Sechstes Kapitel
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Als ich wieder erwachte, spielten schon die ersten Morgenstrahlen an den
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grünen Vorhängen über mir. Ich konnte mich gar nicht besinnen, wo ich
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eigentlich wäre. Es kam mir vor, als führe ich noch immer fort im Wagen,
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und es hätte mir von einem Schlosse im Mondschein geträumt und von
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einer alten Hexe und ihrem blassen Töchterlein.
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Ich sprang endlich rasch aus dem Bette, kleidete mich an und sah mich
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dabei nach allen Seiten in dem Zimmer um. Da bemerkte ich eine kleine
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Tapetentür, die ich gestern gar nicht gesehen hatte. Sie war nur angelehnt,
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ich öffnete sie und erblickte ein kleines, nettes Stübchen, das in der
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Morgendämmerung recht heimlich aussah. Über einem Stuhl waren
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Frauenkleider unordentlich hingeworfen, auf einem Bettchen daneben lag
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das Mädchen, das mir gestern abend bei der Tafel aufgewartet hatte. Sie
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schlief noch ganz ruhig und hatte den Kopf auf den weißen bloßen Arm
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gelegt, über den ihre schwarzen Locken herabfielen. Wenn die wüßte, daß
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die Tür offen war! sagte ich zu mir selbst und ging in mein Schlafzimmer
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zurück, während ich hinter mir wieder schloß und verriegelte, damit das
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Mädchen nicht erschrecken und sich schämen sollte, wenn sie erwachte.
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Draußen ließ sich noch kein Laut vernehmen. Nur ein früh erwachtes
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Waldvöglein saß vor meinem Fenster auf einem Strauch, der aus der Mauer
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herauswuchs, und sang schon sein Morgenlied. «Nein», sagte ich, «du
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sollst mich nicht beschämen und allein so früh und fleißig Gott loben!» –
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Ich nahm schnell meine Geige, die ich gestern auf das Tischchen gelegt
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hatte, und ging hinaus. Im Schlosse war noch alles totenstill, und es
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dauerte lange, ehe ich mich aus den dunklen Gängen ins Freie herausfand.
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Als ich vor das Schloß heraustrat, kam ich in einen großen Garten, der
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auf breiten Terrassen, wovon die eine immer tiefer war als die andere, bis
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auf den halben Berg herunterging. Aber das war eine liederliche Gärtnerei.
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Die Gänge waren alle mit hohem Grase bewachsen, die künstlichen Figuren
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von Buchsbaum waren nicht beschnitten und streckten wie Gespenster
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lange Nasen oder ellenhohe, spitzige Mützen in die Luft hinaus, daß man
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sich in der Dämmerung ordentlich davor hätte fürchten mögen. Auf einige
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zerbrochene Statuen über einer vertrockneten Wasserkunst war gar
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Wäsche aufgehängt, hin und wieder hatten sie mitten im Garten Kohl
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gebaut, dann kamen wieder ein paar ordinäre Blumen, alles unordentlich
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durcheinander und von hohem, wildem Unkraut überwachsen, zwischen
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dem sich bunte Eidechsen schlängelten. Zwischen die alten, hohen Bäume
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hindurch aber war überall eine weite, einsame Aussicht, eine Bergkoppe
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hinter der andern, soweit das Auge reichte.
