Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben LF
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

Erster Auftritt

2
Orest. Pylades.
3
4
Orest: Es ist der Weg des Todes, den wir treten:
5
Mit jedem Schritt wird meine Seele stiller.
6
Als ich Apollen bat, das gräßliche
7
Geleit der Rachegeister von der Seite
8
Mir abzunehmen; schien er Hülf und Rettung
9
Im Tempel seiner vielgeliebten Schwester,
10
Die über Tauris herrscht, mit hoffnungsreichen,
11
Gewissen Götterworten zu versprechen;
12
Und nun erfüllet sich's, daß alle Not
13
Mit meinem Leben völlig enden soll.
14
Wie leicht wird's mir, dem eine Götterhand
15
Das Herz zusammendrückt, den Sinn betäubt,
16
Dem schönen Licht der Sonne zu entsagen.
17
Und sollen Atreus' Enkel in der Schlacht
18
Ein siegbekröntes Ende nicht gewinnen,
19
Soll ich wie meine Ahnen, wie mein Vater
20
Als Opfertier im Jammertode bluten:
21
So sei es! Besser hier vor dem Altar
22
Als im verworfnen Winkel, wo die Netze
23
Der nahverwandte Meuchelmörder stellt.
24
Laßt mir so lange Ruh, ihr Unterird'schen,
25
Die nach dem Blut ihr, das von meinen Tritten
26
Herniederträufelnd meinen Pfad bezeichnet,
27
Wie losgelaßne Hunde spürend hetzt!
28
Laßt mich, ich komme bald zu euch hinab;
29
Das Licht des Tags soll euch nicht sehn noch mich.
30
Der Erde schöner grüner Teppich soll
31
Kein Tummelplatz für Larven sein. Dort unten
32
Such ich euch auf: dort bindet alle dann
33
Ein gleich Geschick in ew'ge matte Nacht.
34
Nur dich, mein Pylades, dich, meiner Schuld
35
Und meines Banns unschuldigen Genossen,
36
Wie ungern nehm ich dich in jenes Trauerland
37
Frühzeitig mit! Dein Leben oder Tod
38
Gibt mir allein noch Hoffnung oder Furcht.
39
40
Pylades: Ich bin noch nicht, Orest, wie du bereit,
41
In jenes Schattenreich hinabzugehn.
42
Ich sinne noch, durch die verworrnen Pfade,
43
Die nach der schwarzen Nacht zu führen scheinen,
44
Uns zu dem Leben wieder aufzuwinden.
45
Ich denke nicht den Tod; ich sinn und horche,
46
Ob nicht zu irgendeiner frohen Flucht
47
Die Götter Rat und Wege zubereiten.
48
Der Tod, gefürchtet oder ungefürchtet,
49
Kommt unaufhaltsam. Wenn die Priesterin
50
Schon, unsre Locken weihend abzuschneiden,
51
Die Hand erhebt, soll dein' und meine Rettung
52
Mein einziger Gedanke sein. Erhebe
53
Von diesem Unmut deine Seele; zweifelnd
54
Beschleunigest du die Gefahr. Apoll
55
Gab uns das Wort: im Heiligtum der Schwester
56
Sei Trost und Hülf und Rückkehr dir bereitet.
57
Der Götter Worte sind nicht doppelsinnig,
58
Wie der Gedrückte sie im Unmut wähnt.
59
60
Orest: Des Lebens dunkle Decke breitete
61
Die Mutter schon mir um das zarte Haupt,
62
Und so wuchs ich herauf, ein Ebenbild
63
Des Vaters, und es war mein stummer Blick
64
Ein bittrer Vorwurf ihr und ihrem Buhlen.
65
Wie oft, wenn still Elektra, meine Schwester,
66
Am Feuer in der tiefen Halle saß,
67
Drängt ich beklommen mich an ihren Schoß
68
Und starrte, wie sie bitter weinte, sie
69
Mit großen Augen an. Dann sagte sie
70
Von unserm hohen Vater viel: wie sehr
71
Verlangt ich, ihn zu sehn, bei ihm zu sein!
72
Mich wünscht ich bald nach Troja, ihn bald her.
73
Es kam der Tag –
74
75
Pylades: O laß von jener Stunde
76
Sich Höllengeister nächtlich unterhalten!
77
Uns gebe die Erinnrung schöner Zeit
78
Zu frischem Heldenlaufe neue Kraft.
79
Die Götter brauchen manchen guten Mann
80
Zu ihrem Dienst auf dieser weiten Erde.
81
Sie haben noch auf dich gezählt; sie gaben
82
Dich nicht dem Vater zum Geleite mit,
83
Da er unwillig nach dem Orkus ging.
84
85
Orest: O wär ich, seinen Saum ergreifend, ihm
86
Gefolgt!
