36. Kapitel
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Der Mai war schön, der Juni noch schöner, und Effi, nachdem ein erstes
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schmerzliches Gefühl, das Rollos Eintreffen in ihr geweckt hatte, glücklich
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überwunden war, war voll Freude, das treue Tier wieder um sich zu haben.
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Roswitha wurde belobt, und der alte Briest erging sich seiner Frau
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gegenüber in Worten der Anerkennung für Innstetten, der ein Kavalier sei,
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nicht kleinlich und immer das Herz auf dem rechten Fleck gehabt habe.
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»Schade, daß die dumme Geschichte dazwischenfahren mußte. Eigentlich
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war es doch ein Musterpaar.« Der einzige, der bei dem Wiedersehen ruhig
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blieb, war Rollo selbst, weil er entweder kein Organ für Zeitmaß hatte oder
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die Trennung als eine Unordnung ansah, die nun einfach wieder behoben
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sei. Daß er alt geworden, wirkte wohl auch mit dabei. Mit seinen
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Zärtlichkeiten blieb er sparsam, wie er beim Wiedersehen sparsam mit
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seinen Freudenbezeugungen gewesen war, aber in seiner Treue war er
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womöglich noch gewachsen. Er wich seiner Herrin nicht von der Seite. Den
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Jagdhund behandelte er wohlwollend, aber doch als ein Wesen auf niederer
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Stufe. Nachts lag er vor Effis Tür auf der Binsenmatte, morgens, wenn das
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Frühstück im Freien genommen wurde, neben der Sonnenuhr, immer ruhig,
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immer schläfrig, und nur wenn sich Effi vom Frühstückstisch erhob und auf
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den Flur zuschritt und hier erst den Strohhut und dann den Sonnenschirm
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vom Ständer nahm, kam ihm seine Jugend wieder, und ohne sich darum zu
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kümmern, ob seine Kraft auf eine große oder kleine Probe gestellt werden
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würde, jagte er die Dorfstraße hinauf und wieder herunter und beruhigte
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sich erst, wenn sie zwischen den ersten Feldern waren. Effi, der freie Luft
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noch mehr galt als landschaftliche Schönheit, vermied die kleinen
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Waldpartien und hielt meist die große, zunächst von uralten Rüstern und
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dann, wo die Chaussee begann, von Pappeln besetzte große Straße, die
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nach der Bahnhofsstation führte, wohl eine Stunde Wegs. An allem freute
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sie sich, atmete beglückt den Duft ein, der von den Raps- und Kleefeldern
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herüberkam, oder folgte dem Aufsteigen der Lerchen und zählte die
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Ziehbrunnen und Tröge, daran das Vieh zur Tränke ging. Dabei klang ein
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leises Läuten zu ihr herüber. Und dann war ihr zu Sinn, als müsse sie die
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Augen schließen und in einem süßen Vergessen hinübergehen. In Nähe der
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Station, hart an der Chaussee, lag eine Chausseewalze. Das war ihr
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täglicher Rastplatz, von dem aus sie das Treiben auf dem Bahndamm
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verfolgen konnte; Züge kamen und gingen, und mitunter sah sie zwei
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Rauchfahnen, die sich einen Augenblick wie deckten und dann nach links
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und rechts hin wieder auseinandergingen, bis sie hinter Dorf und Wäldchen
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verschwanden. Rollo saß dann neben ihr, an ihrem Frühstück teilnehmend,
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und wenn er den letzten Bissen aufgefangen hatte, fuhr er, wohl um sich
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dankbar zu bezeigen, irgendeine Ackerfurche wie ein Rasender hinauf und
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hielt nur inne, wenn ein paar beim Brüten gestörte Rebhühner dicht neben
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ihm aus einer Nachbarfurche aufflogen.