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Nachdem ich so ein Weilchen in der Morgendämmerung durch die Wildnis
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umherspaziert war, erblickte ich auf der Terrasse unter mir einen langen,
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schmalen, blassen Jüngling in einem langen, braunen Kaputrock, der mit
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verschränkten Armen und großen Schritten auf und ab ging. Er tat, als sähe
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er mich nicht, setzte sich bald darauf auf eine steinerne Bank hin, zog ein
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Buch aus der Tasche, las sehr laut, als wenn er predigte, sah dabei
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zuweilen zum Himmel und stützte dann den Kopf ganz melancholisch auf
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die rechte Hand. Ich sah ihm lange zu, endlich wurde ich doch neugierig,
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warum er denn eigentlich so absonderliche Grimassen machte, und ging
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schnell auf ihn zu. Er hatte eben einen tiefen Seufzer ausgestoßen und
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sprang erschrocken auf, als ich ankam. Er war voller Verlegenheit, ich
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auch, wir wußten beide nicht, was wir sprechen sollten, und machten
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immerfort Komplimente voreinander, bis er endlich mit langen Schritten in
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das Gebüsch Reißaus nahm. Unterdes war die Sonne über dem Walde
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aufgegangen, ich sprang auf die Bank hinauf und strich vor Lust meine
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Geige, daß es weit in die stillen Täler herunterschallte. Die Alte mit dem
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Schlüsselbunde, die mich schon ängstlich im ganzen Schlosse zum
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Frühstück aufgesucht hatte, erschien nun auf der Terrasse über mir und
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verwunderte sich, daß ich so artig auf der Geige spielen konnte. Der alte
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grämliche Mann vom Schlosse fand sich dazu und verwunderte sich
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ebenfalls, endlich kamen auch noch die Mägde, und alles blieb oben voller
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Verwunderung stehen, und ich fingerte und schwenkte meinen Fiedelbogen
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immer künstlicher und hurtiger und spielte Kadenzen und Variationen, bis
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ich endlich ganz müde wurde.
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Das war nun aber doch ganz seltsam auf dem Schlosse! Kein Mensch
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dachte da ans Weiterreisen. Das Schloß war auch gar kein Wirtshaus,
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sondern gehörte, wie ich von der Magd erfuhr, einem reichen Grafen. Wenn
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ich mich dann manchmal bei der Alten erkundigte, wie der Graf heiße, wo er
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wohne? da schmunzelte sie immer bloß, wie den ersten Abend, da ich auf
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das Schloß kam, und kniff und winkte mir so pfiffig mit den Augen zu, als
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wenn sie nicht recht bei Sinne wäre. Trank ich einmal an einem heißen Tage
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eine ganze Flasche Wein aus, so kicherten die Mägde gewiß, wenn sie die
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andere brachten, und als mich dann gar einmal nach einer Pfeife Tabak
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verlangte, ich ihnen durch Zeichen beschrieb, was ich wollte, da brachen
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alle in ein großes, unvernünftiges Gelächter aus. – Am verwunderlichsten
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war mir eine Nachtmusik, die sich oft und gerade immer in den finstersten
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Nächten unter meinem Fenster hören ließ. Es griff auf einer Gitarre immer
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nur von Zeit zu Zeit einzelne, ganz leise Klänge. Das eine Mal aber kam es
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mir vor, als wenn es dabei von unten «pst! pst!» heraufrief. Ich fuhr daher
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geschwind aus dem Bett und mit dem Kopf aus dem Fenster. «Holla! heda!
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wer ist da draußen?» rief ich hinunter. Aber es antwortete niemand, ich
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hörte nur etwas sehr schnell durch die Gesträuche fortlaufen. Der große
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Hund im Hofe schlug über meinen Lärm ein paarmal an, dann war auf
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einmal alles wieder still, und die Nachtmusik ließ sich seitdem nicht wieder
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vernehmen.
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Sonst hatte ich hier ein Leben, wie sichs ein Mensch nur immer in der
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Welt wünschen kann. Der gute Portier! er wußte wohl, was er sprach, wenn
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er immer zu sagen pflegte, daß in Italien einem die Rosinen von selbst in
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den Mund wüchsen. Ich lebte auf dem einsamen Schlosse wie ein
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verwunschener Prinz. Wo ich hintrat, hatten die Leute eine große
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Ehrerbietung vor mir, obgleich sie schon alle wußten, daß ich keinen Heller
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in der Tasche hatte. Ich durfte nur sagen: «Tischchen, deck dich!» so
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standen auch schon herrliche Speisen, Reis, Wein, Melonen und
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Parmesankäse da. Ich ließ mirs wohl schmecken, schlief in dem prächtigen
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Himmelbett, ging im Garten spazieren, musizierte und half wohl auch
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manchmal in der Gärtnerei nach. Oft lag ich auch stundenlang im Garten im
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hohen Grase, und der schmale Jüngling (es war ein Schüler und
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Verwandter der Alten, der eben jetzt hier zur Vakanz war) ging mit seinem
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langen Kaputrock in weiten Kreisen um mich herum und murmelte dabei
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wie ein Zauberer aus seinem Buche, worüber ich dann auch jedesmal
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einschlummerte. – So verging ein Tag nach dem andern, bis ich am Ende
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anfing, von dem guten Essen und Trinken ganz melancholisch zu werden.
