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Inhaltsverzeichnis

31. Kapitel

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Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie sich auf
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einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille Straße hinaus.
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Wenn da doch Lärm und Streit gewesen wäre; aber nur der Sonnenschein
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lag auf dem chaussierten Wege und dazwischen die Schatten, die das
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Gitter und die Bäume warfen. Das Gefühl des Alleinseins in der Welt
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überkam sie mit seiner ganzen Schwere. Vor einer Stunde noch eine
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glückliche Frau, Liebling aller, die sie kannten, und nun ausgestoßen. Sie
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hatte nur erst den Anfang des Briefes gelesen, aber genug, um ihre Lage
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klar vor Augen zu haben. Wohin?
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Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war sie voll tiefer Sehnsucht,
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aus dem herauszukommen, was sie hier umgab, also fort von dieser
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Geheimrätin, der das alles bloß ein »interessanter Fall« war und deren
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Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Maß ihrer Neugier
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nicht heranreichte.
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»Wohin?«
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Auf dem Tisch vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der Mut, weiterzulesen.
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Endlich sagte sie: »Wovor bange ich mich noch? Was kann noch gesagt
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werden, das ich mir nicht schon selber sagte? Der, um den all dies kam, ist
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tot, eine Rückkehr in mein Haus gibt es nicht, in ein paar Wochen wird die
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Scheidung ausgesprochen sein, und das Kind wird man dem Vater lassen.
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Natürlich. Ich bin schuldig, und eine Schuldige kann ihr Kind nicht
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erziehen. Und wovon auch? Mich selbst werde ich wohl durchbringen. Ich
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will sehen, was die Mama darüber schreibt, wie sie sich mein Leben denkt.«
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Und unter diesen Worten nahm sie den Brief wieder, um auch den Schluß
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zu lesen.
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» ... Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf Dich selbst
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stellen müssen und darfst dabei, soweit äußere Mittel mitsprechen, unserer
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Unterstützung sicher sein. Du wirst am besten in Berlin leben (in einer
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großen Stadt vertut sich dergleichen am besten) und wirst da zu den vielen
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gehören, die sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht haben. Du wirst
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einsam leben, und wenn Du das nicht willst, wahrscheinlich aus Deiner
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Sphäre herabsteigen müssen. Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir
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verschlossen sein. Und was das Traurigste für uns und für Dich ist (auch
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für Dich, wie wir Dich zu kennen vermeinen) – auch das elterliche Haus wird
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Dir verschlossen sein, wir können Dir keinen stillen Platz in
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Hohen-Cremmen anbieten, keine Zuflucht in unserem Hause, denn es hieße
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das, dies Haus von aller Welt abschließen, und das zu tun, sind wir
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entschieden nicht geneigt. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und
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ein Abschiednehmen von dem, was sich 'Gesellschaft' nennt, uns als etwas
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unbedingt Unerträgliches erschiene; nein, nicht deshalb, sondern einfach,
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weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht
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ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres einzigen und
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von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen ...« Effi konnte nicht
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weiterlesen; ihre Augen füllten sich mit Tränen, und nachdem sie
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vergeblich dagegen angekämpft hatte, brach sie zuletzt in ein heftiges
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Schluchzen und Weinen aus, darin sich ihr Herz erleichterte.
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Nach einer halben Stunde klopfte es, und auf Effis »Herein« erschien die
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Geheimrätin.
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»Darf ich eintreten?«
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»Gewiß, liebe Geheimrätin«, sagte Effi, die jetzt, leicht zugedeckt und die
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Hände gefaltet, auf dem Sofa lag. »Ich bin erschöpft und habe mich hier
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eingerichtet, so gut es ging. Darf ich Sie bitten, sich einen Stuhl zu
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nehmen.«
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Die Geheimrätin setzte sich so, daß der Tisch, mit einer Blumenschale
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darauf, zwischen ihr und Effi war. Effi zeigte keine Spur von Verlegenheit
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und änderte nichts in ihrer Haltung, nicht einmal die gefalteten Hände. Mit
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einem Male war es ihr vollkommen gleichgültig, was die Frau dachte; nur
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fort wollte sie.
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»Sie haben eine traurige Nachricht empfangen, liebe gnädigste Frau ...«
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»Mehr als traurig«, sagte Effi. »Jedenfalls traurig genug, um unserem
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Beisammensein ein rasches Ende zu machen. Ich muß noch heute fort.«
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»Ich möchte nicht zudringlich erscheinen, aber ist es etwas mit Annie?«
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»Nein, nicht mit Annie. Die Nachrichten kamen überhaupt nicht aus
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Berlin, es waren Zeilen meiner Mama. Sie hat Sorgen um mich, und es liegt
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mir daran, sie zu zerstreuen, oder wenn ich das nicht kann, wenigstens an
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Ort und Stelle zu sein.«
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»Mir nur zu begreiflich, so sehr ich es beklage, diese letzten Emser Tage
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nun ohne Sie verbringen zu sollen. Darf ich Ihnen meine Dienste zur
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Verfügung stellen?«
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Ehe Effi darauf antworten konnte, trat Afra ein und meldete, daß man sich
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eben zum Lunch versammle. Die Herrschaften seien alle sehr in Aufregung:
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Der Kaiser käme wahrscheinlich auf drei Wochen, und am Schluß seien
