Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben LF
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

Zehntes Kapitel

2
Das Schiff stieß an das Ufer, wir sprangen schnell ans Land und verteilten
3
uns nun nach allen Seiten im Grünen, wie Vögel, wenn das Gebauer
4
plötzlich aufgemacht wird. Der geistliche Herr nahm eiligen Abschied und
5
ging mit großen Schritten nach dem Schlosse zu. Die Studenten dagegen
6
wanderten eifrig nach einem abgelegenen Gebüsch, wo sie noch
7
geschwind ihre Mäntel ausklopfen, sich in dem vorüberfließenden Bache
8
waschen und einer den andern rasieren wollten. Die neue Kammerjungfer
9
endlich ging mit ihrem Kanarienvogel und ihrem Bündel unterm Arm nach
10
dem Wirtshause unter dem Schloßberge, um bei der Frau Wirtin, die ich ihr
11
als eine gute Person rekommandiert hatte, ein besseres Kleid anzulegen,
12
ehe sie sich oben im Schlosse vorstellte. Mir aber leuchtete der schöne
13
Abend recht durchs Herz, und als sie sich nun alle verlaufen hatten,
14
bedachte ich mich nicht lange und rannte sogleich nach dem
15
herrschaftlichen Garten hin. Mein Zollhaus, an dem ich vorbei mußte, stand
16
noch auf der alten Stelle, die hohen Bäume aus dem herrschaftlichen
17
Garten rauschten noch immer darüber hin, eine Goldammer, die damals auf
18
dem Kastanienbaume vor dem Fenster jedesmal bei Sonnenuntergang ihr
19
Abendlied gesungen hatte, sang auch wieder, als wäre seitdem gar nichts
20
in der Welt vorgegangen. Das Fenster im Zollhause stand offen, ich lief
21
voller Freuden hin und steckte den Kopf in die Stube hinein. Es war
22
niemand darin, aber die Wanduhr tickte noch immer ruhig fort, der
23
Schreibtisch stand am Fenster und die lange Pfeife in einem Winkel wie
24
damals. Ich konnte nicht widerstehen, ich sprang durch das Fenster hinein
25
und setzte mich an den Schreibtisch vor das große Rechenbuch hin. Da fiel
26
der Sonnenschein durch den Kastanienbaum vor dem Fenster wieder
27
grüngolden auf die Ziffern in dem aufgeschlagenen Buche, die Bienen
28
summten wieder an dem offenen Fenster hin und her, die Goldammer
29
draußen auf dem Baume sang fröhlich immerzu. – Auf einmal aber ging die
30
Tür aus der Stube auf, und ein alter, langer Einnehmer in meinem
31
punktierten Schlafrock trat herein. Er blieb in der Tür stehen, wie er mich so
32
unversehens erblickte, nahm schnell die Brille von der Nase und sah mich
33
grimmig an. Ich aber erschrak nicht wenig darüber, sprang, ohne ein Wort
34
zu sagen, auf und lief aus der Haustür durch den kleinen Garten fort, wo ich
35
mich noch bald mit den Füßen in dem fatalen Kartoffelkraut verwickelt
36
hätte, das der alte Einnehmer nunmehr, wie ich sah, nach des Portiers Rat
37
statt meinen Blumen angepflanzt hatte. Ich hörte noch, wie er vor die Tür
38
herausfuhr und hinter mir drein schimpfte, aber ich saß schon oben auf der
39
hohen Gartenmauer und schaute mit klopfendem Herzen in den
40
Schloßgarten hinein.
41
Da war ein Duften und Schimmern und Jubilieren von allen Vöglein; die
42
Plätze und Gänge waren leer, aber die vergoldeten Wipfel neigten sich im
43
Abendwinde vor mir, als wollten sie mich bewillkommnen, und seitwärts
44
aus dem tiefen Grunde blitzte zuweilen die Donau zwischen den Bäumen
45
nach mir herauf. Auf einmal hörte ich in einiger Entfernung im Garten
46
singen:
47
Schweigt der Menschen laute
48
Lust:
49
Rauscht die Erde wie in Träumen
50
Wunderbar mit allen Bäumen,
51
Was dem Herzen kaum bewußt,
52
Alte Zeiten, linde Trauer,
53
Und es schweifen leise Schauer
54
Wetterleuchtend durch die Brust.