87
88
Pylades: So haben die, die dich erhielten,
89
Für mich gesorgt: denn was ich worden wäre,
90
Wenn du nicht lebtest, kann ich mir nicht denken,
91
Da ich mit dir und deinetwillen nur
92
Seit meiner Kindheit leb und leben mag.
93
94
Orest: Erinnre mich nicht jener schönen Tage,
95
Da mir dein Haus die freie Stätte gab,
96
Dein edler Vater klug und liebevoll
97
Die halberstarrte junge Blüte pflegte;
98
Da du, ein immer munterer Geselle,
99
Gleich einem leichten bunten Schmetterling
100
Um eine dunkle Blume, jeden Tag
101
Um mich mit neuem Leben gaukeltest,
102
Mir deine Lust in meine Seele spieltest,
103
Daß ich, vergessend meiner Not, mit dir
104
In rascher Jugend hingerissen schwärmte.
105
106
Pylades: Da fing mein Leben an, als ich dich liebte.
107
108
Orest: Sag: Meine Not begann, und du sprichst wahr.
109
Das ist das Ängstliche von meinem Schicksal,
110
Daß ich wie ein verpesteter Vertriebner
111
Geheimen Schmerz und Tod im Busen trage;
112
Daß, wo ich den gesundsten Ort betrete,
113
Gar bald um mich die blühenden Gesichter
114
Den Schmerzenszug langsamen Tods verraten.
115
116
Pylades: Der Nächste wär ich, diesen Tod zu sterben,
117
Wenn je dein Hauch, Orest, vergiftete.
118
Bin ich nicht immer noch voll Mut und Lust?
119
Und Lust und Liebe sind die Fittiche
120
Zu großen Taten.
121
122
Orest: Große Taten? Ja,
123
Ich weiß die Zeit, da wir sie vor uns sahn!
124
Wenn wir zusammen oft dem Wilde nach
125
Durch Berg' und Täler rannten und dereinst,
126
An Brust und Faust dem hohen Ahnherrn gleich,
127
Mit Keul und Schwert dem Ungeheuer so,
128
Dem Räuber auf der Spur zu jagen hofften;
129
Und dann wir abends an der weiten See
130
Uns aneinanderlehnend ruhig saßen,
131
Die Wellen bis zu unsern Füßen spielten,
132
Die Welt so weit, so offen vor uns lag:
133
Da fuhr wohl einer manchmal nach dem Schwert,
134
Und künft'ge Taten drangen wie die Sterne
135
Rings um uns her unzählig aus der Nacht.
136
137
Pylades: Unendlich ist das Werk, das zu vollführen
138
Die Seele dringt. Wir möchten jede Tat
139
So groß gleich tun, als wie sie wächst und wird,
140
Wenn jahrelang durch Länder und Geschlechter
141
Der Mund der Dichter sie vermehrend wälzt.
142
Es klingt so schön, was unsre Väter taten,
143
Wenn es, in stillen Abendschatten ruhend,
144
Der Jüngling mit dem Ton der Harfe schlürft;
145
Und was wir tun, ist, wie es ihnen war,
146
Voll Müh und eitel Stückwerk!
147
So laufen wir nach dem, was vor uns flieht,
148
Und achten nicht des Weges, den wir treten,
149
Und sehen neben uns der Ahnherrn Tritte
150
Und ihres Erdelebens Spuren kaum.
151
Wir eilen immer ihrem Schatten nach,
152
Der göttergleich in einer weiten Ferne
153
Der Berge Haupt auf goldnen Wolken krönt.
154
Ich halte nichts von dem, der von sich denkt,
155
Wie ihn das Volk vielleicht erheben möchte.
156
Allein, o Jüngling, danke du den Göttern,
157
Daß sie so früh durch dich so viel getan.
158
159
Orest: Wenn sie dem Menschen frohe Tat bescheren,
160
Daß er ein Unheil von den Seinen wendet,
161
Daß er sein Reich vermehrt, die Grenzen sichert
162
Und alte Feinde fallen oder fliehn:
163
Dann mag er danken! denn ihm hat ein Gott
164
Des Lebens erste, letzte Lust gegönnt.
165
Mich haben sie zum Schlächter auserkoren,
166
Zum Mörder meiner doch verehrten Mutter,
167
Und, eine Schandtat schändlich rächend, mich
168
Durch ihren Wink zugrund gerichtet. Glaube,
169
Sie haben es auf Tantals Haus gerichtet,
170
Und ich, der Letzte, soll nicht schuldlos, soll
171
Nicht ehrenvoll vergehn.
172
173
Pylades: Die Götter rächen
174
Der Väter Missetat nicht an dem Sohn;
175
Ein jeglicher, gut oder böse, nimmt
176
Sich seinen Lohn mit seiner Tat hinweg.
177
Et erbt der Eltern Segen, nicht ihr Fluch.
178
179
Orest: Uns führt ihr Segen, dünkt mich, nicht hierher.
180
181
Pylades: Doch wenigstens der hohen Götter Wille.
