6. Kapitel
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Mitte November – sie waren bis Capri und Sorrent gekommen – lief
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Innstettens Urlaub ab, und es entsprach seinem Charakter und seinen
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Gewohnheiten, genau Zeit und Stunde zu halten.
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Am 14. früh traf er denn auch mit dem Kurierzug in Berlin ein, wo Vetter
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Briest ihn und die Cousine begrüßte und vorschlug, die zwei bis zum
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Abgang des Stettiner Zuges noch zur Verfügung bleibenden Stunden zum
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Besuch des St.-Privat-Panoramas zu benutzen und diesem
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Panoramabesuch ein kleines Gabelfrühstück folgen zu lassen. Beides
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wurde dankbar akzeptiert. Um Mittag war man wieder auf dem Bahnhof und
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nahm hier, nachdem, wie herkömmlich, die glücklicherweise nie ernst
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gemeinte Aufforderung, » doch auch mal herüberzukommen«, ebenso von
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Effi wie von Innstetten ausgesprochen worden war, unter herzlichem
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Händeschütteln Abschied voneinander. Noch als der Zug sich schon in
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Bewegung setzte, grüßte Effi vom Coupé aus. Dann machte sie sich's
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bequem und schloß die Augen; nur von Zeit zu Zeit richtete sie sich wieder
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auf und reichte Innstetten die Hand.
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Es war eine angenehme Fahrt, und pünktlich erreichte der Zug den
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Bahnhof Klein-Tantow, von dem aus eine Chaussee nach dem noch zwei
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Meilen entfernten Kessin hinüberführte. Bei Sommerzeit, namentlich
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während der Bademonate, benutzte man statt der Chaussee lieber den
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Wasserweg und fuhr auf einem alten Raddampfer das Flüßchen Kessine,
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dem Kessin selbst seinen Namen verdankte, hinunter; am 1. Oktober aber
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stellte der »Phönix«, von dem seit langem vergeblich gewünscht wurde,
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daß er in einer passagierfreien Stunde sich seines Namens entsinnen und
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verbrennen möge, regelmäßig seine Fahrten ein, weshalb denn auch
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Innstetten bereits von Stettin aus an seinen Kutscher Kruse telegrafiert
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hatte: »Fünf Uhr Bahnhof Klein-Tantow. Bei gutem Wetter offener Wagen.«
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Und nun war gutes Wetter, und Kruse hielt in offenem Gefährt am
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Bahnhof und begrüßte die Ankommenden mit dem vorschriftsmäßigen
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Anstand eines herrschaftlichen Kutschers. »Nun, Kruse, alles in
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Ordnung?«
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»Zu Befehl, Herr Landrat.«
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»Dann, Effi, bitte, steig ein.« Und während Effi dem nachkam und einer
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von den Bahnhofsleuten einen kleinen Handkoffer vorn beim Kutscher
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unterbrachte, gab Innstetten Weisung, den Rest des Gepäcks mit dem
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Omnibus nachzuschicken. Gleich danach nahm auch er seinen Platz, bat,
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sich Populär machend, einen der Umstehenden um Feuer und rief Kruse
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zu: »Nun vorwärts, Kruse.« Und über die Schienenweg, die vielgleisig an
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der Übergangsstelle lagen, ging es in Schräglinie den Bahndamm hinunter
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und gleich danach an einem schon an der Chaussee gelegenen Gasthaus
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vorüber, das den Namen »Zum Fürsten Bismarck« führte. Denn an
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ebendieser Stelle gabelte der Weg und zweigte, wie rechts nach Kessin, so
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links nach Varzin hin ab. Vor dem Gasthof stand ein mittelgroßer,
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breitschultriger Mann in Pelz und Pelzmütze, welch letztere er, als der Herr
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Landrat vorüberfuhr, mit vieler Würde vom Haupte nahm. »Wer war denn
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das?« sagte Effi, die durch alles, was sie sah, aufs höchste interessiert und
