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Inhaltsverzeichnis

21. Kapitel

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Innstetten war erst vier Tage fort, als Crampas von Stettin wieder eintraf
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und die Nachricht brachte, man hätte höheren Orts die Absicht, zwei
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Schwadronen nach Kessin zu legen, endgültig fallenlassen; es gäbe so
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viele kleine Städte, die sich um eine Kavalleriegarnison, und nun gar um
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Blüchersche Husaren, bewürben, daß man gewohnt sei, bei solchem
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Anerbieten einem herzlichen Entgegenkommen, aber nicht einem
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zögernden zu begegnen. Als Crampas das mitteilte, machte der Magistrat
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ein ziemlich verlegenes Gesicht; nur Gieshübler, weil er der Philisterei
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seiner Kollegen eine Niederlage gönnte, triumphierte. Seitens der kleinen
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Leute griff beim Bekanntwerden der Nachricht eine gewisse Verstimmung
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Platz, ja selbst einige Konsuls mit Töchtern waren momentan unzufrieden;
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im ganzen aber kam man rasch über die Sache hin, vielleicht weil die
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nebenherlaufende Frage, was Innstetten in Berlin vorhabe, die Kessiner
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Bevölkerung oder doch wenigstens die Honoratiorenschaft der Stadt mehr
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interessierte. Diese wollte den überaus wohl gelittenen Landrat nicht gern
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verlieren, und doch gingen darüber ganz ausschweifende Gerüchte, die von
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Gieshübler, wenn er nicht ihr Erfinder war, wenigstens genährt und
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weiterverbreitet wurden. Unter anderem hieß es, Innstetten würde als
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Führer einer Gesandtschaft nach Marokko gehen, und zwar mit
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Geschenken, unter denen nicht bloß die herkömmliche Vase mit Sanssouci
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und dem Neuen Palais, sondern vor allem auch eine große Eismaschine
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sei. Das letztere erschien mit Rücksicht auf die marokkanischen
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Temperaturverhältnisse so wahrscheinlich, daß das Ganze geglaubt wurde.
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Effi hörte auch davon. Die Tage, wo sie sich darüber erheitert hätte, lagen
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noch nicht allzuweit zurück; aber in der Seelenstimmung, in der sie sich
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seit Schluß des Jahres befand, war sie nicht mehr fähig, unbefangen und
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ausgelassen über derlei Dinge zu lachen. Ihre Gesichtszüge hatten einen
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ganz anderen Ausdruck angenommen, und das halb rührend, halb
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schelmisch Kindliche, was sie noch als Frau gehabt hatte, war hin. Die
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Spaziergänge nach dem Strand und der Plantage, die sie, während
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Crampas in Stettin war, aufgegeben hatte, nahm sie nach seiner Rückkehr
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wieder auf und ließ sich auch durch ungünstige Witterung nicht davon
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abhalten. Es wurde wie früher bestimmt, daß ihr Roswitha bis an den
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Ausgang der Reeperbahn oder bis in die Nähe des Kirchhofs
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entgegenkommen solle, sie verfehlten sich aber noch häufiger als früher.
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»Ich könnte dich schelten, Roswitha, daß du mich nie findest. Aber es hat
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nichts auf sich; ich ängstige mich nicht mehr, auch nicht einmal am
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Kirchhof, und im Wald bin ich noch keiner Menschenseele begegnet.«
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Es war am Tage vor Innstettens Rückkehr von Berlin, daß Effi das sagte.