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große Manöver, und die Bonner Husaren kämen auch.
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Die Zwicker überschlug sofort, ob es sich verlohnen würde, bis dahin zu
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bleiben, kam zu einem entschiedenen »Ja« und ging dann, um Effis
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Ausbleiben beim Lunch zu entschuldigen.
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Als gleich danach auch Afra gehen wollte, sagte Effi: »Und dann, Afra,
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wenn Sie frei sind, kommen Sie wohl noch eine Viertelstunde zu mir, um mir
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beim Packen behilflich zu sein. Ich will heute noch mit dem Siebenuhrzug
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fort.«
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»Heute noch? Ach, gnädigste Frau, das ist doch aber schade. Nun fangen
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ja die schönen Tage erst an.«
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Effi lächelte.
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Die Zwicker, die noch allerlei zu hören hoffte, hatte sich nur mit Mühe
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bestimmen lassen, der »Frau Baronin« beim Abschied nicht das Geleit zu
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geben. Auf einem Bahnhof, so hatte Effi versichert, sei man immer so
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zerstreut und nur mit seinem Platz und seinem Gepäck beschäftigt; gerade
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Personen, die man liebhabe, von denen nähme man gern vorher Abschied.
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Die Zwicker bestätigte das, trotzdem sie das Vorgeschützte darin sehr wohl
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herausfühlte; sie hatte hinter allen Türen gestanden und wußte gleich, was
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echt und unecht war.
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Afra begleitete Effi zum Bahnhof und ließ sich fest versprechen, daß die
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Frau Baronin im nächsten Sommer wiederkommen wolle; wer mal in Ems
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gewesen, der komme immer wieder. Ems sei das Schönste, außer Bonn.
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Die Zwicker hatte sich mittlerweile zum Briefschreiben niedergesetzt,
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nicht an dem etwas wackligen Rokokosekretär im Salon, sondern draußen
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auf der Veranda, an demselben Tisch, an dem sie kaum zehn Stunden zuvor
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mit Effi das Frühstück genommen hatte.
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Sie freute sich auf den Brief, der einer befreundeten, zur Zeit in
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Reichenhall weilenden Berliner Dame zugute kommen sollte. Beider Seelen
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hatten sich längst gefunden und gipfelten in einer der ganzen Männerwelt
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geltenden starken Skepsis; sie fanden die Männer durchweg weit
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zurückbleibend hinter dem, was billigerweise gefordert werden könne, die
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sogenannten »forschen« am meisten. »Die, die vor Verlegenheit nicht
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wissen, wo sie hinsehen sollen, sind, nach einem kurzen Vorstudium,
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immer noch die besten, aber die eigentlichen Don Juans erweisen sich
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jedesmal als eine Enttäuschung. Wo soll es am Ende auch herkommen.«
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Das waren so Weisheitssätze, die zwischen den zwei Freundinnen
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ausgetauscht wurden.
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Die Zwicker war schon auf dem zweiten Bogen und fuhr in ihrem mehr als
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dankbaren Thema, das natürlich »Effi« hieß, eben wie folgt fort: »Alles in
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allem war sie sehr zu leiden, artig, anscheinend offen, ohne jeden
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Adelsdünkel (oder doch groß in der Kunst, ihn zu verbergen) und immer
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interessiert, wenn man ihr etwas Interessantes erzählte, wovon ich, wie ich
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Dir nicht zu versichern brauche, den ausgiebigsten Gebrauch machte.
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Nochmals also, reizende junge Frau, fünfundzwanzig oder nicht viel mehr.
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Und doch habe ich dem Frieden nie getraut und traue ihm auch in diesem
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Augenblick noch nicht, ja, jetzt vielleicht am wenigsten. Die Geschichte
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heute mit dem Briefe – da steckt eine wirkliche Geschichte dahinter.
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Dessen bin ich so gut wie sicher. Es wäre das erste Mal, daß ich mich in
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solcher Sache geirrt hätte. Daß sie mit Vorliebe von den Berliner
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Modepredigern sprach und das Maß der Gottseligkeit jedes einzelnen
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feststellte, das und der gelegentliche Gretchenblick, der jedesmal
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versicherte, kein Wässerchen trüben zu können – alle diese Dinge haben
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mich in meinem Glauben ... Aber da kommt eben unsere Afra, von der ich
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Dir, glaube ich, schon schrieb, eine hübsche Person, und packt mir ein
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Zeitungsblatt auf den Tisch, das ihr, wie sie sagt, unsere Frau Wirtin für
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mich gegeben habe; die blau angestrichene Stelle. Nun verzeih, wenn ich
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diese Stelle erst lese ...
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Nachschrift. Das Zeitungsblatt war interessant genug und kam wie
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gerufen. Ich schneide die blau angestrichene Stelle heraus und lege sie
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diesen Zeilen bei. Du siehst daraus, daß ich mich nicht geirrt habe. Wer
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mag nur der Crampas sein?
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Es ist unglaublich – erst selber Zettel und Briefe schreiben und dann
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auch noch die des anderen aufbewahren! Wozu gibt es Öfen und Kamine?
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Solange wenigstens, wie dieser Duellunsinn noch existiert, darf
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dergleichen nicht vorkommen; einem kommenden Geschlecht kann diese
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Briefschreibepassion (weil dann gefahrlos geworden) vielleicht freigegeben
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werden. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Übrigens bin ich voll
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Mitleid mit der jungen Baronin und finde, eitel wie man nun mal ist, meinen
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einzigen Trost darin, mich in der Sache selbst nicht getäuscht zu haben.
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Und der Fall lag nicht so ganz gewöhnlich. Ein schwächerer Diagnostiker
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hätte sich doch vielleicht hinters Licht führen lassen.
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Wie immer Deine Sophie.«

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