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schon deshalb bei bester Laune war. »Er sah ja aus wie ein Starost, wobei
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ich freilich bekennen muß, nie einen Starosten gesehen zu haben.«
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»Was auch nicht schadet, Effi Du hast es trotzdem sehr gut getroffen. Er
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sieht wirklich aus wie ein Starost und ist auch so was. Er ist nämlich ein
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halber Pole, heißt Golchowski, und wenn wir hier Wahl haben oder eine
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Jagd, dann ist er obenauf. Eigentlich ein ganz unsicherer Passagier, dem
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ich nicht über den Weg traue und der wohl viel auf dem Gewissen hat. Er
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spielt sich aber auf den Loyalen hin aus, und wenn die Varziner
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Herrschaften hier vorüberkommen, möchte er sich am liebsten vor den
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Wagen werfen. Ich weiß, daß er dem Fürsten auch widerlich ist. Aber was
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hilft's? Wir dürfen es nicht mit ihm verderben, weil wir ihn brauchen. Er hat
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hier die ganze Gegend in der Tasche und versteht die Wahlmache wie kein
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anderer, gilt auch für wohlhabend. Dabei leiht er auf Wucher, was sonst die
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Polen nicht tun; in der Regel das Gegenteil.«
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»Er sah aber gut aus.«
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»Ja, gut aussehen tut er. Gut aussehen tun die meisten hier. Ein hübscher
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Schlag Menschen. Aber das ist auch das Beste, was man von ihnen sagen
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kann. Eure märkischen Leute sehen unscheinbarer aus und verdrießlicher,
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und in ihrer Haltung sind sie weniger respektvoll, eigentlich gar nicht, aber
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ihr Ja ist Ja und Nein ist Nein, und man kann sich auf sie verlassen. Hier ist
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alles unsicher.«
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»Warum sagst du mir das? Ich muß nun doch hier mit ihnen leben.«
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»Du nicht, du wirst nicht viel von ihnen hören und sehen. Denn Stadt und
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Land sind hier sehr verschieden, und du wirst nur unsere Städter
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kennenlernen, unsere guten Kessiner.«
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»Unsere guten Kessiner. Ist es Spott, oder sind wie wirklich so gut?«
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»Daß sie wirklich gut sind, will ich nicht gerade behaupten, aber sie sind
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doch anders als die andern; ja, sie haben gar keine Ähnlichkeit mit der
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Landbevölkerung hier.«
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»Und wie kommt das?«
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»Weil es eben ganz andere Menschen sind, ihrer Abstammung nach und
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ihren Beziehungen nach. Was du hier landeinwärts findest, das sind
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sogenannte Kaschuben, von denen du vielleicht gehört hast, slawische
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Leute, die hier schon tausend Jahre sitzen und wahrscheinlich noch viel
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länger. Alles aber, was hier an der Küste hin in den kleinen See- und
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Handelsstädten wohnt, das sind von weither Eingewanderte, die sich um
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das kaschubische Hinterland wenig kümmern, weil sie wenig davon haben
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und auf etwas ganz anderes angewiesen sind. Worauf sie angewiesen sind,
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das sind die Gegenden, mit denen sie Handel treiben, und da sie das mit
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aller Welt tun und mit aller Welt in Verbindung stehen, so findest du
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zwischen ihnen auch Menschen aus aller Welt Ecken und Enden. Auch in
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unserem guten Kessin, trotzdem es eigentlich nur ein Nest ist.«
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Aber das ist ja entzückend, Geert. Du sprichst immer von Nest, und nun
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finde ich, wenn du nicht übertrieben hast, eine ganz neue Welt hier. Allerlei
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Exotisches. Nicht wahr, so was Ähnliches meintest du doch?« Er nickte.
