann das lange sch1afen nicht leiden, und wenn
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er drüben in sein Zimmer tritt, da muß der Ofen warm sein, und der Kaffee
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darf auch nicht auf sich warten lassen.«
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»Da hat er also schon gefrühstückt?«
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»Oh, nicht doch, gnäd'ge Frau ... der gnäd'ge Herr... «
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Effi fühlte, daß sie die Frage nicht hätte tun und die Vermutung, Innstetten
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könne nicht auf sie gewartet haben, lieber nicht hätte aussprechen sollen.
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Es lag ihr denn auch daran, diesen ihren Fehler, so gut es ging, wieder
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auszugleichen, und als sie sich erhoben und vor dem Trumeau Platz
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genommen hatte, nahm sie das Gespräch wieder auf und sagte: »Der Herr
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hat übrigens ganz recht. Immer früh auf, das war auch Regel in meiner
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Eltern Haus. Wo die Leute den Morgen verschlafen, da gibt es den ganzen
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Tag keine Ordnung mehr. Aber der Herr wird es so streng mit mir nicht
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nehmen; eine ganze Weile hab ich diese Nacht nicht schlafen können und
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habe mich sogar ein wenig geängstigt.«
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»Was ich hören muß, gnäd'ge Frau! Was war es denn?«
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»Es war über mir ein ganz sonderbarer Ton, nicht laut, aber doch sehr
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eindringlich. Erst klang es, wie wenn lange Schleppenkleider über die Diele
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hinschleiften, und in meiner Erregung war es mir ein paarmal, als ob ich
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kleine weiße Atlasschuhe sähe. Es war, als tanze man oben, aber ganz
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leise.« Johanna, während das Gespräch so ging, sah über die Schulter der
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jungen Frau fort in den hohen, schmalen Spiegel hinein, um die Mienen
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Effis besser beobachten zu können. Dann sagte sie: »Ja, das ist oben im
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Saal. Früher hörten wir es in der Küche auch. Aber jetzt hören wir es nicht
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mehr; wir haben uns daran gewöhnt.«
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»Ist es denn etwas Besonderes damit?«
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»O Gott bewahre, nicht im geringsten. Eine Weile wußte man nicht recht,
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woher es käme, und der Herr Prediger machte ein verlegenes Gesicht,
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trotzdem Doktor Gieshübler immer nur darüber lachte. Nun aber wissen wir,
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daß es die Gardinen sind. Der Saal ist etwas multrig und stockig, und
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deshalb stehen immer die Fenster auf, wenn nicht gerade Sturm ist. Und da
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ist denn fast immer ein starker Zug oben und fegt die alten weißen
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Gardinen, die außerdem viel zu lang sind, über die Dielen hin und her. Das
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klingt dann so wie seidne Kleider oder auch wie Atlasschuhe, wie die
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gnäd'ge Frau eben bemerkte.«
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»Natürlich ist es das. Aber ich begreife nur nicht, warum dann die
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Gardinen nicht abgenommen werden. Oder man könnte sie ja kürzer
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machen. Es ist ein so sonderbares Geräusch, das einem auf die Nerven
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fällt. Und nun, Johanna, bitte, geben Sie mir noch das kleine Tuch, und
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tupfen Sie mir die Stirn. Oder nehmen Sie lieber den Rafraichisseur aus
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meiner Reisetasche ... Ach, das ist schön und erfrischt mich. Nun werde ich
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hinübergehen. Er ist doch noch da, oder war er schon aus?«
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»Der gnäd'ge Herr war schon aus, ich glaube, drüben auf dem Amt. Aber
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seit einer Viertelstunde ist er zurück. Ich werde Friedrich sagen, daß er das
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Frühstück bringt.«
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Und damit verließ Johanna das Zimmer, während Effi noch einen Blick in
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den Spiegel tat und dann über den Flur fort, der bei der Tagesbeleuchtung
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viel von seinem Zauber vom Abend vorher eingebüßt hatte, bei Geert
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eintrat.