55
Die Stimme und das Lied klang mir so wunderlich und doch wieder so
56
altbekannt, als hätte ichs irgendeinmal im Traume gehört. Ich dachte lange,
57
lange nach. – «Das ist der Herr Guido!» rief ich endlich voller Freude und
58
schwang mich schnell in den Garten hinunter – es war dasselbe Lied, das
59
er an jenem Sommerabend auf dem Balkon des italienischen Wirtshauses
60
sang, wo ich ihn zum letztenmal gesehn hatte.
61
Er sang noch immer fort, ich aber sprang über Beete und Hecken dem
62
Liede nach. Als ich nun zwischen den letzten Rosensträuchern hervortrat,
63
blieb ich plötzlich wie verzaubert stehen. Denn auf dem grünen Platze am
64
Schwanenteich, recht vom Abendrote beschienen, saß die schöne gnädige
65
Frau, in einem prächtigen Kleide und einem Kranz von weißen und roten
66
Rosen in dem schwarzen Haar, mit niedergeschlagenen Augen auf einer
67
Steinbank und spielte während des Liedes mit ihrer Reitgerte vor sich auf
68
dem Rasen, geradeso wie damals auf dem Kahne, da ich ihr das Lied von
69
der schönen Frau vorsingen mußte. Ihr gegenüber saß eine andere junge
70
Dame, die hatte den weißen, runden Nacken voll brauner Locken gegen
71
mich gewendet und sang zur Gitarre, während die Schwäne auf dem stillen
72
Weiher langsam im Kreise herumschwammen. – Da hob die schöne Frau
73
auf einmal die Augen und schrie laut auf, da sie mich erblickte. Die andere
74
Dame wandte sich rasch nach mir herum, daß ihr die Locken ins Gesicht
75
flogen, und da sie mich recht ansah, brach sie in ein unmäßiges Lachen
76
aus, sprang dann von der Bank und klatschte dreimal mit den Händchen. In
77
demselben Augenblicke kam eine große Menge kleiner Mädchen in
78
blütenweißen, kurzen Kleidchen mit grünen und roten Schleifen zwischen
79
den Rosensträuchern hervorgeschlüpft, so daß ich gar nicht begreifen
80
konnte, wo sie alle gesteckt hatten. Sie hielten eine lange Blumengirlande
81
in den Händen, schlossen schnell einen Kreis um mich, tanzten um mich
82
herum und sangen dabei:
83
Wir bringen dir den
84
Jungfernkranz
85
Mit veilchenblauer Seide,
86
Wir führen dich zu Lust und Tanz,
87
Zu neuer Hochzeitsfreude.
88
Schöner, grüner Jungfernkranz,
89
Veilchenblaue Seide.
90
Das war aus dem Freischütz. Von den kleinen Sängerinnen erkannte ich
91
nun auch einige wieder, es waren Mädchen aus dem Dorfe. Ich kneipte sie
92
in die Wangen und wäre gern aus dem Kreise entwischt, aber die kleinen
93
schnippischen Dinger ließen mich nicht heraus. – Ich wußte gar nicht, was
94
die Geschichte eigentlich bedeuten sollte, und stand ganz verblüfft da.
