Erster Auftritt
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Szene: in Nathans Hause.
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Recha und Daja.
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Recha:
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Wie, Daja, drückte sich mein Vater aus?
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»Ich dürf' ihn jeden Augenblick erwarten?«
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Das klingt nicht wahr? als ob er noch so bald
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Erscheinen werde. Wieviel Augenblicke
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Sind aber schon vorbei! Ah nun: wer denkt
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An die verflossenen? Ich will allein
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In jedem nächsten Augenblicke leben.
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Er wird doch einmal kommen, der ihn bringt.
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Daja:
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O der verwünschten Botschaft von dem Sultan!
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Denn Nathan hätte sicher ohne sie
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Ihn gleich mit hergebracht.
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Recha:
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Und wenn er nun
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Gekommen, dieser Augenblick; wenn denn
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Nun meiner Wünsche wärmster, innigster
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Erfüllet ist: was dann? was dann?
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Daja:
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Was dann?
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Dann hoff ich, daß auch meiner Wünsche wärmster
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Soll in Erfüllung gehen.
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Recha:
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Was wird dann
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In meiner Brust an dessen Stelle treten,
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Die schon verlernt, ohn' einen herrschenden
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Wunsch aller Wünsche sich zu dehnen? Nichts?
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Ah, ich erschrecke! ...
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Daja:
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Mein, mein Wunsch wird dann
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An des erfüllten Stelle treten; meiner.
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Mein Wunsch, dich in Europa, dich in Händen
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Zu wissen, welche deiner würdig sind.
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Recha:
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Du irrst. Was diesen Wunsch zu deinem macht,
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Das nämliche verhindert, daß er meiner
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Je werden kann. Dich zieht dein Vaterland:
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Und meines, meines sollte mich nicht halten?
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Ein Bild der Deinen, das in deiner Seele
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Noch nicht verloschen, sollte mehr vermögen,
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Als die ich sehn, und greifen kann, und hören,
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Die Meinen?
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Daja:
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Sperre dich, soviel du willst!
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Des Himmels Wege sind des Himmels Wege.
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Und wenn es nun dein Retter selber wäre,
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Durch den sein Gott, für den er kämpft, dich in
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Das Land, dich zu dem Volke führen wollte,
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Für welche du geboren wurdest?
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Recha:
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Daja!
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Was sprichst du da nun wieder, liebe Daja!
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Du hast doch wahrlich deine sonderbaren
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Begriffe! »Sein, sein Gott! für den er kämpft!«
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Wem eignet Gott? was ist das für ein Gott,
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Der einem Menschen eignet? der für sich
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Muß kämpfen lassen? Und wie weiß
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Man denn, für welchen Erdkloß man geboren,
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Wenn man's für den nicht ist, auf welchem man
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Geboren? Wenn mein Vater dich so hörte!
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Was tat er dir, mir immer nur mein Glück
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So weit von ihm als möglich vorzuspiegeln?
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Was tat er dir, den Samen der Vernunft,
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Den er so rein in meine Seele streute,
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Mit deines Landes Unkraut oder Blumen
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So gern zu mischen? Liebe, liebe Daja,
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Er will nun deine bunten Blumen nicht
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Auf meinem Boden! Und ich muß dir sagen,
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Ich selber fühle meinen Boden, wenn
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Sie noch so schön ihn kleiden, so entkräftet,
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So ausgezehrt durch deine Blume; fühle
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In ihrem Dufte, sauersüßem Dufte,
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Mich so betäubt, so schwindelnd! Dein Gehirn
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Ist dessen mehr gewohnt. Ich tadle drum
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Die stärkern Nerven nicht, die ihn vertragen.
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Nur schlägt er mir nicht zu; und schon dein Engel,
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Wie wenig fehlte, daß er mich zur Närrin
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Gemacht? Noch schäm ich mich vor meinem Vater
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Der Posse!
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Daja:
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Posse! Als ob der Verstand
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Nur hier zu Hause wäre! Posse! Posse!
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Wenn ich nur reden dürfte!
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Recha:
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Darfst du nicht?
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Wenn war ich nicht ganz Ohr, sooft es dir
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Gefiel, von deinen Glaubenshelden mich
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Zu unterhalten? Hab ich ihren Taten
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Nicht stets Bewunderung; und ihren Leiden
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Nicht immer Tränen gern gezollt? Ihr Glaube
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Schien freilich mir das Heldenmäßigste
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An ihnen nie. Doch so viel tröstender
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War mir die Lehre, daß Ergebenheit
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In Gott von unserm Wähnen über Gott
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So ganz und gar nicht abhängt. Liebe Daja,
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Das hat mein Vater uns so oft gesagt;
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Darüber hast du selbst mit ihm so oft
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Dich einverstanden: warum untergräbst
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Du denn allein, was du mit ihm zugleich
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Gebauet? Liebe Daja, das ist kein
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Gespräch, womit wir unserm Freund' am besten
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Entgegensehn. Für mich zwar, ja! Denn mir,
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Mir liegt daran unendlich, ob auch er ...
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Horch, Daja! Kommt es nicht an unsre Türe?
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Wenn Er es wäre! horch!