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»Wie schön dieser Sommer! Daß ich noch so glücklich sein könnte, liebe
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Mama, vor einem Jahr hätte ich's nicht gedacht« – das sagte Effi jeden Tag,
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wenn sie mit der Mama um den Teich schritt oder einen Frühapfel vom
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Zweig brach und tapfer einbiß. Denn sie hatte die schönsten Zähne. Frau
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von Briest streichelte ihr dann die Hand und sagte: »Werde nur erst wieder
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gesund, Effi, ganz gesund; das Glück findet sich dann; nicht das alte, aber
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ein neues. Es gibt Gott sei Dank viele Arten von Glück. Und du sollst sehen,
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wir werden schon etwas finden für dich.«
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»Ihr seid so gut. Und eigentlich hab ich doch auch euer Leben geändert
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und euch vor der Zeit zu alten Leuten gemacht.«
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Ach, meine liebe Effi, davon sprich nicht. Als es kam, da dacht ich
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ebenso. Jetzt weiß ich, daß unsere Stille besser ist als der Lärm und das
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laute Getriebe von vordem. Und wenn du so fortfährst, können wir noch
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reisen. Als Wiesike Mentone vorschlug, da warst du krank und reizbar und
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hattest, weil du krank warst, ganz recht mit dem, was du von den
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Schaffnern und Kellnern sagtest; aber wenn du wieder festere Nerven hast,
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dann geht es, dann ärgert man sich nicht mehr, dann lacht man über die
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großen Allüren und das gekräuselte Haar. Und dann das blaue Meer und
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weiße Segel und die Felsen ganz mit rotem Kaktus überwachsen – ich habe
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es noch nicht gesehen, aber ich denke es mir so. Und ich möchte es wohl
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kennenlernen.«
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So verging der Sommer, und die Sternschnuppennächte lagen schon
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zurück. Effi hatte während dieser Nächte bis über Mitternacht hinaus am
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Fenster gesessen und sich nicht müde sehen können. »Ich war immer eine
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schwache Christin; aber ob wir doch vielleicht von da oben stammen und,
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wenn es hier vorbei ist, in unsere himmlische Heimat zurückkehren, zu den
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Sternen oben oder noch drüber hinaus! Ich weiß es nicht, ich will es auch
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nicht wissen, ich habe nur die Sehnsucht.« Arme Effi, du hattest zu den
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Himmelwundern zu lange hinaufgesehen und darüber nachgedacht, und
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das Ende war, daß die Nachtluft und die Nebel, die vom Teich her
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aufstiegen, sie wieder aufs Krankenbett warfen, und als Wiesike gerufen
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wurde und sie gesehen hatte, nahm er Briest beiseite und sagte: »Wird
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nichts mehr; machen Sie sich auf ein baldiges Ende gefaßt.« Er hatte nur zu
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wahr gesprochen, und wenige Tage danach, es war noch nicht spät und die
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zehnte Stunde noch nicht heran, da kam Roswitha nach unten und sagte zu
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Frau von Briest: »Gnädigste Frau, mit der gnädigen Frau oben ist es
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schlimm; sie spricht immer so still vor sich hin, und mitunter ist es, als ob
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sie bete, sie will es aber nicht wahrhaben, und ich weiß nicht, mir ist, als ob
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es jede Stunde vorbei sein könnte.«
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»Will sie mich sprechen?«
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»Sie hat es nicht gesagt. Aber ich glaube, sie möchte es. Sie wissen ja,
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wie sie ist; sie will Sie nicht stören und ängstlich machen. Aber es wäre
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doch wohl gut.«
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»Es ist gut, Roswitha«, sagte Frau von Briest, »ich werde kommen. «
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Und ehe die Uhr noch einsetzte, stieg Frau von Briest die Treppe hinauf
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und trat bei Effi ein. Das Fenster stand offen, und sie lag auf einer
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Chaiselongue, die neben dem Fenster stand.