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Die Glieder gingen mir von dem ewigen Nichtstun ordentlich aus allen
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Gelenken, und es war mir, als würde ich vor Faulheit noch ganz
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auseinanderfallen.
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In dieser Zeit saß ich einmal an einem schwülen Nachmittage im Wipfel
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eines hohen Baumes, der am Abhange stand, und wiegte mich auf den
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Ästen langsam über dem stillen tiefen Tale. Die Bienen summten zwischen
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den Blättern um mich herum, sonst war alles wie ausgestorben, kein
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Mensch war zwischen den Bergen zu sehen, tief unter mir auf den stillen
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Waldwiesen ruhten die Kühe auf dem hohen Grase. Aber ganz von weitem
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kam der Klang eines Posthorns über die waldigen Gipfel herüber, bald
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kaum vernehmbar, bald wieder heller und deutlicher. Mir fiel dabei auf
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einmal ein altes Lied recht aufs Herz, das ich noch zu Hause auf meines
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Vaters Mühle von einem wandernden Handwerksburschen gelernt hatte,
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und ich sang:
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Wer in die Fremde will wandern,
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Der muß mit der Liebsten gehn,
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Es jubeln und lassen die andern
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Den Fremden alleine stehn.
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Was wisset ihr, dunkele Wipfel,
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Von der alten schönen Zeit?
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Ach, die Heimat hinter den Gipfeln,
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Wie hegt sie von hier so weit!
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Am liebsten betracht ich die Sterne,
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Die schienen, wenn ich ging zu ihr,
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Die Nachtigall hör ich so gerne,
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Sie sang vor der Liebsten Tür.
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Der Morgen, das ist meine Freude!
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Da steig ich in stiller Stund
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Auf den höchsten Berg in die Weite,
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Grüß dich, Deutschland, aus Herzensgrund!
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Es war, als wenn mich das Posthorn bei meinem Liede aus der Ferne
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begleiten wollte. Es kam, während ich sang, zwischen den Bergen immer
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näher und näher, bis ich es endlich gar oben auf dem Schloßhofe schallen
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hörte. Ich sprang rasch vom Baume herunter. Da kam mir auch schon die
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Alte mit einem geöffneten Pakete aus dem Schlosse entgegen. «Da ist auch
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etwas für Sie mitgekommen», sagte sie, und reichte mir aus dem Paket ein
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kleines, niedliches Briefchen. Es war ohne Aufschrift, ich brach es schnell
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auf. Aber da wurde ich auch auf einmal im ganzen Gesichte so rot wie eine
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Päonie, und das Herz schlug mir so heftig, daß es die Alte merkte, denn das
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Briefchen war von meiner schönen Frau, von der ich manches Zettelchen
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bei dem Herrn Amtmann gesehen hatte. Sie schrieb darin ganz kurz: «Es ist
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alles wieder gut, alle Hindernisse sind beseitigt. Ich benutzte heimlich diese
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Gelegenheit, um die erste zu sein, die Ihnen diese freudige Botschaft
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schreibt. Kommen, eilen Sie zurück. Es ist so öde hier, und ich kann kaum
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mehr leben, seit Sie von uns fort sind. Aurelie.»
