5. Standlied
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Chor: O Erde und du, alles erleuchtender Strahl des Helios, blickt her auf
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das unselige Weib, bevor es die Mörderhand an die Kinder legt und das
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eigene Fleisch und Blut tötet. Denn aus deinem goldenen Samen ist sie
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entsprossen, und nun droht Gefahr, daß Götterblut durch Menschenhand
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vergossen wird. Auf, himmlisches Licht, lähme sie, hemme sie, nimm sie
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weg aus dem Haus, die Arme, die Flüche zum mörderischen Rachegeist
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machen.
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Umsonst die Wehen der Geburt, umsonst gebarst du liebe Kinder,
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nachdem du das ungastliche schwarze Felsentor der Symplegaden
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durchfuhrst. Unselige, warum befällt dich schwerer Herzensgroll? Warum
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ein wütender Mord nach dem anderen? Ich weiß es: Das Blut ermordeter
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Angehöriger rinnt durch göttliche Fügung den Menschen zu schwerem
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Leid für das Haus zur Erde.
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Die Erzieher: Weh! Weh!
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Chor: Hörst du die Schreie der Kinder, hörst du sie? O elendes, unseliges
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Weib!
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Ein Kind: Weh mir! Was soll ich tun? Wohin fliehe ich vor den Händen der
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Mutter?
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Chor: Soll ich hineingehen? Ich will die Kinder vor dem Mord retten.
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Die Erzieher: Ja, bei den Göttern, helft! Es ist höchste Not! Wir sind schon
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nah am Netz des Todes.
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Chor: Du Elende! So bist du wirklich von Stein oder Eisen, daß du die
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Kindersaat, die du geboren, mit eigener Hand ermordest?
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Nur von einer, von einer der Frauen der Vorzeit hörte ich, daß sie Hand an
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die eigenen Kinder legte; es war Ino[1], rasend geworden durch göttliche
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Fügung, als die Gattin des Zeus sie zu irrem Lauf aus dem Haus trieb. Die
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Arme stürzte in die Meerflut wegen des ruchlosen Kindermords; sie sprang
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von der Meeresküste und fand mit beiden Kindern Tod und Untergang.
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Was kann es noch Schrecklicheres geben? O leidvolle Ehe der Frauen,
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welches Unheil hast du schon über die Menschen gebracht!
[1] Ino: Die verloren gegangene Tragödie Ino, wurde ebenfalls von Euripides geschrieben. In dieser geht es um die zweite Frau des Athamas und den Hass bzw. die Ermordung ihrer Stiefkinder.