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Roswitha machte nicht viel davon und beschäftigte sich lieber damit,
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Girlanden über den Türen anzubringen; auch der Haifisch bekam einen
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Fichtenzweig und sah noch merkwürdiger aus als gewöhnlich. Effi sagte:
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»Das ist recht, Roswitha; er wird sich freuen über all das Grün, wenn er
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morgen wieder da ist. Ob ich heute wohl noch gehe? Doktor Hannemann
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besteht darauf und meint in einem fort, ich nähme es nicht ernst genug,
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sonst müßte ich besser aussehen; ich habe aber keine rechte Lust heut, es
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nieselt, und der Himmel ist so grau.«
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»Ich werde der gnäd'gen Frau den Regenmantel bringen.«
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»Das tu! Aber komme heute nicht nach, wir treffen uns ja doch nicht«,
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und sie lachte. »Wirklich, du bist gar nicht findig, Roswitha. Und ich mag
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nicht, daß du dich erkältest, und alles um nichts. «
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Roswitha blieb denn auch zu Haus, und weil Annie schlief, ging sie zu
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Kruses, um mit der Frau zu plaudern. »Liebe Frau Kruse«, sagte sie, »Sie
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wollten mir ja das mit dem Chinesen noch erzählen. Gestern kam die
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Johanna dazwischen, die tut immer so vornehm, für die ist so was nichts.
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Ich glaube aber doch, daß es was gewesen ist, ich meine mit dem Chinesen
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und mit Thomsens Nichte, wenn es nicht seine Enkelin war.«
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Die Kruse nickte.
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»Entweder«, fuhr Roswitha fort, »war es eine unglückliche Liebe (die
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Kruse nickte wieder), oder es kann auch eine glückliche gewesen sein, und
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der Chinese konnte es bloß nicht aushalten, daß es alles mit einemmal so
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wieder vorbei sein sollte. Denn die Chinesen sind doch auch Menschen,
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und es wird wohl alles ebenso mit ihnen sein wie mit uns.«
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Alles«, versicherte die Kruse und wollte dies eben durch ihre Geschichte
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bestätigen, als ihr Mann eintrat und sagte: »Mutter, du könntest mir die
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Flasche mit dem Lederlack geben; ich muß doch das Sielenzeug blank
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haben, wenn der Herr morgen wieder da ist; der sieht alles, und wenn er
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auch nichts sagt, so merkt man doch, daß er's gesehen hat.«
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»Ich bringe es Ihnen raus, Kruse«, sagte Roswitha. »Ihre Frau will mir
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bloß noch was erzählen; aber es ist gleich aus, und dann komm ich und
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bring es.«
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Roswitha, die Flasche mit dem Lack in der Hand, kam denn auch ein paar
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Minuten danach auf den Hof hinaus und stellte sich neben das Sielenzeug,
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das Kruse eben über den Gartenzaun gelegt hatte. »Gott«, sagte er,
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während er ihr die Flasche aus der Hand nahm, »viel hilft es ja nicht, es
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nieselt in einem weg, und die Blänke vergeht doch wieder. Aber ich denke,
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alles muß seine Ordnung haben.«
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»Das muß es. Und dann, Kruse, es ist ja doch auch ein richtiger Lack, das
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kann ich gleich sehen, und was ein richtiger Lack ist, der klebt nicht lange,
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der muß gleich trocknen. Und wenn es dann morgen nebelt oder naß fällt,
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dann schadet es nichts mehr. Aber das muß ich doch sagen, das mit dem
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Chinesen ist eine merkwürdige Geschichte.«
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Kruse lachte. »Unsinn is es, Roswitha. Und meine Frau, statt aufs
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Richtige zu sehen, erzählt immer so was, un wenn ich ein reines Hemd
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anziehen will, fehlt ein Knopp. Un so is es nu schon, solange wir hier sind.
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Sie hat immer bloß solche Geschichten in ihrem Kopp und dazu das
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schwarze Huhn. Un das schwarze Huhn legt nich mal Eier. Un am Ende,
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wovon soll es auch Eier legen? Es kommt ja nich ,raus, und vons bloße
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Kikeriki kann doch so was nich kommen. Das is von keinem Huhn nich zu
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verlangen.«
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»Hören Sie, Kruse, das werde ich Ihrer Frau wiedererzählen. Ich habe Sie
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immer für einen anständigen Menschen gehalten, und nun sagen Sie so
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was wie das da von Kikeriki. Die Mannsleute sind doch immer noch
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schlimmer, als man denkt. Un eigentlich müßt ich nu gleich den Pinsel hier
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nehmen und Ihnen einen schwarzen Schnurrbart anmalen.«
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»Nu, von Ihnen, Roswitha, kann man sich das schon gefallen lassen«,
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und Kruse, der meist den Würdigen spielte, schien in einen mehr und mehr
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schäkrigen Ton übergehen zu wollen, als er plötzlich der gnädigen Frau
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ansichtig wurde, die heute von der anderen Seite der Plantage herkam und
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in ebendiesem Augenblicke den Gartenzaun passierte.
