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Inhaltsverzeichnis

Sechster Auftritt

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Marinelli. Der Prinz.
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Marinelli: Gnädiger Herr, Sie werden verzeihen. – Ich war mir eines so
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frühen Befehls nicht gewärtig.
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Der Prinz: Ich bekam Lust, auszufahren. Der Morgen war so schön. – Aber
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nun ist er ja wohl verstrichen; und die Lust ist mir vergangen. – (Nach
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einem kurzen Stillschweigen.) Was haben wir Neues, Marinelli?
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Marinelli: Nichts von Belang, das ich wüßte. – Die Gräfin Orsina ist gestern
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zur Stadt gekommen.
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Der Prinz: Hier liegt auch schon ihr guter Morgen (auf ihren Brief zeigend)
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oder was es sonst sein mag! Ich bin gar nicht neugierig darauf. – Sie
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haben sie gesprochen?
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Marinelli: Bin ich, leider, nicht ihr Vertrauter? – Aber, wenn ich es wieder
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von einer Dame werde, der es einkömmt, Sie in gutem Ernste zu lieben,
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Prinz: so – –
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Der Prinz: Nichts verschworen, Marinelli!
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Marinelli: Ja? In der Tat, Prinz? Könnt' es doch kommen? – Oh! so mag die
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Gräfin auch so unrecht nicht haben.
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Der Prinz: Allerdings, sehr unrecht! – Meine nahe Vermählung mit der
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Prinzessin von Massa will durchaus, daß ich alle dergleichen Händel
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fürs erste abbreche.
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Marinelli: Wenn es nur das wäre: so müßte freilich Orsina sich in ihr
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Schicksal ebensowohl zu finden wissen als der Prinz in seines.
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Der Prinz: Das unstreitig härter ist als ihres. Mein Herz wird das Opfer eines
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elenden Staatsinteresse. Ihres darf sie nur zurücknehmen, aber nicht
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wider Willen verschenken.
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Marinelli: Zurücknehmen? Warum zurücknehmen? fragt die Gräfin: wenn
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es weiter nichts als eine Gemahlin ist, die dem Prinzen nicht die Liebe,
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sondern die Politik zuführet? Neben so einer Gemahlin sieht die
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Geliebte noch immer ihren Platz. Nicht so einer Gemahlin fürchtet sie
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aufgeopfert zu sein, sondern – –
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Der Prinz: Einer neuen Geliebten. – Nun denn? Wollten Sie mir daraus ein
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Verbrechen machen, Marinelli?
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Marinelli: Ich? – Oh! vermengen Sie mich ja nicht, mein Prinz, mit der
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Närrin, deren Wort ich führe – aus Mitleid führe. Denn gestern, wahrlich,
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hat sie mich sonderbar gerühret. Sie wollte von ihrer Angelegenheit mit
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Ihnen gar nicht sprechen. Sie wollte sich ganz gelassen und kalt stellen.
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Aber mitten in dem gleichgültigsten Gespräche entfuhr ihr eine
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Wendung, eine Beziehung über die andere, die ihr gefoltertes Herz
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verriet. Mit dem lustigsten Wesen sagte sie die melancholischsten
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Dinge: und wiederum die lächerlichsten Possen mit der allertraurigsten
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Miene. Sie hat zu den Büchern ihre Zuflucht genommen; und ich
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fürchte, die werden ihr den Rest geben.
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Der Prinz: So wie sie ihrem armen Verstande auch den ersten Stoß
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gegeben. – Aber was mich vornehmlich mit von ihr entfernt hat, das
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wollen Sie doch nicht brauchen, Marinelli, mich wieder zu ihr
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zurückzubringen? – Wenn sie aus Liebe närrisch wird, so wäre sie es,
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früher oder später, auch ohne Liebe geworden – Und nun, genug von
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ihr. – Von etwas andern! – Geht denn gar nichts vor in der Stadt? –
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Marinelli: So gut wie gar nichts. – Denn daß die Verbindung des Grafen
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Appiani heute vollzogen wird – ist nicht viel mehr als gar nichts.
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Der Prinz: Des Grafen Appiani? und mit wem denn? – Ich soll ja noch
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hören, daß er versprochen ist.
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Marinelli: Die Sache ist sehr geheimgehalten worden. Auch war nicht viel
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Aufhebens davon zu machen. – Sie werden lachen, Prinz. – Aber so
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geht es den Empfindsamen! Die Liebe spielet ihnen immer die
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schlimmsten Streiche. Ein Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang
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hat ihn in ihre Schlinge zu ziehen gewußt – mit ein wenig Larve, aber
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mit vielem Prunke von Tugend und Gefühl und Witz – und was weiß
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ich?