95
Da trat plötzlich ein junger Mann in feiner Jägerkleidung aus dem
96
Gebüsch hervor. Ich traute meinen Augen kaum – es war der fröhliche Herr
97
Leonhard! – Die kleinen Mädchen öffneten nun den Kreis und standen auf
98
einmal wie verzaubert alle unbeweglich auf einem Beinchen, während sie
99
das andere in die Luft streckten und dabei die Blumengirlanden mit beiden
100
Armen hoch über den Köpfen in die Höhe hielten. Der Herr Leonhard aber
101
faßte die schöne gnädige Frau, die noch immer ganz stillstand und nur
102
manchmal auf mich herüberblickte, bei der Hand, führte sie bis zu mir und
103
sagte: «Die Liebe – darüber sind nun alle Gelehrten einig – ist eine der
104
couragiösesten Eigenschaften des menschlichen Herzens, die Bastionen
105
von Rang und Stand schmettert sie mit einem Feuerblicke danieder, die
106
Welt ist ihr zu eng und die Ewigkeit zu kurz. Ja, sie ist eigentlich ein
107
Poetenmantel, den jeder Phantast einmal in der kalten Welt umnimmt, um
108
nach Arkadien auszuwandern. Und je entfernter zwei getrennte Verliebte
109
voneinander wandern, in desto anständigern Bogen bläst der Reisewind
110
den schillernden Mantel hinter ihnen auf, desto kühner und überraschender
111
entwickelt sich der Faltenwurf, desto länger und länger wächst der Talar
112
den Liebenden hinten nach, so daß ein Neutraler nicht über Land gehen
113
kann, ohne unversehens auf ein paar solche Schleppen zu treten. O
114
teuerster Herr Einnehmer und Bräutigam! obgleich Ihr in diesem Mantel bis
115
an die Gestade des Tiber dahinrauschtet, das kleine Händchen Eurer
116
gegenwärtigen Braut hielt Euch dennoch am äußersten Ende der Schleppe
117
fest, und wie ihr zucktet und geigtet und rumortet, Ihr mußtet zurück in den
118
stillen Bann ihrer schönen Augen. – Und nun denn, da es so gekommen ist,
119
ihr zwei lieben, lieben, närrischen Leute! schlagt den seligen Mantel um
120
euch, daß die ganze andere Welt rings um euch untergeht, liebt euch wie
121
die Kaninchen und seid glücklich!»
122
Der Herr Leonhard war mit seinem Sermon kaum erst fertig, so kam auch
123
die andere junge Dame, die vorhin das Liedchen gesungen hatte, auf mich
124
los, setzte mir schnell einen frischen Myrtenkranz auf den Kopf und sang
125
dazu sehr neckisch, während sie mir den Kranz in den Haaren festrückte
126
und ihr Gesichtchen dabei dicht vor mir war:
127
Darum bin ich dir gewogen,
128
Darum wird dein Haupt geschmückt,
129
Weil der Strich von deinem Bogen
130
Öfters hat mein Herz entzückt.
131
Da trat sie wieder ein paar Schritte zurück. «Kennst du die Räuber noch,
132
die dich damals in der Nacht vom Baume schüttelten?» sagte sie, indem sie
133
einen Knicks mir machte und mich so anmutig und fröhlich ansah, daß mir
134
ordentlich das Herz im Leibe lachte. Darauf ging sie, ohne meine Antwort
135
abzuwarten, rings um mich herum. «Wahrhaftig noch ganz der Alte, ohne
136
allen welschen Beischmack! Aber nein, sieh doch nur einmal die dicken
137
Taschen an!» rief sie plötzlich zu der schönen gnädigen Frau, «Violine,
138
Wäsche, Barbiermesser, Reisekoffer, alles durcheinander!» Sie drehte mich
139
nach allen Seiten und konnte sich vor Lachen gar nicht zugute geben. Die
140
schöne gnädige Frau war unterdes noch immer still und mochte gar nicht
141
die Augen aufschlagen vor Scham und Verwirrung. Oft kam es mir vor, als
142
zürnte sie heimlich über das viele Gerede und Spaßen. Endlich stürzten ihr
143
plötzlich Tränen aus den Augen, und sie verbarg ihr Gesicht an der Brust
144
der andern Dame. Diese sah sie erst erstaunt an und drückte sie dann
145
herzlich an sich.
146
Ich aber stand ganz verdutzt da. Denn je genauer ich die fremde Dame
147
betrachtete, desto deutlicher erkannte ich sie, es war wahrhaftig niemand
148
anders als – der junge Herr Maler Guido!