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»Guten Tag, Roswitha, du bist ja so ausgelassen. Was macht denn
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Annie?«
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»Sie schläft, gnäd'ge Frau.«
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Aber Roswitha, als sie das sagte, war doch rot geworden und ging, rasch
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abbrechend, auf das Haus zu, um der gnädigen Frau beim Umkleiden
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behilflich zu sein. Denn ob Johanna da war, das war die Frage. Die steckte
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jetzt viel auf dem »Amt« drüben, weil es zu Haus weniger zu tun gab, und
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Friedrich und Christel waren ihr zu langweilig und wußten nie was.
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Annie schlief noch. Effi beugte sich über die Wiege, ließ sich dann Hut
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und Regenmantel abnehmen und setzte sich auf das kleine Sofa in ihrer
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Schlafstube. Das feuchte Haar strich sie langsam zurück, legte die Füße auf
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einen niedrigen Stuhl, den Roswitha herangeschoben, und sagte, während
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sie sichtlich das Ruhebehagen nach einem ziemlich langen Spaziergang
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genoß: »Ich muß dich darauf aufmerksam machen, Roswitha, daß Kruse
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verheiratet ist.«
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»Ich weiß, gnäd'ge Frau.«
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»Ja, was weiß man nicht alles und handelt doch, als ob man es nicht
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wüßte. Das kann nie was werden.«
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»Es soll ja auch nichts werden, gnäd'ge Frau ...«
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»Denn wenn du denkst, sie sei krank, da machst du die Rechnung ohne
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den Wirt. Die Kranken leben am längsten. Und dann hat sie das schwarze
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Huhn. Vor dem hüte dich, das weiß alles und plaudert alles aus. Ich weiß
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nicht, ich habe einen Schauder davor. Und ich wette, daß das alles da oben
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mit dem Huhn zusammenhängt.«
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»Ach, das glaub ich nicht. Aber schrecklich ist es doch. Und Kruse, der
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immer gegen seine Frau ist, kann es mir nicht ausreden.«
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»Was sagte der?«
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»Er sagte, es seien bloß Mäuse.«
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»Nun, Mäuse, das ist auch gerade schlimm genug. Ich kann keine Mäuse
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leiden. Aber ich sah ja deutlich, wie du mit dem Kruse schwatztest und
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vertraulich tatst, und ich glaube sogar, du wolltest ihm einen Schnurrbart
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anmalen. Das ist doch schon sehr viel. Und nachher sitzt du da. Du bist ja
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noch eine schmucke Person und hast so was. Aber sieh dich vor, soviel
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kann ich dir bloß sagen. Wie war es denn eigentlich das erstemal mit dir?
