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Inhaltsverzeichnis

25. Kapitel

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Am andern Abend war Effi wieder in Berlin, und Innstetten empfing sie am
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Bahnhof, mit ihm Rollo, der, als sie plaudernd durch den Tiergarten
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hinfuhren, nebenher trabte.
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»Ich dachte schon, du würdest nicht Wort halten.«
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»Aber Geert, ich werde doch Wort halten, das ist doch das erste.«
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»Sage das nicht. Immer Wort halten ist sehr viel. Und mitunter kann man
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auch nicht. Denke doch zurück. Ich erwartete dich damals in Kessin, als du
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die Wohnung mietetest, und wer nicht kam, war Effi.«
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»Ja, das war was anderes.«
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Sie mochte nicht sagen »ich war krank«, und Innstetten hörte drüber hin.
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Er hatte seinen Kopf auch voll anderer Dinge, die sich auf sein Amt und
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seine gesellschaftliche Stellung bezogen. »Eigentlich, Effi, fängt unser
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Berliner Leben nun erst an. Als wir im April hier einzogen, damals ging es
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mit der Saison auf die Neige, kaum noch, daß wir unsere Besuche machen
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konnten, und Wüllersdorf, der einzige, dem wir naherstanden – nun, der ist
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leider Junggeselle. Von Juni an schläft dann alles ein, und die
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heruntergelassenen Rollos verkünden einem schon auf hundert Schritt
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Alles ausgeflogen'; ob wahr oder nicht, macht keinen Unterschied ... Ja,
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was blieb da noch? Mal mit Vetter Briest sprechen, mal bei Hiller essen, das
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ist kein richtiges Berliner Leben. Aber nun soll es anders werden. Ich habe
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mir die Namen aller Räte notiert, die noch mobil genug sind, um ein Haus
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zu machen. Und wir wollen es auch, wollen auch ein Haus machen, und
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wenn der Winter dann da ist, dann soll es im ganzen Ministerium heißen:
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Ja, die liebenswürdigste Frau, die wir jetzt haben, das ist doch die Frau von
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Innstetten.'«
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»Ach, Geert, ich kenne dich ja gar nicht wieder, du sprichst ja wie ein
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Courmacher.«
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»Es ist unser Hochzeitstag, und da mußt du mir schon was zugute
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halten.«
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Innstetten war ernsthaft gewillt, auf das stille Leben, das er in seiner
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landrätlichen Stellung geführt, ein gesellschaftlich angeregteres folgen zu
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lassen, um seinet- und noch mehr um Effis willen; es ließ sich aber anfangs
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nur schwach und vereinzelt damit an, die rechte Zeit war noch nicht
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gekommen, und das Beste, was man zunächst von dem neuen Leben hatte,
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war genauso wie während des zurückliegenden Halbjahres ein Leben im
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Hause. Wüllersdorf kam oft, auch Vetter Briest, und waren die da, so
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schickte man zu Gizickis hinauf, einem jungen Ehepaar, das über ihnen
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wohnte. Gizicki selbst war Landgerichtsrat, seine kluge, aufgeweckte Frau
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ein Fräulein von Schmettau. Mitunter wurde musiziert, kurze Zeit sogar ein
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Whist versucht; man gab es aber wieder auf, weil man fand, daß eine
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Plauderei gemütlicher wäre. Gizickis hatten bis vor kurzem in einer kleinen
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oberschlesischen Stadt gelebt, und Wüllersdorf war sogar, freilich vor einer
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Reihe von Jahren schon, in den verschiedensten kleinen Nestern der
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Provinz Posen gewesen, weshalb er denn auch den bekannten Spottvers:
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Schrimm
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Ist schlimm,
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Rogasen
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Zum Rasen,
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Aber weh dir nach Samter
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Verdammter –
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mit ebensoviel Emphase wie Vorliebe zu zitieren pflegte.