149
Ich wußte gar nicht, was ich sagen sollte, und wollte soeben näher
150
nachfragen, als Herr Leonhard zu ihr trat und heimlich mit ihr sprach.
151
«Weiß er denn noch nicht?» hörte ich ihn fragen. Sie schüttelte mit dem
152
Kopfe. Er besann sich darauf einen Augenblick. «Nein, nein», sagte er
153
endlich, «er muß schnell alles erfahren, sonst entsteht nur neues
154
Geplauder und Gewirre.»
155
«Herr Einnehmer», wandte er sich nun zu mir, «wir haben jetzt nicht viel
156
Zeit, aber tue mir den Gefallen und wundere dich hier in aller
157
Geschwindigkeit aus, damit du nicht hinterher durch Fragen, Erstaunen
158
und Kopfschütteln unter den Leuten alte Geschichten aufrührst und neue
159
Erdichtungen und Vermutungen ausschüttelst.» – Er zog mich bei diesen
160
Worten tiefer in das Gebüsch hinein, während das Fräulein mit der von der
161
schönen gnädigen Frau weggelegten Reitgerte in der Luft focht und alle
162
ihre Locken tief in das Gesichtchen schüttelte, durch die ich aber doch
163
sehen konnte, daß sie bis an die Stirn rot wurde. – «Nun denn», sagte Herr
164
Leonhard, «Fräulein Flora, die hier soeben tun will, als hörte und wußte sie
165
von der ganzen Geschichte nichts, hatte in aller Geschwindigkeit ihr
166
Herzchen mit jemand vertauscht. Darüber kommt ein andrer und bringt ihr
167
mit Prologen, Trompeten und Pauken wiederum sein Herz dar und will ihr
168
Herz dagegen. Ihr Herz ist aber schon bei jemand und jemandes Herz bei
169
ihr, und der jemand will sein Herz nicht wieder haben und ihr Herz nicht
170
wieder zurückgeben. Alle Welt schreit – aber du hast wohl noch keinen
171
Roman gelesen?» Ich verneinte es. – «Nun, so hast du doch einen
172
mitgespielt. Kurz: das war eine solche Konfusion mit den Herzen, daß der
173
Jemand – das heißt ich – mich zuletzt selbst ins Mittel legen mußte. Ich
174
schwang mich bei lauer Sommernacht auf mein Roß, hob das Fräulein als
175
Maler Guido auf das andere, und so ging es fort nach Süden, um sie in
176
einem meiner einsamen Schlösser in Italien zu verbergen, bis das Geschrei
177
wegen der Herzen vorüber wäre. Unterwegs aber kam man uns auf die
178
Spur, und von dem Balkon des welschen Wirtshauses, vor dem du so
179
vortrefflich Wache schliefst, erblickte Flora plötzlich unsere
180
Verfolger.»-«Also der bucklige Signor?» – «War ein Spion. Wir zogen uns
181
daher heimlich in die Wälder und ließen dich auf dem vorbestellten
182
Postkurse allein fortfahren. Das täuschte unsere Verfolger und zum
183
Überfluß auch noch meine Leute auf dem Bergschloß, welche die
184
verkleidete Flora stündlich erwarteten und mit mehr Diensteifer als
185
Scharfsinn dich für das Fräulein hielten. Selbst hier auf dem Schlosse
186
glaubte man, daß Flora auf dem Felsen wohne, man erkundigte sich, man
187
schrieb an sie – hast du nicht ein Briefchen erhalten?» – Bei diesen Worten
188
fuhr ich blitzschnell mit dem Zettel aus der Tasche. – «Also dieser Brief?»
189
«Ist an mich», sagte Fräulein Flora, die bisher auf unsere Rede gar nicht
190
achtzugeben schien, riß mir den Zettel rasch aus der Hand, überlas ihn und
191
steckte ihn dann in den Busen. – «Und nun», sagte Herr Leonhard,
192
«müssen wir schnell in das Schloß, da wartet schon alles auf uns. Also zum
193
Schluß, wie sichs von selbst versteht und einem wohlerzogenen Romane
194
gebührt: Entdeckung, Reue, Versöhnung, wir sind alle wieder lustig
195
beisammen, und übermorgen ist Hochzeit!»