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Dieser saß an seinem Schreibtisch, einem etwas schwerfälligen
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Zylinderbüro, das er aber, als Erbstück aus dem elterlichen Hause, nicht
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missen mochte.
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Effi stand hinter ihm und umarmte und küßte ihn, noch eh euch von
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seinem Platz erheben konnte.
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»Schon?«
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»Schon, sagst du. Natürlich um mich zu verspotten.«
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Innstetten schüttelte den Kopf. »Wie werd ich das?« Effi fand aber ein
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Gefallen daran, sich anzuklagen, und wollte von den Versicherungen ihres
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Mannes, daß sein »schon« ganz aufrichtig gemeint gewesen sei, nichts
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hören. »Du mußt von der Reise her wissen, daß ich morgens nie habe
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warten lassen. Im Laufe des Tages, nun ja, da ist es etwas anderes. Es ist
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wahr, ich bin nicht sehr pünktlich, aber ich bin keine Langschläferin. Darin,
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denk ich, haben mich die Eltern gut erzogen.«
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»Darin? In allem, meine süße Effi.«
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»Das sagst du so, weil wir noch in den Flitterwochen sind ... aber nein, wir
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sind ja schon heraus. Um Himmels willen, Geert, daran habe ich noch gar
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nicht gedacht, wir sind ja schon über sechs Wochen verheiratet, sechs
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Wochen und einen Tag. Ja, das ist etwas anderes, da nehme ich es nicht
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mehr als Schmeichelei, da nehme ich es als Wahrheit.«
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In diesem Augenblick trat Friedrich ein und brachte den Kaffee. Der
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Frühstückstisch stand in Schräglinie vor einem Meinen, rechtwinkligen
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Sofa, das gerade die eine Ecke des Wohnzimmers ausfüllte. Hier setzten
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sich beide. »Der Kaffee ist ja vorzüglich«, sagte Effi, während sie zugleich
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das Zimmer und seine Einrichtung musterte. »Das ist noch Hotelkaffee oder
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wie der bei Bottegone ... erinnerst du dich noch, in Florenz, mit dem Blick
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auf den Dom. Davor muß ich der Mama schreiben, solchen Kaffee haben
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wir in Hohen-Cremmen nicht. Überhaupt, Geert, ich sehe nun erst, wie
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vornehm ich mich verheiratet habe. Bei uns konnte alles nur so gerade
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passieren.«
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»Torheit, Effi. Ich habe nie eine bessere Hausführung gesehen als bei
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euch.«
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»Und dann, wie du wohnst. Als Papa sich den neuen Gewehrschrank
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angeschafft und über seinem Schreibtisch einen Büffelkopf und dicht
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darunter den alten Wrangel angebracht hatte (er war nämlich mal Adjutant
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bei dem Alten), da dacht er wunder was er getan; aber wenn ich mich hier
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umsehe, daneben ist unsere ganze Hohen-Cremmener Herrlichkeit ja bloß
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dürftig und alltäglich. Ich weiß gar nicht, womit ich das alles vergleichen
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soll; schon gestern abend, als ich nur so flüchtig darüber hinsah, kamen
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mir allerhand Gedanken.«
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Und welche, wenn ich fragen darf?«
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»Ja, welche. Du darfst aber nicht drüber lachen. Ich habe mal ein
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Bilderbuch gehabt, wo ein persischer oder indischer Fürst (denn er trug
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einen Turban) mit untergeschlagenen Beinen auf einem roten Seidenkissen
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saß, und in seinem Rücken war außerdem noch eine große rote Seidenrolle,
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die links und rechts ganz bauschig zum Vorschein kam, und die Wand
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hinter dem indischen Fürsten starrte von Schwertern und Dolchen und
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Parderfellen und Schilden und langen türkischen Flinten. Und sieh, ganz so
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sieht es hier bei dir aus, und wenn du noch die Beine unterschlägst, ist die