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Frau von Briest schob einen kleinen schwarzen Stuhl mit drei goldenen
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Stäbchen in der Ebenholzlehne heran, nahm Effis Hand und sagte: »Wie
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geht es dir, Effi? Roswitha sagt, du seiest so fiebrig.«
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Ach, Roswitha nimmt alles so ängstlich. Ich sah ihr an, sie glaubt, ich
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sterbe. Nun, ich weiß nicht. Aber sie denkt, es soll es jeder so ängstlich
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nehmen wie sie selbst.«
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»Bist du so ruhig über Sterben, liebe Effi?«
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Ganz ruhig, Mama.«
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»Täuschst du dich darin nicht? Alles hängt am Leben und die Jugend erst
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recht. Und du bist noch so jung, liebe Effi.«
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Effi schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Du weißt, ich habe nicht viel
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gelesen, und Innstetten wunderte sich oft darüber, und es war ihm nicht
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recht.«
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Es war das erste Mal, daß sie Innstettens Namen nannte, was einen
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großen Eindruck auf die Mama machte und dieser klar zeigte, daß es zu
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Ende sei.
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»Aber ich glaube«, nahm Frau von Briest das Wort, »du wolltest mir was
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erzählen.«
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»Ja, das wollte ich, weil du davon sprachst, ich sei noch so jung. Freilich
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bin ich noch jung. Aber das schadet nichts. Es war noch in glücklichen
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Tagen, da las mir Innstetten abends vor; er hatte sehr viele Bücher, und in
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einem hieß es: Es sei wer von einer fröhlichen Tafel abgerufen worden, und
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am anderen Tag habe der Abgerufene gefragt, wie's denn nachher gewesen
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sei. Da habe man ihm geantwortet: 'Ach, es war noch allerlei; aber
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eigentlich haben Sie nichts versäumt.' Sieh, Mama, diese Worte haben sich
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mir eingeprägt – es hat nicht viel zu bedeuten, wenn man von der Tafel
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etwas früher abgerufen wird.«
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Frau von Briest schwieg. Effi aber schob sich etwas höher hinauf und
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sagte dann: »Und da ich nun mal von alten Zeiten und auch von Innstetten
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gesprochen habe, muß ich dir doch noch etwas sagen, liebe Mama.«
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»Du regst dich auf, Effi.«
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»Nein, nein; etwas von der Seele heruntersprechen, das regt mich nicht
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auf, das macht still. Und da wollte ich dir denn sagen: Ich sterbe mit Gott
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und Menschen versöhnt, auch versöhnt mit ihm. «
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»Warst du denn in deiner Seele in so großer Bitterkeit mit ihm?
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Eigentlich, verzeih mir, meine liebe Effi, daß ich das jetzt noch sage,
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eigentlich hast du doch euer Leid heraufbeschworen.«
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Effi nickte. »Ja, Mama. Und traurig, daß es so ist. Aber als dann all das
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Schreckliche kam, und zuletzt das mit Annie, du weißt schon, da hab ich
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doch, wenn ich das lächerliche Wort gebrauchen darf, den Spieß
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umgekehrt und habe mich ganz ernsthaft in den Gedanken hineingelebt, er
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sei schuld, weil er nüchtern und berechnend gewesen sei und zuletzt auch
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noch grausam. Und da sind Verwünschungen gegen ihn über meine Lippen
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gekommen.«
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»Und das bedrückt dich jetzt?«
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»Ja. Und es liegt mir daran, daß er erfährt, wie mir hier in meinen
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Krankheitstagen, die doch fast meine schönsten gewesen sind, wie mir hier
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klargeworden, daß er in allem recht gehandelt. In der Geschichte mit dem
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armen Crampas – ja, was sollte er am Ende anders tun? Und dann, womit er
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mich am tiefsten verletzte, daß er mein eigen Kind in einer Art Abwehr
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gegen mich erzogen hat, so hart es mir ankommt und so weh es mir tut, er
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hat auch darin recht gehabt. Laß ihn das wissen, daß ich in dieser
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Überzeugung gestorben bin. Es wird ihn trösten, aufrichten, vielleicht
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versöhnen. Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie
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jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist.«
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Frau von Briest sah, daß Effi erschöpft war und zu schlafen schien oder
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schlafen wollte. Sie erhob sich leise von ihrem Platz und ging. Indessen
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kaum daß sie fort war, erhob sich auch Effi und setzte sich an das offene
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Fenster, um noch einmal die kühle Nachtluft einzusaugen. Die Sterne
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flimmerten, und im Park regte sich kein Blatt. Aber je länger sie
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hinaushorchte, je deutlicher hörte sie wieder, daß es wie ein feines Rieseln
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auf die Platanen niederfiel. Ein Gefühl der Befreiung überkam sie. »Ruhe,
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Ruhe.«
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Es war einen Monat später, und der September ging auf die Neige. Das
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Wetter war schön, aber das Laub im Park zeigte schon viel Rot und Gelb,
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und seit den Äquinoktien, die die drei Sturmtage gebracht hatten, lagen die
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Blätter überallhin ausgestreut.