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Die Augen gingen mir über, als ich das las, vor Entzücken und Schreck
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und unsäglicher Freude. Ich schämte mich vor dem alten Weibe, die mich
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wieder abscheulich anschmunzelte, und flog wie ein Pfeil bis in den
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allereinsamsten Winkel des Gartens. Dort warf ich mich unter den
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Haselnußsträuchern ins Gras hin und las das Briefchen noch einmal, sagte
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die Worte auswendig für mich hin und las dann wieder und immer wieder,
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und die Sonnenstrahlen tanzten zwischen den Blättern hindurch über den
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Buchstaben, daß sie sich wie goldene und hellgrüne und rote Blüten vor
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meinen Augen ineinanderschlangen. Ist sie am Ende gar nicht verheiratet
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gewesen? dachte ich; war der fremde Offizier damals vielleicht ihr Herr
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Bruder, oder ist er nun tot, oder bin ich toll, oder – «Das ist alles einerlei!»
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rief ich endlich und sprang auf, «nun ists ja klar, sie liebt mich ja, sie liebt
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mich!» Als ich aus dem Gesträuch wieder hervorkroch, neigte sich die
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Sonne zum Untergange. Der Himmel war rot, die Vögel sangen lustig in
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allen Wäldern, die Täler waren voller Schimmer, aber in meinem Herzen war
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es noch viel tausendmal schöner und fröhlicher!
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Ich rief in das Schloß hinein, daß sie mir heut das Abendessen in den
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Garten herausbringen sollten. Die alte Frau, der alte grämliche Mann, die
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Mägde, sie mußten alle mit heraus und sich mit mir unter dem Baum an den
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gedeckten Tisch setzen. Ich zog meine Geige hervor und spielte und aß und
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trank dazwischen. Da wurden sie alle lustig, der alte Mann strich seine
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grämlichen Falten aus dem Gesicht und stieß ein Glas nach dem andern
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aus, die Alte plauderte in einem fort, Gott weiß was; die Mägde fingen an
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auf dem Rasen miteinander zu tanzen. Zuletzt kam auch noch der blasse
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Student neugierig hervor, warf einige verächtliche Blicke auf das Spektakel
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und wollte ganz vornehm wieder weitergehen. Ich aber, nicht zu faul,
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sprang geschwind auf, erwischte ihn, eh er sichs versah, bei seinem langen
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Überrock und walzte tüchtig mit ihm herum. Er strengte sich nur an, recht
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zierlich und neumodisch zu tanzen, und füßelte so emsig und künstlich,
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daß ihm der Schweiß vom Gesicht herunterfloß und die langen Rockschöße
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wie ein Rad um uns herumflogen. Dabei sah er mich aber manchmal so
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kurios mit verdrehten Augen an, daß ich mich ordentlich vor ihm zu
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fürchten anfing und ihn plötzlich wieder losließ.
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Die Alte hätte nun gar zu gern erfahren, was in dem Briefe stand und
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warum ich denn eigentlich heut auf einmal so lustig war. Aber das war ja
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viel zu weitläufig, um es ihr auseinandersetzen zu können. Ich zeigte bloß
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auf ein paar Kraniche, die eben hoch über uns durch die Luft zogen, und
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sagte, ich müßte nun auch so fort und immer fort, weit in die Ferne! – Da riß
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sie die vertrockneten Augen weit auf und blickte wie ein Basilisk bald auf
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mich, bald auf den alten Mann hinüber. Dann bemerkte ich, wie die beiden
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heimlich die Köpfe zusammensteckten, sooft ich mich wegwandte, und
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sehr eifrig miteinander sprachen und mich dabei zuweilen von der Seite
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ansahen.
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Das fiel mir auf. Ich sann hin und her, was sie wohl mit mir vorhaben
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möchten. Darüber wurde ich stiller, die Sonne war auch schon lange
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untergegangen, und so wünschte ich allen gute Nacht und ging
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nachdenklich in meine Schlafstube hinauf.