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Ähnlichkeit vollkommen.«
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»Effi, du bist ein entzückendes, liebes Geschöpf. Du weißt gar nicht, wie
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sehr ich's finde und wie gern ich dir in jedem Augenblick zeigen möchte,
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daß ich's finde.«
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»Nun, dazu ist ja noch vollauf Zeit; ich bin ja erst siebzehn und habe noch
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nicht vor zu sterben.«
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»Wenigstens nicht vor mir. Freilich, wenn ich dann stürbe, nähme ich dich
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am liebsten mit. Ich will dich keinem andern lassen; was meinst du dazu?«
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»Das muß ich mir doch noch überlegen. Oder lieber, lassen wir's
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überhaupt. Ich spreche nicht gern von Tod, ich bin für Leben. Und nun sage
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mir, wie leben wir hier? Du hast mir unterwegs allerlei Sonderbares von
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Stadt und Land erzählt, aber wie wir selber hier leben werden, davon kein
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Wort. Daß hier alles anders ist als in Hohen-Cremmen und Schwantikow,
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das seh ich wohl, aber wir müssen doch in dem 'guten Kessin', wie du's
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immer nennst, auch etwas wie Umgang und Gesellschaft haben können.
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Habt ihr denn Leute von Familie in der Stadt?«
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»Nein, meine liebe Effi; nach dieser Seite hin gehst du großen
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Enttäuschungen entgegen. In der Nähe haben wir ein paar Adlige, die du
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kennenlernen wirst, aber hier in der Stadt ist gar nichts.«
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»Gar nichts? Das kann ich nicht glauben. Ihr seid doch bis zu dreitausend
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Menschen, und unter dreitausend Menschen muß es doch außer so kleinen
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Leuten wie Barbier Beza (so hieß er ja wohl) doch auch noch eine Elite
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geben, Honoratioren oder dergleichen.«
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Innstetten lachte. »Ja, Honoratioren, die gibt es. Aber bei Licht besehen
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ist es nicht viel damit. Natürlich haben wir einen Prediger und einen
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Amtsrichter und einen Rektor und einen Lotsenkommandeur, und von
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solchen beamteten Leuten findet sich schließlich wohl ein ganzes Dutzend
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zusammen, aber die meisten davon: gute Menschen und schlechte
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Musikanten. Und was dann noch bleibt, das sind bloß Konsuln.«
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»Bloß Konsuln. Ich bitte dich, Geert, wie kannst du nur sagen 'bloß
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Konsuln'. Das ist doch etwas sehr Hohes und Großes, und ich möcht
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beinah sagen Furchtbares. Konsuln, das sind doch die mit dem
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Rutenbündel, draus, glaub ich, ein Beil heraussah.«
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»Nicht ganz, Effi Die heißen Liktoren.«
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»Richtig, die heißen Liktoren. Aber Konsuln ist doch auch etwas sehr
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Vornehmes und Hochgesetzliches. Brutus war doch ein Konsul.«
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»Ja, Brutus war ein Konsul. Aber unsere sind ihm nicht sehr ähnlich und
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begnügen sich damit, mit Zucker und Kaffee zu handeln oder eine Kiste mit
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Apfelsinen aufzubrechen, und verkaufen dir dann das Stück pro zehn
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Pfennige.«
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»Nicht möglich.«
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»Sogar gewiß. Es sind kleine, pfiffige Kaufleute, die, wenn fremdländische
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Schiffe hier einlaufen und in irgendeiner Geschäftsfrage nicht recht aus
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noch ein wissen, dann mit ihrem Rat zur Hand sind, und wenn sie diesen
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Rat gegeben und irgendeinem holländischen oder portugiesischen Schiff
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einen Dienst geleistet haben, so werden sie zuletzt zu beglaubigten
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Vertretern solcher fremder Staaten, und gerade so viele Botschafter und
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Gesandte, wie wir in Berlin haben, so viele Konsuln haben wir auch in