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»Eine ganz neue Welt, sag ich, vielleicht einen Neger oder einen Türken
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oder vielleicht sogar einen Chinesen.«
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»Auch einen Chinesen. Wie gut du raten kannst. Es ist möglich, daß wir
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wirklich noch einen haben, aber jedenfalls haben wir einen gehabt; jetzt ist
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er tot und auf einem kleinen eingegitterten Stück Erde begraben, dicht
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neben dem Kirchhof. Wenn du nicht furchtsam bist, will ich dir bei
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Gelegenheit mal sein Grab zeigen; es liegt zwischen den Dünen, bloß
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Strandhafer drumrum und dann und wann ein paar Immortellen, und immer
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hört man das Meer. Es ist sehr schön und sehr schauerlich.«
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»Ja, schauerlich, und ich möchte wohl mehr davon wissen. Aber doch
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lieber nicht, ich habe dann immer gleich Visionen und Träume und möchte
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doch nicht, wenn ich diese Nacht hoffentlich gut schlafe, gleich einen
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Chinesen an mein Bett treten sehen.«
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»Das wird er auch nicht.«
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»Das wird er auch nicht. Hör, das klingt ja sonderbar, als ob es doch
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möglich wäre. Du willst mir Kessin interessant machen, aber du gehst darin
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ein bißchen weit. Und solche fremde Leute habt ihr viele in Kessin?«
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»Sehr viele. Die ganze Stadt besteht aus solchen Fremden, aus
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Menschen, deren Eltern oder Großeltern noch ganz woanders saßen.«
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»Höchst merkwürdig. Bitte, sag mir mehr davon. Aber nicht wieder was
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Gruseliges. Ein Chinese, find ich, hat immer was Gruseliges. «
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»Ja, das hat er«, lachte Geert. »Aber der Rest ist, Gott sei Dank, von ganz
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anderer Art, lauter manierliche Leute, vielleicht ein bißchen zu sehr
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Kaufmann, ein bißchen zu sehr auf ihren Vorteil bedacht und mit Wechseln
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von zweifelhaftem Wert immer bei der Hand. Ja, man muß sich vorsehen
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mit ihnen. Aber sonst ganz gemütlich. Und damit du siehst, daß ich dir
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nichts vorgemacht habe, will ich dir nur so eine kleine Probe geben, so eine
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Art Register oder Personenverzeichnis.«
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»Ja, Geert, das tu.«
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»Da haben wir beispielsweise keine fünfzig Schritt von uns, und unsere
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Gärten stoßen sogar zusammen, den Maschinen- und Baggermeister
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Macpherson, einen richtigen Schotten und Hochländer.«
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»Und trägt sich auch noch so?«
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»Nein, Gott sei Dank nicht, denn es ist ein verhutzeltes Männchen, auf
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das weder sein Clan noch Walter Scott besonders stolz sein würden. Und
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dann haben wir in demselben Haus, wo dieser Macpherson wohnt, auch
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noch einen alten Wundarzt, Beza mit Namen, eigentlich bloß Barbier; der
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stammt aus Lissabon, gerade daher, wo auch der berühmte General de
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Meza herstammt – Meza, Beza, du hörst die Landesverwandtschaft heraus.
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Und dann haben wir flußaufwärts am Bollwerk – das ist nämlich der Kai, wo
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die Schiffe liegen – einen Goldschmied namens Stedingk, der aus einer
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alten schwedischen Familie stammt; ja, ich glaube, es gibt sogar
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Reichsgrafen, die so heißen, und des weiteren, und damit will ich dann
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vorläufig abschließen, haben wir den guten alten Doktor Hannemann, der
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natürlich ein Däne ist und lange in Island war und sogar ein kleines Buch
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geschrieben hat über den letzten Ausbruch des Hekla oder Krabla.«
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»Das ist ja aber großartig, Geert. Das ist ja wie sechs Romane, damit kann
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man ja gar nicht fertig werden. Es klingt erst spießbürgerlich und ist doch
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hinterher ganz apart. Und dann müßt ihr ja doch auch Menschen haben,
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schon weil es eine Seestadt ist, die nicht bloß Chirurgen oder Barbiere sind
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oder sonst dergleichen. Ihr müßt doch auch Kapitäne haben, irgendeinen