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Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veränderung vollzogen, die
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Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag seit
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gestern eine weiße Marmorplatte, darauf stand nichts als »Effi Briest« und
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darunter ein Kreuz. Das war Effis letzte Bitte gewesen: »Ich möchte auf
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meinem Stein meinen alten Namen wiederhaben; ich habe dem andern
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keine Ehre gemacht.« Und es war ihr versprochen worden. Ja, gestern war
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die Marmorplatte gekommen und aufgelegt worden, und angesichts der
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Stelle saßen nun wieder Briest und Frau und sahen darauf hin und auf den
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Heliotrop, den man geschont und der den Stein jetzt einrahmte. Rollo lag
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daneben, den Kopf in die Pfoten gesteckt. Wilke, dessen Gamaschen immer
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weiter wurden, brachte das Frühstück und die Post, und der alte Briest
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sagte: »Wilke, bestelle den kleinen Wagen. Ich will mit der Frau über Land
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fahren.«
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Frau von Briest hatte mittlerweile den Kaffee eingeschenkt und sah nach
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dem Rondell und seinem Blumenbeet. »Sieh, Briest, Rollo liegt wieder vor
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dem Stein. Es ist ihm doch noch tiefer gegangen als uns. Er frißt auch nicht
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mehr.«
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»Ja, Luise, die Kreatur. Das ist ja, was ich immer sage. Es ist nicht so viel
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mit uns, wie wir glauben. Da reden wir immer von Instinkt. Am Ende ist es
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doch das beste.«
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»Sprich nicht so. Wenn du so philosophierst ... nimm es mir nicht übel,
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Briest, dazu reicht es bei dir nicht aus. Du hast deinen guten Verstand, aber
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du kannst doch nicht an solche Fragen ...«
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»Eigentlich nicht.«
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»Und wenn denn schon überhaupt Fragen gestellt werden sollen, da gibt
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es ganz andere, Briest, und ich kann dir sagen, es vergeht kein Tag, seit
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das arme Kind da liegt, wo mir solche Fragen nicht gekommen waren ...«
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»Welche Fragen?«
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»Ob wir nicht doch vielleicht schuld sind?«
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Unsinn, Luise. Wie meinst du das?«
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»Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen.
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Gerade wir. Denn Niemeyer ist doch eigentlich eine Null, weil er alles in
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Zweifel läßt. Und dann, Briest, so leid es mir tut ... deine beständigen
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Zweideutigkeiten ... und zuletzt, womit ich mich selbst anklage, denn ich
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will nicht schadlos ausgehen in dieser Sache, ob sie nicht doch vielleicht
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zu jung war?«
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Rollo, der bei diesen Worten aufwachte, schüttelte den Kopf langsam hin
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und her, und Briest sagte ruhig: »Ach, Luise, laß ... das ist ein zu weites
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Feld.«