196
Da er noch so sprach, erhob sich plötzlich in dem Gebüsche ein rasender
197
Spektakel von Pauken und Trompeten, Hörnern und Posaunen; Böller
198
wurden dazwischen gelöst und Vivat gerufen, die kleinen Mädchen tanzten
199
von neuem, und aus allen Sträuchern kam ein Kopf über dem andern
200
hervor, als wenn sie aus der Erde wüchsen. Ich sprang in dem Geschwirre
201
und Geschleife ellenhoch von einer Seite zur andern, da es aber schon
202
dunkel wurde, erkannte ich erst nach und nach alle die alten Gesichter
203
wieder. Der alte Gärtner schlug die Pauken, die Prager Studenten in ihren
204
Mänteln musizierten mitten darunter, neben ihnen fingerte der Portier wie
205
toll auf seinem Fagott. Wie ich den so unverhofft erblickte, lief ich sogleich
206
auf ihn zu und embrassierte ihn heftig. Darüber kam er ganz aus dem
207
Konzept. «Nun wahrhaftig, und wenn der bis ans Ende der Welt reist, er ist
208
und bleibt ein Narr!» rief er den Studenten zu und blies ganz wütend weiter.
209
Unterdes war die schöne gnädige Frau vor dem Rumor heimlich
210
entsprungen und flog wie ein aufgescheuchtes Reh über den Rasen tiefer
211
in den Garten hinein. Ich sah es noch zur rechten Zeit und lief ihr eiligst
212
nach. Die Musikanten merkten in ihrem Eifer nichts davon, sie meinten
213
nachher: wir wären schon nach dem Schlosse aufgebrochen, und die ganze
214
Bande setzte sich nun mit Musik und großem Getümmel gleichfalls dorthin
215
auf den Marsch.
216
Wir aber waren fast zu gleicher Zeit in einem Sommerhause
217
angekommen, das am Abhange des Gartens stand, mit dem offenen
218
Fenster nach dem weiten, tiefen Tale zu. Die Sonne war schon lange
219
untergegangen hinter den Bergen, es schimmerte nur noch wie ein rötlicher
220
Duft über dem warmen, verschallenden Abend, aus dem die Donau immer
221
vernehmlicher heraufrauschte, je stiller es ringsum wurde. Ich sah
222
unverwandt die schöne Gräfin an, die ganz erhitzt vom Laufen dicht vor mir
223
stand, so daß ich ordentlich hören konnte, wie ihr das Herz schlug. Ich
224
wußte nun aber gar nicht, was ich sprechen sollte vor Respekt, da ich auf
225
einmal so allein mit ihr war. Endlich faßte ich ein Herz, nahm ihr kleines
226
weißes Händchen – da zog sie mich schnell an sich und fiel mir um den
227
Hals, und ich umschlang sie fest mit beiden Armen.
228
Sie machte sich aber geschwind wieder los und legte sich ganz verwirrt in
229
das Fenster, um ihre glühenden Wangen in der Abendluft abzukühlen. –
230
«Ach», rief ich, «mir ist mein Herz recht zum Zerspringen, aber ich kann mir
231
noch alles nicht recht denken, es ist mir alles noch wie ein Traum!» – «Mir
232
auch», sagte die schöne gnädige Frau. «Als ich vergangenen Sommer»,
233
setzte sie nach einer Weile hinzu, «mit der Gräfin aus Rom kam und wir das
234
Fräulein Flora glücklich gefunden hatten und mit zurückbrachten, von dir
235
aber dort und hier nichts hörten – da dacht ich nicht, daß alles noch so
236
kommen würde! Erst heut zu Mittag sprengte der Jockei, der gute, flinke
237
Bursch, atemlos auf den Hof und brachte die Nachricht, daß du mit dem
238
Postschiffe kämst.» – Dann lachte sie still in sich hinein. «Weißt du noch»,
239
sagte sie, «wie du mich damals auf dem Balkon zum letzten Male sahst?