182
183
Orest: So ist's ihr Wille denn, der uns verderbt.
184
185
Pylades: Tu, was sie dir gebieten, und erwarte!
186
Bringst du die Schwester zu Apollen hin
187
Und wohnen beide dann vereint zu Delphi,
188
Verehrt von einem Volk, das edel denkt,
189
So wird für diese Tat das hohe Paar
190
Dir gnädig sein, sie werden aus der Hand
191
Der Unterird'schen dich erretten. Schon
192
In diesen heil'gen Hain wagt keine sich.
193
194
Orest: So hab ich wenigstens geruh'gen Tod.
195
196
Pylades: Ganz anders denk ich, und nicht ungeschickt
197
Hab ich das schon Geschehne mit dem Künft'gen
198
Verbunden und im stillen ausgelegt.
199
Vielleicht reift in der Götter Rat schon lange
200
Das große Werk. Diana sehnet sich
201
Von diesem rauhen Ufer der Barbaren
202
Und ihren blut'gen Menschenopfern weg.
203
Wir waren zu der schönen Tat bestimmt,
204
Uns wird sie auferlegt, und seltsam sind
205
Wir an der Pforte schon gezwungen hier.
206
207
Orest: Mit seltner Kunst flichtst du der Götter Rat
208
Und deine Wünsche klug in eins zusammen.
209
210
Pylades: Was ist des Menschen Klugheit, wenn sie nicht
211
Auf jener Willen droben achtend lauscht?
212
Zu einer schweren Tat beruft ein Gott
213
Den edeln Mann, der viel verbrach, und legt
214
Ihm auf, was uns unmöglich scheint, zu enden.
215
Es siegt der Held, und büßend dienet er
216
Den Göttern und der Welt, die ihn verehrt.
217
218
Orest: Bin ich bestimmt, zu leben und zu handeln,
219
So nehm ein Gott von meiner schweren Stirn
220
Den Schwindel weg, der auf dem schlüpfrigen,
221
Mit Mutterblut besprengten Pfade fort
222
Mich zu den Toten reißt. Er trockne gnädig
223
Die Quelle, die, mir aus der Mutter Wunden
224
Entgegensprudelnd, ewig mich befleckt.
225
226
Pylades: Erwart es ruhiger! Du mehrst das Übel
227
Und nimmst das Amt der Furien auf dich.
228
Laß mich nur sinnen, bleibe still! Zuletzt,
229
Bedarf's zur Tat vereinter Kräfte, dann
230
Ruf ich dich auf, und beide schreiten wir
231
Mit überlegter Kühnheit zur Vollendung.
232
233
Orest: Ich hör Ulyssen reden!
234
235
Pylades: Spotte nicht!
236
Ein jeglicher muß seinen Helden wählen,
237
Dem er die Wege zum Olymp hinauf
238
Sich nacharbeitet. Laß es mich gestehn:
239
Mir scheinen List und Klugheit nicht den Mann
240
Zu schänden, der sich kühnen Taten weiht.
241
242
Orest: Ich schätze den, der tapfer ist und grad.
243
244
Pylades: Drum hab ich keinen Rat von dir verlangt.
245
Schon ist ein Schritt getan. Von unsern Wächtern
246
Hab ich bisher gar vieles ausgelockt.
247
Ich weiß, ein fremdes, göttergleiches Weib
248
Hält jenes blutige Gesetz gefesselt:
249
Ein reines Herz und Weihrauch und Gebet
250
Bringt sie den Göttern dar. Man rühmet hoch
251
Die Gütige; man glaubet, sie entspringe
252
Vom Stamm der Amazonen, sei geflohn,
253
Um einem großen Unheil zu entgehn.
254
255
Orest: Es scheint, ihr lichtes Reich verlor die Kraft
256
Durch des Verbrechers Nähe, den der Fluch
257
Wie eine breite Nacht verfolgt und deckt.
258
Die fromme Blutgier löst den alten Brauch
259
Von seinen Fesseln los, uns zu verderben.
260
Der wilde Sinn des Königs tötet uns;
261
Ein Weib wird uns nicht retten, wenn er zürnt.
262
263
Pylades: Wohl uns, daß es ein Weib ist! denn ein Mann,
264
Der beste selbst, gewöhnet seinen Geist
265
An Grausamkeit und macht sich auch zuletzt
266
Aus dem, was er verabscheut, ein Gesetz,
267
Wird aus Gewohnheit hart und fast unkenntlich.
268
Allein ein Weib bleibt stet auf einem Sinn,
269
Den sie gefaßt. Du rechnest sicherer
270
Auf sie im Guten wie im Bösen. – Still!
271
Sie kommt; laß uns allein. Ich darf nicht gleich
272
Ihr unsre Namen nennen, unser Schicksal
273
Nicht ohne Rückhalt ihr vertraun. Du gehst,
274
Und eh sie mit dir spricht, treff ich dich noch.

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?