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fliegenden Holländer oder ...«
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»Da hast du ganz recht. Wir haben sogar einen Kapitän, der war
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Seeräuber unter den Schwarzflaggen. «
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»Kenn ich nicht. Was sind Schwarzflaggen?«
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»Das sind Leute weit dahinten in Tonkin und an der Südsee ... Seit er aber
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wieder unter Menschen ist, hat er auch wieder die besten Formen und ist
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ganz unterhaltlich.«
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»Ich würde mich aber doch vor ihm fürchten.«
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»Was du nicht nötig hast, zu keiner Zeit, und auch dann nicht, wenn ich
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über Land bin oder zum Tee beim Fürsten, denn zu allem andern, was wir
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haben, haben wir ja Gott sei Dank auch Rollo ...«
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»Rollo ?«
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»Ja, Rollo. Du denkst dabei, vorausgesetzt, daß du bei Niemeyer oder
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Jahnke von dergleichen gehört hast, an den Normannenherzog, und
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unserer hat auch so was. Es ist aber bloß ein Neufundländer, ein
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wunderschönes Tier, das mich liebt und dich auch lieben wird. Denn Rollo
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ist ein Kenner. Und solange du den um dich hast, so lange bist du sicher
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und kann nichts an dich heran, kein Lebendiger und kein Toter. Aber sieh
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mal den Mond da drüben. Ist es nicht schön?«
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Effi, die, still in sich versunken, jedes Wort halb ängstlich, halb begierig
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eingesogen hatte, richtete sich jetzt auf und sah nach rechts hinüber, wo
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der Mond, unter weißem, aber rasch hinschwindendem Gewölk, eben
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aufgegangen war. Kupferfarben stand die große Scheibe hinter einem
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Erlengehölz und warf ihr Licht auf eine breite Wasserfläche, die die Kessine
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hier bildete. Oder vielleicht war es auch schon ein Haff, an dem das Meer
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draußen seinen Anteil hatte.
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Effi war wie benommen. »Ja, du hast recht, Geert, wie schön; aber es hat
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zugleich so was Unheimliches. In Italien habe ich nie solchen Eindruck
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gehabt, auch nicht, als wir von Mestre nach Venedig hinüberfuhren. Da war
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auch Wasser und Sumpf und Mondschein, und ich dachte, die Brücke
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würde brechen; aber es war nicht so gespenstig. Woran liegt es nur? Ist es
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doch das Nördliche?«
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Innstetten lachte. »Wir sind hier fünfzehn Meilen nördlicher als in
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Hohen-Cremmen, und eh der erste Eisbär kommt, mußt du noch eine Weile
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warten. Ich glaube, du bist nervös von der langen Reise und dazu das
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St.-Privat-Panorama und die Geschichte von dem Chinesen.«
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»Du hast mir ja gar keine erzählt.«
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»Nein, ich hab ihn nur eben genannt. Aber ein Chinese ist schon an und
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für sich eine Geschichte ...«
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»Ja«, lachte sie.
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»Und jedenfalls hast du's bald überstanden. Siehst du da vor dir das
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kleine Haus mit dem Licht? Es ist eine Schmiede. Da biegt der Weg. Und
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wenn wir die Biegung gemacht haben, dann siehst du schon den Turm von
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Kessin oder richtiger beide...«
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»Hat es denn zwei?«
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»Ja, Kessin nimmt sich auf. Es hat jetzt auch eine katholische Kirche.«
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Eine halbe Stunde später hielt der Wagen an der ganz am
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entgegengesetzten Ende der Stadt gelegenen landrätlichen Wohnung,
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einem einfachen, etwas altmodischen Fachwerkhaus, das mit seiner Front
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auf die nach den Seebädern hinausführende Hauptstraße, mit seinem
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Giebel aber auf ein zwischen der Stadt und den Dünen liegendes Wäldchen,
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das die »Plantage« hieß, herniederblickte.
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Dies altmodische Fachwerkhaus war übrigens nur Innstettens
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Privatwohnung, nicht das eigentliche Landratsamt, welches letztere, schräg
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gegenüber, an der anderen Seite der Straße lag.