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Niemand erheiterte sich dabei mehr als Effi, was dann meistens
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Veranlassung wurde, kleinstädtische Geschichten in Hülle und Fülle folgen
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zu lassen. Auch Kessin mit Gieshübler und der Trippelli, Oberförster Ring
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und Sidonie Grasenabb kam dann wohl an die Reihe, wobei sich Innstetten,
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wenn er guter Laune war, nicht leicht genugtun konnte. »Ja«, so hieß es
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dann wohl, »unser gutes Kessin! Das muß ich zugeben, es war eigentlich
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reich an Figuren, obenan Crampas, Major Crampas, ganz Beau und halber
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Barbarossa, den meine Frau, ich weiß nicht, soll ich sagen unbegreiflicheroder
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begreiflicherweise, stark in Affektion genommen hatte ...«
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»Sagen wir begreiflicherweise«, warf Wüllersdorf ein, »denn ich nehme
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an, daß er Ressourcenvorstand war und Komödie spielte, Liebhaber oder
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Bonvivants. Und vielleicht noch mehr, vielleicht war er auch ein Tenor.«
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Innstetten bestätigte das eine wie das andere, und Effi suchte lachend
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darauf einzugehen, aber es gelang ihr nur mit Anstrengung, und wenn dann
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die Gäste gingen und Innstetten sich in sein Zimmer zurückzog, um noch
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einen Stoß Akten abzuarbeiten, so fühlte sie sich immer aufs neue von den
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alten Vorstellungen gequält, und es war ihr zu Sinn, als ob ihr ein Schatten
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nachginge.
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Solche Beängstigungen blieben ihr auch. Aber sie kamen doch seltener
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und schwächer, was bei der Art, wie sich ihr Leben gestaltete, nicht
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wundernehmen konnte. Die Liebe, mit der ihr nicht nur Innstetten, sondern
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auch fernerstehende Personen begegneten, und nicht zum wenigsten die
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beinah zärtliche Freundschaft, die die Ministerin, eine selbst noch junge
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Frau, für sie an den Tag legte – all das ließ die Sorgen und Ängste
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zurückliegender Tage sich wenigstens mindern, und als ein zweites Jahr
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ins Land gegangen war und die Kaiserin, bei Gelegenheit einer neuen
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Stiftung, die »Frau Geheimrätin« mit ausgewählt und in die Zahl der
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Ehrendamen eingereiht, der alte Kaiser Wilhelm aber auf dem Hofball
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gnädige, huldvolle Worte an die schöne junge Frau, von der er schon
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gehört habe, gerichtet hatte, da fiel es allmählich von ihr ab. Es war einmal
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gewesen, aber weit, weit weg, wie auf einem andern Stern, und alles löste
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sich wie ein Nebelbild und wurde Traum.
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Die Hohen-Cremmener kamen dann und wann auf Besuch und freuten
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sich des Glücks der Kinder, Annie wuchs heran – »schön wie die
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Großmutter«, sagte der alte Briest –, und wenn es an dem klaren Himmel
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eine Wolke gab, so war es die, daß es, wie man nun beinahe annehmen
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mußte, bei Klein Annie sein Bewenden haben werde; Haus Innstetten (denn
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es gab nicht einmal Namensvettern) stand also mutmaßlich auf dem
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Aussterbeetat. Briest, der den Fortbestand anderer Familien obenhin
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behandelte, weil er eigentlich nur an die Briests glaubte, scherzte mitunter
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darüber und sagte: »Ja, Innstetten, wenn das so weitergeht, so wird Annie
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seinerzeit wohl einen Bankier heiraten (hoffentlich einen christlichen,
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wenn's deren dann noch gibt), und mit Rücksicht auf das alte freiherrliche
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Geschlecht der Innstetten wird dann Seine Majestät Annies
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Haute-finance-Kinder unter dem Namen 'von der Innstetten' im Gothaischen
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Kalender, oder was weniger wichtig ist, in der preußischen Geschichte
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fortleben lassen.«
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- Ausführungen, die von Innstetten selbst immer mit einer kleinen
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Verlegenheit, von Frau von Briest mit Achselzucken, von Effi dagegen mit
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Heiterkeit aufgenommen wurden. Denn so adelsstolz sie war, so war sie's
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doch nur für ihre Person, und ein eleganter und welterfahrener und vor
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allem sehr, sehr reicher Bankierschwiegersohn wäre durchaus nicht gegen
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ihre Wünsche gewesen.