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Ist es so, daß du mir's erzählen kannst?«
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»Ach, ich kann schon. Aber schrecklich war es. Und weil es so
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schrecklich war, drum können gnäd'ge Frau auch ganz ruhig sein, von
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wegen dem Kruse. Wem es so gegangen ist wie mir, der hat genug davon
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und paßt auf. Mitunter träume ich noch davon, und dann bin ich den andern
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Tag wie zerschlagen. Solche grausame Angst ...«
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Effi hatte sich aufgerichtet und stützte den Kopf auf ihren Arm. »Nun
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erzähle. Wie kann es denn gewesen sein? Es ist ja mit euch, das weiß ich
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noch von Hause her, immer dieselbe Geschichte ...«
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»Ja, zuerst is es wohl immer dasselbe, und ich will mir auch nicht
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einbilden, daß es mit mir was Besonderes war, ganz und gar nicht. Aber wie
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sie's mir dann auf den Kopf zusagten und ich mit einem Male sagen mußte:
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ja, es ist so', ja, das war schrecklich. Die Mutter, na, das ging noch, aber
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der Vater, der die Dorfschmiede hatte, der war streng und wütend, und als
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er's hörte, da kam er mit einer Stange auf mich los, die er eben aus dem
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Feuer genommen hatte, und wollte mich umbringen. Und ich schrie laut auf
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und lief auf den Boden und versteckte mich, und da lag ich und zitterte und
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kam erst wieder nach unten, als sie mich riefen und sagten, ich solle nur
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kommen. Und dann hatte ich noch eine jüngere Schwester, die wies immer
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auf mich hin und sagte 'Pfui'. Und dann, wie das Kind kommen sollte, ging
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ich in eine Scheune nebenan, weil ich mir's bei uns nicht getraute. Da
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fanden mich fremde Leute halb tot und trugen mich ins Haus und in mein
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Bett. Und den dritten Tag nahmen sie mir das Kind fort, und als ich nachher
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fragte, wo es sei, da hieß es, es sei gut aufgehoben. Ach, gnädigste Frau,
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die heil'ge Mutter Gottes bewahre Sie vor solchem Elend.«
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Effi fuhr auf und sah Roswitha mit großen Augen an. Aber sie war doch
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mehr erschrocken als empört. »Was du nur sprichst! Ich bin ja doch eine
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verheiratete Frau. So was darfst du nicht sagen, das ist ungehörig, das paßt
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sich nicht.«
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»Ach, gnädigste Frau ...«
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»Erzähle mir lieber, was aus dir wurde. Das Kind hatten sie dir
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genommen. Soweit warst du ...«
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»Und dann, nach ein paar Tagen, da kam wer aus Erfurt, der fuhr bei dem
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Schulzen vor und fragte, ob da nicht eine Amme sei. Da sagte der Schulze
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ja'. Gott lohne es ihm, und der fremde Herr nahm mich gleich mit, und von
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da an hab ich bessere Tage gehabt; selbst bei der Registratorin war es
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doch immer noch zum Aushalten, und zuletzt bin ich zu Ihnen gekommen,
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gnädigste Frau. Und das war das Beste, das Allerbeste.« Und als sie das
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sagte, trat sie an das Sofa heran und küßte Effi die Hand.
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»Roswitha, du mußt mir nicht immer die Hand küssen, ich mag das nicht.
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Und nimm dich nur in acht mit dem Kruse. Du bist doch sonst eine so gute
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und verständige Person ... Mit einem Ehemann ... das tut nie gut.«
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»Ach, gnäd'ge Frau, Gott und seine Heiligen führen uns wunderbar, und
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das Unglück, das uns trifft, das hat doch auch sein Glück. Und wen es nicht
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bessert, dem is nich zu helfen ... Ich kann eigentlich die Mannsleute gut
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leiden ...«
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»Siehst du, Roswitha, siehst du.«
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»Aber wenn es mal wieder so über mich käme, mit dem Kruse, das is ja
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nichts, und ich könnte nicht mehr anders, da lief ich gleich ins Wasser. Es
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war zu schrecklich. Alles. Und was nur aus dem armen Wurm geworden is?
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Ich glaube nicht, daß es noch lebt; sie haben es umkommen lassen, aber
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ich bin doch schuld.« Und sie warf sich vor Annies Wiege nieder und
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wiegte das Kind hin und her und sang in einem fort ihr »Buhküken von
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Halberstadt«.
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»Laß«, sagte Effi. »Singe nicht mehr; ich habe Kopfweh. Aber bringe mir
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die Zeitungen. Oder hat Gieshübler vielleicht die Journale geschickt?«
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»Das hat er. Und die Modezeitung lag obenauf. Da haben wir drin
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geblättert, ich und Johanna, eh sie rüber ging. Johanna ärgert sich immer,
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daß sie so was nicht haben kann. Soll ich die Modezeitung bringen?«
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»Ja, die bringe und bring auch die Lampe.«
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Roswitha ging, und Effi, als sie allein war, sagte: »Womit man sich nicht
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alles hilft? Eine hübsche Dame mit einem Muff und eine mit einem
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Halbschleier; Modepuppen. Aber es ist das Beste, mich auf andre
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Gedanken zu bringen.«
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Im Laufe des andern Vormittags kam ein Telegramm von Innstetten, worin
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er mitteilte, daß er erst mit dem zweiten Zug kommen, also nicht vor Abend
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in Kessin eintreffen werde.