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Kruse hatte nicht nötig, durch einen dreimaligen Peitschenknips die
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Ankunft zu vermelden; längst hatte man von Tür und Fenstern aus nach
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den Herrschaften ausgeschaut, und ehe noch der Wagen heran war, waren
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bereits alle Hausinsassen auf dem die ganze Breite des Bürgersteigs
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einnehmenden Schwellstein versammelt, vorauf Rollo, der im selben
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Augenblick, wo der Wagen hielt, diesen zu umkreisen begann. Innstetten
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war zunächst seiner jungen Frau beim Aussteigen behilflich und ging dann,
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dieser den Arm reichend, unter freundlichem Gruß an der Dienerschaft
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vorüber, die nun dem jungen Paar in den mit prächtigen alten
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Wandschränken umstandenen Hausflur folgte. Das Hausmädchen, eine
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hübsche, nicht mehr ganz jugendliche Person, die ihre stattliche Fülle fast
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ebenso gut kleidete wie das zierliche Mützchen auf dem blonden Haar, war
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der gnädigen Frau beim Ablegen von Muff und Mantel behilflich und bückte
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sich eben, um ihr auch die mit Pelz gefütterten Gummistiefel auszuziehen.
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Aber ehe sie noch dazu kommen konnte, sagte Innstetten: »Es wird das
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beste sein, ich stelle dir gleich hier unsere gesamte Hausgenossenschaft
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vor, mit Ausnahme der Frau Kruse, die sich – ich vermute sie wieder bei
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ihrem unvermeidlichen schwarzen Huhn – nicht gerne sehen läßt.« Alles
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lächelte. »Aber lassen wir Frau Kruse ... Dies hier ist mein alter Friedrich,
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der schon mit mir auf der Universität war ... Nicht wahr, Friedrich, gute
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Zeiten damals ... Und dies hier ist Johanna, märkische Landsmännin von
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dir, wenn du, was aus Pasewalker Gegend stammt, noch für voll gelten
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lassen willst, und dies ist Christel, der wir mittags und abends unser
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leibliches Wohl anvertrauen und die zu kochen versteht, das kann ich dir
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versichern. Und dies hier ist Rollo. Nun, Rollo, wie geht's?«
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Rollo schien nur auf diese spezielle Ansprache gewartet zu haben, denn
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im selben Augenblick, wo er seinen Namen hörte, gab er einen
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Freudenblaff, richtete sich auf und legte die Pfoten auf seines Herrn
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Schulter.
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»Schon gut, Rollo, schon gut. Aber sieh da, das ist die Frau; ich hab ihr
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von dir erzählt und ihr gesagt, daß du ein schönes Tier seist und sie
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schützen würdest.« Und nun ließ Rollo ab und setzte sich vor Innstetten
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nieder, zugleich neugierig zu der jungen Frau aufblickend. Und als diese
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ihm die Hand hinhielt, umschmeichelte er sie.
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Effi hatte während dieser Vorstellungsszene Zeit gefunden, sich
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umzuschauen. Sie war wie gebannt von allem, was sie sah, und dabei
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geblendet von der Fülle von Licht. In der vorderen Flurhälfte brannten vier,
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fünf Wandleuchter, die Leuchten selbst sehr primitiv, von bloßem
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Weißblech, was aber den Glanz und die Helle nur noch steigerte. Zwei mit
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roten Schleiern bedeckte Astrallampen, Hochzeitsgeschenk von Niemeyer,
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standen auf einem zwischen zwei Eichenschränken angebrachten
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Klapptisch, in Front davon das Teezeug, dessen Lämpchen unter dem
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Kessel schon angezündet war. Aber noch viel, viel anderes und zum Teil
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sehr Sonderbares kam zu dem allen hinzu. Quer über den Flur fort liefen
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drei die Flurdecke in ebenso viele Felder teilende Balken; an dem
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vordersten hing ein Schiff mit vollen Segeln, hohem Hinterdeck und
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Kanonenluken, während weiterhin ein riesiger Fisch in der Luft zu
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schwimmen schien. Effi nahm ihren Schirm, den sie noch in Händen hielt,
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und stieß leis an das Ungetüm an, so daß es sich in eine langsam
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schaukelnde Bewegung setzte.