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Ja, Effi nahm die Erbfolgefrage leicht, wie junge, reizende Frauen das tun;
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als aber eine lange, lange Zeit – sie waren schon im siebenten Jahr in ihrer
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neuen Stellung – vergangen war, wurde der alte Rummschüttel, der auf dem
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Gebiet der Gynäkologie nicht ganz ohne Ruf war, durch Frau von Briest
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doch schließlich zu Rate gezogen. Er verordnete Schwalbach. Weil aber Effi
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seit letztem Winter auch an katarrhalischen Affektionen litt und ein paarmal
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sogar auf Lunge hin behorcht worden war, so hieß es abschließend: »Also
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zunächst Schwalbach, meine Gnädigste, sagen wir drei Wochen, und dann
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ebensolange Ems. Bei der Emser Kur kann aber der Geheimrat zugegen
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sein. Bedeutet mithin alles in allem drei Wochen Trennung. Mehr kann ich
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für Sie nicht tun, lieber Innstetten.«
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Damit war man denn auch einverstanden, und zwar sollte Effi, dahin ging
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ein weiterer Beschluß, die Reise mit einer Geheimrätin Zwicker zusammen
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machen, wie Briest sagte, »zum Schutz dieser letzteren«, worin er nicht
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ganz unrecht hatte, da die Zwicker, trotz guter Vierzig, eines Schutzes
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erheblich bedürftiger war als Effi Innstetten, der wieder viel mit Vertretung
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zu tun hatte, beklagte, daß er, von Schwalbach gar nicht zu reden,
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wahrscheinlich auch auf gemeinschaftliche Tage in Ems werde verzichten
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müssen. Im übrigen wurde der 24. Juni (Johannistag) als Abreisetag
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festgesetzt, und Roswitha half der gnädigen Frau beim Packen und
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Aufschreiben der Wäsche. Effi hatte noch immer die alte Liebe für sie, war
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doch Roswitha die einzige, mit der sie von all dem Zurückliegenden, von
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Kessin und Crampas, von dem Chinesen und Kapitän Thomsens Nichte frei
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und unbefangen reden konnte.
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»Sage, Roswitha, du bist doch eigentlich katholisch. Gehst du denn nie
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zur Beichte?«
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»Nein. «
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»Warum nicht?«
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»Ich bin früher gegangen. Aber das Richtige hab ich doch nicht gesagt.«
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»Das ist sehr unrecht. Dann freilich kann es nicht helfen.«
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»Ach, gnädigste Frau, bei mir im Dorf machten es alle so. Und welche
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waren, die kicherten bloß.«
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»Hast du denn nie empfunden, daß es ein Glück ist, wenn man etwas auf
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der Seele hat, daß es runter kann?«
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»Nein, gnädigste Frau. Angst habe ich wohl gehabt, als mein Vater
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damals mit dem glühenden Eisen auf mich loskam; ja, das war eine große
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Furcht, aber weiter war es nichts.«
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»Nicht vor Gott?«
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»Nicht so recht, gnädigste Frau. Wenn man sich vor seinem Vater so
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fürchtet, wie ich mich gefürchtet habe, dann fürchtet man sich nicht so sehr
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vor Gott. Ich habe bloß immer gedacht, der liebe Gott sei gut und werde mir
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armem Wurm schon helfen.«
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Effi lächelte und brach ab und fand es auch natürlich, daß die arme
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Roswitha so sprach, wie sie sprach. Sie sagte aber doch: »Weißt du,
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Roswitha, wenn ich wiederkomme, müssen wir doch noch mal ernstlich
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drüber reden. Es war doch eigentlich eine große Sünde.«
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»Das mit dem Kinde und daß es verhungert ist? Ja, gnädigste Frau, das
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war es. Aber ich war es ja nicht, das waren ja die anderen ... Und dann ist
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es auch schon so sehr lange her.«

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