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Der Tag verging in ewiger Unruhe; glücklicherweise kam Gieshübler im
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Laufe des Nachmittags und half über eine Stunde weg. Endlich um sieben
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Uhr fuhr der Wagen vor, Effi trat hinaus, und man begrüßte sich. Innstetten
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war in einer ihm sonst fremden Erregung, und so kam es, daß er die
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Verlegenheit nicht sah, die sich in Effis Herzlichkeit mischte. Drinnen im
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Flur brannten die Lampen und Lichter, und das Teezeug, das Friedrich
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schon auf einen der zwischen den Schränken stehenden Tische gestellt
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hatte, reflektierte den Lichterglanz.
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»Das sieht ja ganz so aus wie damals, als wir hier ankamen. Weißt du
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noch, Effi?«
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Sie nickte.
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»Nur der Haifisch mit seinem Fichtenzweig verhält sich heute ruhiger, und
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auch Rollo spielt den Zurückhaltenden und legt mir nicht mehr die Pfoten
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auf die Schulter. Was ist das mit dir, Rollo?«
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Rollo strich an seinem Herrn vorbei und wedelte.
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»Der ist nicht recht zufrieden, entweder mit mir nicht oder mit andern.
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Nun, ich will annehmen, mit mir. Jedenfalls laß uns eintreten.« Und er trat in
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sein Zimmer und bat Effi, während er sich aufs Sofa niederließ, neben ihm
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Platz zu nehmen. »Es war so hübsch in Berlin, über Erwarten; aber in all
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meiner Freude habe ich mich immer zurückgesehnt. Und wie gut du
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aussiehst! Ein bißchen blaß und ein bißchen verändert, aber es kleidet
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dich.«
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Effi wurde rot.
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»Und nun wirst du auch noch rot. Aber es ist, wie ich dir sage. Du hattest
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so was von einem verwöhnten Kind, mit einemmal siehst du aus wie eine
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Frau.«
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»Das hör ich gern, Geert, aber ich glaube, du sagst es nur so.«
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»Nein, nein, du kannst es dir gutschreiben, wenn es etwas Gutes ist ...«
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»Ich dächte doch.«
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»Und nun rate, von wem ich dir Grüße bringe.«
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»Das ist nicht schwer, Geert. Außerdem, wir Frauen, zu denen ich mich,
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seitdem du wieder da bist, ja rechnen darf (und sie reichte ihm die Hand
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und lachte), wir Frauen, wir raten leicht. Wir sind nicht so schwerfällig wie
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ihr.«
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»Nun, von wem?«
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»Nun, natürlich von Vetter Briest. Er ist ja der einzige, den ich in Berlin
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kenne, die Tanten abgerechnet, die du nicht aufgesucht haben wirst und die
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viel zu neidisch sind, um mich grüßen zu lassen. Hast du nicht auch
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gefunden, alle alten Tanten sind neidisch?«
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»Ja, Effi, das ist wahr. Und daß du das sagst, das ist ganz meine alte Effi
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wieder. Denn du mußt wissen, die alte Effi, die noch aussah wie ein Kind,
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nun, die war auch nach meinem Geschmack. Gradeso wie die jetzige
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gnäd'ge Frau.«
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Meinst du? Und wenn du dich zwischen beiden entscheiden solltest ...«
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»Das ist eine Doktorfrage, darauf lasse ich mich nicht ein. Aber da bringt
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Friedrich den Tee. Wie hat's mich nach dieser Stunde verlangt! Und hab es
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auch ausgesprochen, sogar zu deinem Vetter Briest, als wir bei Dressel
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saßen und in Champagner dein Wohl tranken ... Die Ohren müssen dir
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geklungen haben ... Und weißt du, was dein Vetter dabei sagte?«
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»Gewiß was Albernes. Darin ist er groß.«
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»Das ist der schwärzeste Undank, den ich all mein Lebtag erlebt habe.