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»Was ist das, Geert?« fragte sie.
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»Das ist ein Haifisch.«
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»Und ganz dahinten das, was aussieht wie eine große Zigarre vor einem
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Tabaksladen?«
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»Das ist ein junges Krokodil. Aber das kannst du dir alles morgen viel
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besser und genauer ansehen; jetzt komm und laß uns eine Tasse Tee
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nehmen. Denn trotz aller Plaids und Decken wirst du gefroren haben. Es
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war zuletzt empfindlich kalt.«
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Er bot nun Effi den Arm, und während sich die beiden Mädchen
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zurückzogen und nur Friedrich und Rollo folgten, trat man, nach links hin,
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in des Hausherrn Wohn- und Arbeitszimmer ein. Effi war hier ähnlich
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überrascht wie draußen im Flur; aber ehe sie sich darüber äußern konnte,
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schlug Innstetten eine Portiere zurück, hinter der ein zweites, etwas
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größeres Zimmer, mit Blick auf Hof und Garten, gelegen war. »Das, Effi, ist
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nun also dein. Friedrich und Johanna haben es, so gut es ging, nach
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meinen Anordnungen herrichten müssen. Ich finde es ganz erträglich und
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würde mich freuen, wenn es dir auch gefiele.«
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Sie nahm ihren Arm aus dem seinigen und hob sich auf die Fußspitzen,
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um ihm einen herzlichen Kuß zu geben.
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»Ich armes kleines Ding, wie du mich verwöhnst. Dieser Flügel und dieser
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Teppich, ich glaube gar, es ist ein türkischer, und das Bassin mit den
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Fischchen und dazu der Blumentisch. Verwöhnung, wohin ich sehe.«
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»Ja, meine liebe Effi, das mußt du dir nun schon gefallen lassen, dafür ist
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man jung und hübsch und liebenswürdig, was die Kessiner wohl auch
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schon erfahren haben werden, Gott weiß woher. Denn an dem Blumentisch
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wenigstens bin ich unschuldig. Friedrich, wo kommt der Blumentisch her?«
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Apotheker Gieshübler ... Es liegt auch eine Karte bei.«
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Ah, Gieshübler, Alonzo Gieshübler«, sagte Innstetten und reichte lachend
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und in beinahe ausgelassener Laune die Karte mit dem etwas fremdartig
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klingenden Vornamen zu Effi hinüber. »Gieshübler, von dem hab ich dir zu
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erzählen vergessen – beiläufig, er führt auch den Doktortitel, hat's aber
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nicht gern, wenn man ihn dabei nennt, das ärgere, so meint er, die richtigen
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Doktoren bloß, und darin wird er wohl recht haben. Nun, ich denke, du wirst
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ihn kennenlernen, und zwar bald; er ist unsere beste Nummer hier,
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Schöngeist und Original und vor allem Seele von Mensch, was doch immer
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die Hauptsache bleibt. Aber lassen wir das alles und setzen uns und
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nehmen unsern Tee. Wo soll es sein? Hier bei dir oder drin bei mir? Denn
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eine weitere Wahl gibt es nicht. Eng und klein ist meine Hütte.«
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Sie setzte sich ohne Besinnen auf ein kleines Ecksofa. »Heute bleiben wir
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hier, heute bist du bei mir zu Gast. Oder lieber so: den Tee regelmäßig bei
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mir, das Frühstück bei dir; dann kommt jeder zu seinem Recht, und ich bin
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neugierig, wo mir's am besten gefallen wird.«
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»Das ist eine Morgen- und Abendfrage.«
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»Gewiß. Aber wie sie sich stellt, oder richtiger, wie wir uns dazu stellen,
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das ist es eben.«
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Und sie lachte und schmiegte sich an ihn und wollte ihm die Hand
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küssen.
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»Nein, Effi, um Himmels willen nicht, nicht so. Mir liegt nicht daran, die
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Respektsperson zu sein, das bin ich für die Kessiner. Für dich bin ich ...«
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»Nun was?«
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»Ach laß. Ich werde mich hüten, es zu sagen.«