240
Das war gerade wie heute, auch so ein stiller Abend und Musik im Garten.»
241
– «Wer ist denn eigentlich gestorben?» fragte ich hastig. – «Wer denn?»
242
sagte die schöne Frau und sah mich erstaunt an. «Der Herr Gemahl von
243
Euer Gnaden», erwiderte ich, «der damals mit auf dem Balkon stand.» – Sie
244
wurde ganz rot. «Was hast du auch für Seltsamkeiten im Kopfe!» rief sie
245
aus, «das war ja der Sohn von der Gräfin, der eben von seinen Reisen
246
zurückkam, und es traf gerade auch meinen Geburtstag, da führte er mich
247
auf den Balkon hinaus, damit ich auch ein Vivat bekäme. – Aber deshalb
248
bist du wohl damals von hier fortgelaufen?» – «Ach Gott, freilich!» rief ich
249
aus und schlug mit der Hand vor die Stirn. Sie aber schüttelte mit dem
250
Köpfchen und lachte recht herzlich.
251
Mir war so wohl, wie sie so fröhlich und vertraulich neben mir plauderte,
252
ich hätte bis zum Morgen zuhören mögen. Ich war so recht seelenvergnügt
253
und langte eine Handvoll Knackmandeln aus der Tasche, die ich noch aus
254
Italien mitgebracht hatte. Sie nahm auch davon, und wir knackten nun und
255
sahen zufrieden in die stille Gegend hinaus. –«Siehst du», sagte sie nach
256
einem Weilchen wieder, «das weiße Schlößchen, das da drüben im
257
Mondschein glänzt, das hat uns der Graf geschenkt, samt dem Garten und
258
den Weinbergen, da werden wir wohnen. Er wußt es schon lange, daß wir
259
einander gut sind, und ist dir sehr gewogen, denn hätt er dich nicht
260
mitgehabt, als er das Fräulein aus der Pensionsanstalt entführte, so wären
261
sie beide erwischt worden, ehe sie sich vorher noch mit der Gräfin
262
versöhnten, und alles wäre anders gekommen.» – «Mein Gott, schönste
263
gnädigste Gräfin», rief ich aus, «ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf
264
steht vor lauter unverhofften Neuigkeiten; also der Herr Leonhard?» – «Ja,
265
ja», fiel sie mir in die Rede, «so nannte er sich in Italien; dem gehören die
266
Herrschaften da drüben, und er heiratet nun unserer Gräfin Tochter, die
267
schöne Flora. – Aber was nennst du mich denn Gräfin?» – Ich sah sie groß
268
an. – «Ich bin ja gar keine Gräfin», fuhr sie fort, «unsere gnädige Gräfin hat
269
mich nur zu sich aufs Schloß genommen, da mich mein Onkel, der Portier,
270
als kleines Kind und arme Waise mit hierher brachte.»
271
Nun wars mir doch nicht anders, als wenn mir ein Stein vom Herzen fiele!
272
«Gott segne den Portier», versetzte ich ganz entzückt, «daß er unser Onkel
273
ist! ich habe immer große Stücke auf ihn gehalten.» – «Er meint es auch gut
274
mit dir», erwiderte sie, «wenn du dich nur etwas vornehmer hieltest, sagt er
275
immer. Du mußt dich jetzt auch eleganter kleiden.» – «Oh», rief ich voller
276
Freuden, «englischen Frack, Strohhut und Pumphosen und Sporen! Und
277
gleich nach der Trauung reisen wir fort nach Italien, nach Rom, da gehen
278
die schönen Wasserkünste, und nehmen die Prager Studenten mit und den
279
Portier!» – Sie lächelte still und sah mich recht vergnügt und freundlich an,
280
und von fern schallte immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln
281
flogen vom Schloß durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau
282
rauschte dazwischen herauf – und es war alles, alles gut!

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?