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Der Prinz: Wer sich den Eindrücken, die Unschuld und Schönheit auf ihn
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machen, ohne weitere Rücksicht, so ganz überlassen darf – ich dächte,
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der wäre eher zu beneiden als zu belachen. – Und wie heißt denn die
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Glückliche? Denn bei alledem ist Appiani – ich weiß wohl, daß Sie,
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Marinelli, ihn nicht leiden können; ebensowenig als er Sie –, bei alledem
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ist er doch ein sehr würdiger junger Mann, ein schöner Mann, ein
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reicher Mann, ein Mann voller Ehre. Ich hätte sehr gewünscht, ihn mir
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verbinden zu können. Ich werde noch darauf denken.
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Marinelli: Wenn es nicht zu spät ist. – Denn soviel ich höre, ist sein Plan gar
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nicht, bei Hofe sein Glück zu machen. – Er will mit seiner Gebieterin
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nach seinen Tälern von Piemont – Gemsen zu jagen, auf den Alpen,
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und Murmeltiere abzurichten. – Was kann er Besseres tun? Hier ist es
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durch das Mißbündnis, welches er trifft, mit ihm doch aus. Der Zirkel der
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ersten Häuser ist ihm von nun an verschlossen – –
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Der Prinz: Mit euren ersten Häusern! – in welchen das Zeremoniell, der
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Zwang, die Langeweile und nicht selten die Dürftigkeit herrschet. – Aber
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so nennen Sie mir sie doch, der er dieses so große Opfer bringt.
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Marinelli: Es ist eine gewisse Emilia Galotti.
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Der Prinz: Wie, Marinelli? eine gewisse –
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Marinelli: Emilia Galotti.
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Der Prinz: Emilia Galotti? – Nimmermehr!
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Marinelli: Zuverlässig, gnädiger Herr.
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Der Prinz: Nein, sag ich; das ist nicht, das kann nicht sein. – Sie irren sich
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in dem Namen. – Das Geschlecht der Galotti ist groß. – Eine Galotti
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kann es sein: aber nicht Emilia Galotti, nicht Emilia!
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Marinelli: Emilia – Emilia Galotti!
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Der Prinz: So gibt es noch eine, die beide Namen führt. – Sie sagten
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ohnedem, eine gewisse Emilia Galotti – eine gewisse. Von der rechten
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kann nur ein Narr so sprechen –
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Marinelli: Sie sind außer sich, gnädiger Herr. – Kennen Sie denn diese
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Emilia?
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Der Prinz: Ich habe zu fragen, Marinelli, nicht Er. – Emilia Galotti? Die
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Tochter des Obersten Galotti, bei Sabionetta?
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Marinelli: Eben die.
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Der Prinz: Die hier in Guastalla mit ihrer Mutter wohnet?
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Marinelli: Eben die.
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Der Prinz: Unfern der Kirche Allerheiligen?
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Marinelli: Eben die.
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Der Prinz: Mit einem Worte – (Indem er nach dem Porträte springt und es
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dem Marinelli in die Hand gibt.) Da! – Diese? Diese Emilia Galotti? –
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Sprich dein verdammtes »Ebendie« noch einmal und stoß mir den
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Dolch ins Herz!
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Marinelli: Eben die!
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Der Prinz: Henker! – Diese? – Diese Emilia Galotti wird heute – –
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Marinelli: Gräfin Appiani! – (Hier reißt der Prinz dem Marinelli das Bild
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wieder aus der Hand und wirft es beiseite.) Die Trauung geschiehet in
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der Stille, auf dem Landgute des Vaters bei Sabionetta. Gegen Mittag
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fahren Mutter und Tochter, der Graf und vielleicht ein paar Freunde
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dahin ab.
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Der Prinz (der sich voll Verzweiflung in einen Stuhl wirft): So bin ich
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verloren! – So will ich nicht leben!
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Marinelli: Aber was ist Ihnen, gnädiger Herr?
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Der Prinz (der gegen ihn wieder aufspringt): Verräter! – was mir ist? – Nun
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ja, ich liebe sie; ich bete sie an. Mögt ihr es doch wissen! Mögt ihr es
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doch längst gewußt haben, alle ihr, denen ich der tollen Orsina
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schimpfliche Fesseln lieber ewig tragen sollte! – Nur daß Sie, Marinelli,
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der Sie so oft mich Ihrer innigsten Freundschaft versicherten – O ein
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Fürst hat keinen Freund! kann keinen Freund haben! –, daß Sie, Sie, so
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treulos, so hämisch mir bis auf diesen Augenblick die Gefahr verhehlen
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dürfen, die meiner Liebe drohte: wenn ich Ihnen jemals das vergebe –
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so werde mir meiner Sünden keine vergeben!