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Lassen wir Effi leben', sagte er, 'meine schöne Cousine ... Wissen Sie,
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Innstetten, daß ich Sie am liebsten fordern und totschießen möchte? Denn
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Effi ist ein Engel, und Sie haben mich um diesen Engel gebracht.' Und
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dabei sah er so ernst und wehmütig aus, daß man's beinah hätte glauben
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können.«
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»Oh, diese Stimmung kenne ich an ihm. Bei der wievielten wart ihr?«
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»Ich hab es nicht mehr gegenwärtig, und vielleicht hätte ich es auch
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damals nicht mehr sagen können. Aber das glaub ich, daß es ihm ganz
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ernst war. Und vielleicht wäre es auch das Richtige gewesen. Glaubst du
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nicht, daß du mit ihm hättest leben können?«
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»Leben können. Das ist wenig, Geert. Aber beinah möcht ich sagen, ich
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hätte auch nicht einmal mit ihm leben können.«
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»Warum nicht? Er ist wirklich ein liebenswürdiger und netter Mensch und
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auch ganz gescheit.«
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»Ja, das ist er ...«
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»Aber ...«
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»Aber er ist dalbrig. Und das ist keine Eigenschaft, die wir Frauen lieben,
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auch nicht einmal dann, wenn wir noch halbe Kinder sind, wohin du mich
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immer gerechnet hast und vielleicht, trotz meiner Fortschritte, auch jetzt
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noch rechnest. Das Dalbrige, das ist nicht unsre Sache. Männer müssen
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Männer sein.«
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»Gut, daß du das sagst. Alle Teufel, da muß man sich ja
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zusammennehmen. Und ich kann von Glück sagen, daß ich von so was,
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das wie Zusammennehmen aussieht oder wenigstens ein
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Zusammennehmen in Zukunft fordert, so gut wie direkt herkomme ... Sag,
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wie denkst du dir ein Ministerium?«
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»Ein Ministerium? Nun, das kann zweierlei sein. Es können Menschen
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sein, kluge, vornehme Herren, die den Staat regieren, und es kann auch
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bloß ein Haus sein, ein Palazzo, ein Palazzo Strozzi oder Pitti oder, wenn
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die nicht passen, irgendein andrer. Du siehst, ich habe meine italienische
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Reise nicht umsonst gemacht.«
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»Und könntest du dich entschließen, in solchem Palazzo zu wohnen? Ich
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meine in solchem Ministerium?«
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»Um Gottes willen, Geert, sie haben dich doch nicht zum Minister
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gemacht? Gieshübler sagte so was. Und der Fürst kann alles. Gott, der hat
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es am Ende durchgesetzt, und ich bin erst achtzehn.«
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Innstetten lachte. »Nein, Effi, nicht Minister, so weit sind wir noch nicht.
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Aber vielleicht kommen noch allerhand Gaben in mir heraus, und dann ist
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es nicht unmöglich.«
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Also jetzt noch nicht, noch nicht Minister?«
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»Nein. Und wir werden, die Wahrheit zu sagen, auch nicht einmal in einem
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Ministerium wohnen, aber ich werde täglich ins Ministerium gehen, wie ich
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jetzt in unser Landratsamt gehe, und werde dem Minister Vortrag halten
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und mit ihm reisen, wenn er die Provinzialbehörden inspiziert. Und du wirst
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eine Ministerialrätin sein und in Berlin leben, und in einem halben Jahre
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wirst du kaum noch wissen, daß du hier in Kessin gewesen bist und nichts
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gehabt hast als Gieshübler und die Dünen und die Plantage.«
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Effi sagte kein Wort, und nur ihre Augen wurden immer größer; um ihre
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Mundwinkel war ein nervöses Zucken, und ihr ganzer zarter Körper zitterte.
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Mit einem Male aber glitt sie von ihrem Sitz vor Innstetten nieder,
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umklammerte seine Knie und sagte in einem Ton, wie wenn sie betete:
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»Gott sei Dank!«
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Innstetten verfärbte sich. Was war das? Etwas, was seit Wochen flüchtig,
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aber doch immer sich erneuernd über ihn kam, war wieder da und sprach
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so deutlich aus seinem Auge, daß Effi davor erschrak. Sie hatte sich durch
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ein schönes Gefühl, das nicht viel was andres als ein Bekenntnis ihrer
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Schuld war, hinreißen lassen und dabei mehr gesagt, als sie sagen durfte.