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Kessin, und wenn irgendein Festtag ist, und es gibt hier viele Festtage,
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dann werden alle Wimpel gehißt, und haben wir gerade eine grelle
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Morgensonne, so siehst du an solchem Tag ganz Europa von unsern
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Dächern flaggen und das Sternenbanner und den chinesischen Drachen
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dazu.«
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»Du bist in einer spöttischen Laune, Geert, und magst auch wohl recht
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haben. Aber ich, für meine kleine Person, muß dir gestehen, daß ich dies
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alles entzückend finde und daß unsere havelländischen Städte daneben
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verschwinden. Wenn sie da Kaisers Geburtstag feiern, so flaggt es immer
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bloß schwarz und weiß und allenfalls ein bißchen rot dazwischen, aber das
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kann sich doch nicht vergleichen mit der Welt von Flaggen, von der du
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sprichst. Überhaupt, wie ich dir schon sagte, ich finde immer wieder und
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wieder, es hat alles so was Fremdländisches hier, und ich habe noch nichts
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gehört und gesehen, was mich nicht in eine gewisse Verwunderung gesetzt
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hätte, gleich gestern abend das merkwürdige Schiff draußen im Flur und
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dahinter der Haifisch und das Krokodil und hier dein eigenes Zimmer. Alles
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so orientalisch, und ich muß es wiederholen, alles wie bei einem indischen
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Fürsten ...«
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»Meinetwegen. Ich gratuliere, Fürstin ...«
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»Und dann oben der Saal mit seinen langen Gardinen, die über die Diele
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hinfegen.«
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»Aber was weißt du denn von dem Saal, Effi?«
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»Nichts, als was ich dir eben gesagt habe. Wohl eine Stunde lang, als ich
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in der Nacht aufwachte, war es mir, als ob ich Schuhe auf der Erde
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schleifen hörte und als würde getanzt und fast auch wie Musik. Aber alles
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ganz leise. Und das hab ich dann heute früh an Johanna erzählt, bloß um
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mich zu entschuldigen, daß ich hinterher so lange geschlafen. Und da
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sagte sie mir, das sei von den langen Gardinen oben im Saal. Ich denke, wir
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machen kurzen Prozeß damit und schneiden die Gardinen etwas ab oder
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schließen wenigstens die Fenster; es wird ohnehin bald stürmisch genug
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werden. Mitte November ist ja die Zeit.«
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Innstetten sah in einer kleinen Verlegenheit vor sich hin und schien
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schwankend, ob er auf all das antworten solle. Schließlich entschied er sich
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für Schweigen. »Du hast ganz recht, Effi, wir wollen die langen Gardinen
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oben kürzer machen. Aber es eilt nicht damit, um so weniger, als es nicht
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sicher ist, ob es hilft. Es kann auch was anderes sein, im Rauchfang oder
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der Wurm im Holz oder ein Iltis. Wir haben nämlich hier Iltisse. Jedenfalls
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aber, eh wir Änderungen vornehmen, mußt du dich in unserem Hauswesen
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erst umsehen, natürlich unter meiner Führung; in einer Viertelstunde
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zwingen wir's. Und dann machst du Toilette, nur ein ganz klein wenig, denn
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eigentlich bist du so am reizendsten – Toilette für unseren Freund
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Gieshübler; es ist jetzt zehn vorüber, und ich müßte mich sehr in ihm irren,
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wenn er nicht um elf oder doch spätestens um die Mittagsstunde hier
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antreten und dir seinen Respekt devotest zu Füßen legen sollte. Das ist
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nämlich die Sprache, drin er sich ergeht. Übrigens, wie ich dir schon sagte,
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ein kapitaler Mann, der dein Freund werden wird, wenn ich ihn und dich
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recht kenne.«

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