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Ich war innerlich so fröhlich und unruhig, daß ich noch lange im Zimmer
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auf und nieder ging. Draußen wälzte der Wind schwere schwarze Wolken
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über den Schloßturm weg, man konnte kaum die nächsten Bergkoppen in
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der dicken Finsternis erkennen. Da kam es mir vor, als wenn ich im Garten
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unten Stimmen hörte. Ich löschte mein Licht aus und stellte mich ans
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Fenster. Die Stimmen schienen näher zu kommen, sprachen aber sehr leise
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miteinander. Auf einmal gab eine kleine Laterne, welche die eine Gestalt
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unterm Mantel trug, einen langen Schein. Ich erkannte nun den grämlichen
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Schloßverwalter und die alte Haushälterin. Das Licht blitzte über das
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Gesicht der Alten, das mir noch niemals so gräßlich vorgekommen war,
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und über ein langes Messer, das sie in der Hand hielt. Dabei konnte ich
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sehen, daß sie beide eben nach meinem Fenster hinaufsahen. Dann schlug
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der Verwalter seinen Mantel wieder dichter um, und es war bald alles
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wieder finster und still.
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Was wollen die, dachte ich, zu dieser Stunde noch draußen im Garten?
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Mich schauderte, denn es fielen mir alle Mordgeschichten ein, die ich in
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meinem Leben gehört hatte, von Hexen und Räubern, welche Menschen
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abschlachten, um ihre Herzen zu fressen. Indem ich noch so nachdenke,
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kommen Menschentritte, erst die Treppe herauf, dann auf dem langen
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Gange ganz leise, leise auf meine Tür zu, dabei war es, als wenn zuweilen
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Stimmen heimlich miteinander wisperten. Ich sprang schnell an das andere
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Ende der Stube hinter einen großen Tisch, den ich, sobald sich etwas
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rührte, vor mir aufheben und so mit aller Gewalt auf die Tür losrennen
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wollte. Aber in der Finsternis warf ich einen Stuhl um, daß es ein
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entsetzliches Gepolter gab. Da wurde es auf einmal ganz still draußen. Ich
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lauschte hinter dem Tisch und sah immerfort nach der Tür, als wenn ich sie
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mit den Augen durchstechen wollte, daß mir ordentlich die Augen zum
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Kopfe herausstanden. Als ich mich ein Weilchen wieder so ruhig verhalten
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hatte, daß man die Fliegen an der Wand hätte können gehen hören,
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vernahm ich, wie jemand von draußen ganz leise einen Schlüssel ins
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Schlüsselloch steckte. Ich wollte nun eben mit meinem Tische losfahren, da
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drehte es den Schlüssel langsam dreimal in der Tür um, zog ihn vorsichtig
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wieder heraus und schnurrte dann sachte über den Gang und die Treppe
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hinunter.
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Ich schöpfte nun tief Atem. Oho, dachte ich, da haben sie dich
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eingesperrt, damit sies kommode haben, wenn ich erst fest eingeschlafen
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bin. Ich untersuchte geschwind die Tür. Es war richtig, sie war fest
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verschlossen, ebenso die andere Tür, hinter der die hübsche bleiche Magd
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schlief. Das war noch niemals geschehen, solange ich auf dem Schlosse
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wohnte.
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Da saß ich nun in der Fremde gefangen! Die schöne Frau stand nun wohl
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an ihrem Fenster und sah über den stillen Garten nach der Landstraße
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hinaus, ob ich nicht schon am Zollhäuschen mit meiner Geige
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dahergestrichen komme, die Wolken flogen rasch über den Himmel, die Zeit
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verging – und ich konnte nicht fort von hier! Ach, mir war so weh im
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Herzen, ich wußte gar nicht mehr, was ich tun sollte. Dabei war mirs auch
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immer, wenn die Blätter draußen rauschten oder eine Ratte am Boden
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knusperte, als wäre die Alte durch eine verborgene Tapetentür heimlich
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hereingetreten und lauere und schleiche leise mit dem langen Messer
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durchs Zimmer.