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Marinelli: Ich weiß kaum Worte zu finden, Prinz – wenn Sie mich auch dazu
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kommen ließen –, Ihnen mein Erstaunen zu bezeigen. – Sie lieben
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Emilia Galotti! – Schwur dann gegen Schwur: Wenn ich von dieser
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Liebe das geringste gewußt, das geringste vermutet habe, so möge
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weder Engel noch Heiliger von mir wissen! – Eben das wollt' ich in die
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Seele der Orsina schwören. Ihr Verdacht schweift auf einer ganz
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andern Fährte.
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Der Prinz: So verzeihen Sie mir, Marinelli – (indem er sich ihm in die Arme
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wirft) und bedaueren Sie mich.
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Marinelli: Nun da, Prinz! Erkennen Sie da die Frucht Ihrer Zurückhaltung! –
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»Fürsten haben keinen Freund! können keinen Freund haben!« – Und
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die Ursache, wenn dem so ist? – Weil sie keinen haben wollen. – Heute
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beehren sie uns mit ihrem Vertrauen, teilen uns ihre geheimsten
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Wünsche mit, schließen uns ihre ganze Seele auf: und morgen sind wir
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ihnen wieder so fremd, als hätten sie nie ein Wort mit uns gewechselt.
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Der Prinz: Ah! Marinelli, wie konnt' ich Ihnen vertrauen, was ich mir selbst
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kaum gestehen wollte?
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Marinelli: Und also wohl noch weniger der Urheberin Ihrer Qual gestanden
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haben?
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Der Prinz: Ihr? – Alle meine Mühe ist vergebens gewesen, sie ein zweites
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Mal zu sprechen. –
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Marinelli: Und das erstemal –
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Der Prinz: Sprach ich sie – Oh, ich komme von Sinnen! Und ich soll Ihnen
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noch lange erzählen? – Sie sehen mich einen Raub der Wellen: was
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fragen Sie viel, wie ich es geworden? Retten Sie mich, wenn Sie
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können: und fragen Sie dann.
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Marinelli: Retten? ist da viel zu retten? – Was Sie versäumt haben,
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gnädiger Herr, der Emilia Galotti zu bekennen, das bekennen Sie nun
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der Gräfin Appiani. Waren, die man aus der ersten Hand nicht haben
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kann, kauft man aus der zweiten: – und solche Waren nicht selten aus
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der zweiten um so viel wohlfeiler.
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Der Prinz: Ernsthaft, Marinelli, ernsthaft, oder –
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Marinelli: Freilich, auch um so viel schlechter – –
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Der Prinz: Sie werden unverschämt!
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Marinelli: Und dazu will der Graf damit aus dem Lande. – Ja, so müßte man
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auf etwas anders denken. –
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Der Prinz: Und auf was? – Liebster, bester Marinelli, denken Sie für mich.
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Was würden Sie tun, wenn Sie an meiner Stelle wären?
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Marinelli: Vor allen Dingen eine Kleinigkeit als eine Kleinigkeit ansehen –
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und mir sagen, daß ich nicht vergebens sein wolle, was ich bin – Herr!
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Der Prinz: Schmeicheln Sie mir nicht mit einer Gewalt, von der ich hier
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keinen Gebrauch absehe. – Heute, sagen Sie? schon heute?
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Marinelli: Erst heute – soll es geschehen. Und nur geschehenen Dingen ist
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nicht zu raten. – (Nach einer kurzen Überlegung.) Wollen Sie mir freie
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Hand lassen, Prinz? Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue?
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Der Prinz: Alles, Marinelli, alles, was diesen Streich abwenden kann.
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Marinelli: So lassen Sie uns keine Zeit verlieren. – Aber bleiben Sie nicht in
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der Stadt. Fahren Sie sogleich nach Ihrem Lustschlosse, nach Dosalo.
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Der Weg nach Sabionetta geht da vorbei. Wenn es mir nicht gelingt,
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den Grafen augenblicklich zu entfernen: so denk ich – Doch, doch; ich
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glaube, er geht in diese Falle gewiß. Sie wollen, Prinz, wegen Ihrer
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Vermählung einen Gesandten nach Massa schicken? Lassen Sie den
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Grafen dieser Gesandte sein; mit dem Bedinge, daß er noch heute
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abreiset. – Verstehen Sie?
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Der Prinz: Vortrefflich! – Bringen Sie ihn zu mir heraus. Gehen Sie, eilen
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Sie. Ich werfe mich sogleich in den Wagen. (Marinelli geht ab.)

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