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Sie mußte das wieder ausgleichen, mußte was finden, irgendeinen Ausweg,
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es koste, was es wolle.
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»Steh auf, Effi. Was hast du?«
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Effi erhob sich rasch. Aber sie nahm ihren Platz auf dem Sofa nicht
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wieder ein, sondern schob einen Stuhl mit hoher Lehne heran,
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augenscheinlich weil sie nicht Kraft genug fühlte, sich ohne Stütze zu
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halten.
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»Was hast du?« wiederholte Innstetten. »Ich dachte, du hättest hier
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glückliche Tage verlebt. Und nun rufst du 'Gott sei Dank', als ob dir hier
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alles nur ein Schrecknis gewesen wäre. War ich dir ein Schrecknis? Oder
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war es was andres? Sprich?«
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»Daß du noch fragen kannst, Geert«, sagte sie, während sie mit einer
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äußersten Anstrengung das Zittern ihrer Stimme zu bezwingen suchte.
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»Glückliche Tage! Ja, gewiß, glückliche Tage, aber doch auch andre. Nie
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bin ich die Angst hier ganz losgeworden, nie. Noch keine vierzehn Tage,
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daß es mir wieder über die Schulter sah, dasselbe Gesicht, derselbe fahle
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Teint. Und diese letzten Nächte, wo du fort warst, war es auch wieder da,
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nicht das Gesicht, aber es schlurrte wieder, und Rollo schlug wieder an,
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und Roswitha, die's auch gehört, kam an mein Bett und setzte sich zu mir,
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und erst, als es schon dämmerte, schliefen wir wieder ein. Es ist ein
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Spukhaus, und ich hab es auch glauben sollen, das mit dem Spuk -denn du
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bist ein Erzieher. Ja, Geert, das bist du. Aber laß es sein, wie's will, soviel
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weiß ich, ich habe mich ein ganzes Jahr lang und länger in diesem Hause
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gefürchtet, und wenn ich von hier fortkomme, so wird es, denke ich, von
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mir abfallen, und ich werde wieder frei sein.«
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Innstetten hatte kein Auge von ihr gelassen und war jedem Worte gefolgt.
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Was sollte das heißen: »du bist ein Erzieher«? Und dann das andere, was
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vorausging: »und ich hab es auch glauben sollen, das mit dem Spuk«. Was
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war das alles? Wo kam das her? Und er fühlte seinen leisen Argwohn sich
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wieder regen und fester einnisten. Aber er hatte lange genug gelebt, um zu
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wissen, daß alle Zeichen trügen und daß wir in unsrer Eifersucht, trotz ihrer
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hundert Augen, oft noch mehr in die Irre gehen als in der Blindheit unseres
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Vertrauens. Es konnte ja so sein, wie sie sagte.
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Und wenn es so war, warum sollte sie nicht ausrufen: »Gott sei Dank!«
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Und so, rasch alle Möglichkeiten ins Auge fassend, wurde er seines
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Argwohns wieder Herr und reichte ihr die Hand über en Tisch hin: »Verzeih
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mir, Effi, aber ich war so sehr überrascht von dem allen. Freilich wohl
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meine Schuld. Ich bin immer zu sehr mit mir beschäftigt gewesen. Wir
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Männer sind alle Egoisten. Aber das soll nun anders werden. Ein Gutes hat
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Berlin gewiß: Spukhäuser gibt es da nicht. Wo sollen die auch herkommen?
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Und nun laß uns hinübergehen, daß ich Annie sehe; Roswitha verklagt
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mich sonst als einen unzärtlichen Vater.«
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Effi war unter diesen Worten allmählich ruhiger geworden, und das
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Gefühl, aus einer selbstgeschaffenen Gefahr sich glücklich befreit zu
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haben, gab ihr die Spannkraft und gute Haltung wieder zurück.

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