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Als ich so voll Sorgen auf dem Bette saß, hörte ich auf einmal seit langer
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Zeit wieder die Nachtmusik unter meinen Fenstern. Bei dem ersten Klange
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der Gitarre war es mir nicht anders, als wenn mir ein Morgenstrahl plötzlich
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durch die Seele führe. Ich riß das Fenster auf und rief leise herunter, daß
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ich wach sei. «Pst, pst!» antwortete es von unten. Ich besann mich nun
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nicht lange, steckte das Briefchen und meine Geige zu mir, schwang mich
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aus dem Fenster und kletterte an der alten zersprungenen Mauer hinab,
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indem ich mich mit den Händen an den Sträuchern, die aus den Ritzen
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wuchsen, anhielt. Aber einige morsche Ziegel gaben nach, ich kam ins
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Rutschen, es ging immer rascher und rascher mit mir, bis ich endlich mit
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beiden Füßen aufplumpte, daß mirs im Gehirnkasten knisterte.
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Kaum war ich auf diese Art unten im Garten angekommen, so umarmte
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mich jemand mit solcher Vehemenz, daß ich laut aufschrie. Der gute Freund
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aber hielt mir schnell die Finger auf den Mund, faßte mich bei der Hand und
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führte mich dann aus dem Gesträuch ins Freie hinaus. Da erkannte ich mit
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Verwunderung den guten, langen Studenten, der die Gitarre an einem
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breiten, seidenen Bande um den Hals hängen hatte. – Ich beschrieb ihm
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nun in größter Geschwindigkeit, daß ich aus dem Garten hinaus wollte. Er
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schien aber das alles schon lange zu wissen und führte mich auf allerlei
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verdeckten Umwegen zu dem untern Tore in der hohen Gartenmauer. Aber
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da war nun auch das Tor wieder fest verschlossen! Doch der Student hatte
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auch das schon vorbedacht, er zog einen großen Schlüssel hervor und
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schloß behutsam auf.
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Als wir nun in den Wald hinaustraten und ich ihn eben noch um den
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besten Weg zur nächsten Stadt fragen wollte, stürzte er plötzlich vor mir
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auf ein Knie nieder, hob die eine Hand hoch in die Höhe und fing an zu
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fluchen und zu schwören, daß es entsetzlich anzuhören war. Ich wußte gar
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nicht, was er wollte, ich hörte nur immerfort: Idio und cuore und amore und
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furore! Als er aber am Ende gar anfing, auf beiden Knien schnell und immer
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näher auf mich zuzurutschen, da wurde mir auf einmal ganz grauslich, ich
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merkte wohl, daß er verrückt war, und rannte, ohne mich umzusehen, in
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den dicksten Wald hinein.
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Ich hörte nun den Studenten wie rasend hinter mir drein schreien. Bald
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darauf gab noch eine andre grobe Stimme vom Schlosse her Antwort. Ich
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dachte mir nun wohl, daß sie mich aufsuchen würden. Der Weg war mir
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unbekannt, die Nacht finster, ich konnte ihnen leicht wieder in die Hände
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fallen. Ich kletterte daher auf den Wipfel einer hohen Tanne hinauf, um
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bessere Gelegenheit abzuwarten.
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Von dort konnte ich hören, wie auf dem Schlosse eine Stimme nach der
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andern wach wurde. Einige Windlichter zeigten sich oben und warfen ihre
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wilden roten Scheine über das alte Gemäuer des Schlosses und weit vom
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Berge in die schwarze Nacht hinein. Ich befahl meine Seele dem lieben
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Gott, denn das verworrene Getümmel wurde immer lauter und näherte sich
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immer mehr und mehr. Endlich stürzte der Student mit einer Fackel unter
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meinem Baume vorüber, daß ihm die Rockschöße weit im Winde
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nachflogen. Dann schienen sie sich alle nach und nach auf eine andere
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Seite des Berges hinzuwenden, die Stimmen schallten immer ferner und
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ferner, und der Wind rauschte wieder durch den stillen Wald. Da stieg ich
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schnell von dem Baume herab und lief atemlos weiter in das Tal und die
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Nacht hinaus.