Dritter Abschnitt
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Am folgenden Morgen, als Florio soeben seine Traumblüten
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abgeschüttelt und vergnügt aus dem Fenster über die in der Morgensonne
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funkelnden Türme und Kuppeln der Stadt hinaussah, trat unerwartet der
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Ritter Donati in das Zimmer. Er war ganz schwarz gekleidet und sah heute
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ungewöhnlich verstört, hastig und beinahe wild aus. Florio erschrak
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ordentlich vor Freude, als er ihn erblickte, denn er gedachte sogleich der
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schönen Frau. «Kann ich sie sehen?» rief er ihm schnell entgegen. Donati
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schüttelte verneinend mit dem Kopfe und sagte, traurig vor sich auf den
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Boden hingehend: «Heute ist Sonntag.» – Dann fuhr er rasch fort, sich
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sogleich wieder ermahnend: «Aber zur Jagd wollt ich Euch abholen.» –
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«Zur Jagd?» erwiderte Florio höchst verwundert, «heute am heiligen
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Tage?» – «Nun wahrhaftig», fiel ihm der Ritter mit einem ingrimmigen,
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abscheulichen Lachen ins Wort, «Ihr wollt doch nicht etwa mit der Buhlerin
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unterm Arme zur Kirche wandeln und im Winkel auf dem Fußschemel knien
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und andächtig Gott helf! sagen, wenn die Frau Base niest.» – «Ich weiß
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nicht, wie Ihr das meint», sagte Florio, «und Ihr mögt immer über mich
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lachen, aber ich könnte heut nicht jagen. Wie da draußen alle Arbeit rastet
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und Wälder und Felder so geschmückt aussehen zu Gottes Ehre, als zögen
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Engel durch das Himmelblau über sie hinweg – so still, so feierlich und
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gnadenreich ist diese Zeit!» – Donati stand in Gedanken am Fenster, und
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Florio glaubte zu bemerken, daß er heimlich schauderte, wie er so in die
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Sonntagsstille der Felder hinaussah.
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Unterdes hatte sich der Glockenklang von den Türmen der Stadt erhoben
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und ging wie ein Beten durch die klare Luft. Da schien Donati erschrocken,
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er griff nach seinem Hute und drang beinahe ängstlich in Florio, ihn zu
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begleiten, der es aber beharrlich verweigerte. «Fort, hinaus!» – rief endlich
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der Ritter halblaut und wie aus tiefster geklemmter Brust herauf, drückte
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dem erstaunten Jüngling die Hand und stürzte aus dem Hause fort.
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Florio wurde recht heimatlich zumute, als darauf der frische, klare Sänger
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Fortunato, wie ein Bote des Friedens, zu ihm ins Zimmer trat. Er brachte
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eine Einladung auf morgen abend nach einem Landhause vor der Stadt.
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«Macht Euch nur gefaßt», setzte er hinzu, «Ihr werdet dort eine alte
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Bekannte treffen!» Florio erschrak ordentlich und fragte hastig: «Wen?»
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Aber Fortunato lehnte lustig alle Erklärung ab und entfernte sich bald.
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Sollte es die schöne Sängerin sein? – dachte Florio still bei sich, und sein
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Herz schlug heftig.
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Er begab sich dann in die Kirche, aber er konnte nicht beten, er war zu
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fröhlich zerstreut. Müßig schlenderte er durch die Gassen. Da sah alles so
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rein und festlich aus, schön geputzte Herren und Damen zogen fröhlich und
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schimmernd nach den Kirchen. Aber, ach! die Schönste war nicht unter
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ihnen! – Ihm fiel dabei sein Abenteuer beim gestrigen Heimzuge ein. Er
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suchte die Gasse auf und fand bald das große schöne Haus wieder; aber
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sonderbar, die Tür war geschlossen, alle Fenster fest zu, es schien
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niemand darin zu wohnen.
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Vergeblich schweifte er den ganzen folgenden Tag in der Gegend umher,
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um nähere Auskunft über seine unbekannte Geliebte zu erhalten oder sie,
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womöglich, gar wiederzusehen. Ihr Palast sowie der Garten, den er in jener
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Mittagsstunde zufällig gefunden, war wie versunken, auch Donati ließ sich
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nicht erblicken. Ungeduldig schlug daher sein Herz vor Freude und
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Erwartung, als er endlich am Abend der Einladung zufolge mit Fortunato,
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der fortwährend den Geheimnisvollen spielte, zum Tore hinaus dem
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Landhause zu ritt.
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Es war schon völlig dunkel, als sie draußen ankamen. Mitten in einem
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Garten, wie es schien, lag eine zierliche Villa mit schlanken Säulen, über
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denen sich von der Zinne ein zweiter Garten von Orangen und vielerlei
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Blumen duftig erhob. Große Kastanienbäume standen umher und streckten
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kühn und seltsam beleuchtet ihre Riesenarme zwischen den aus den
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Fenstern dringenden Scheinen in die Nacht hinaus. Der Herr vom Hause,
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ein feiner, fröhlicher Mann von mittleren Jahren, den aber Florio früher
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jemals gesehen zu haben sich nicht erinnerte, empfing den Sänger und
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seinen Freund herzlich an der Schwelle des Hauses und führte sie die
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breiten Stufen hinan in den Saal.
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Eine fröhliche Tanzmusik scholl ihnen dort entgegen, eine große
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Gesellschaft bewegte sich bunt und zierlich durcheinander im Glanze
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unzähliger Lichter, die gleich Sternenkreisen in kristallenen Leuchtern über
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dem lustigen Schwarme schwebten. Einige tanzten, andere ergötzten sich
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in lebhaftem Gespräch, viele waren maskiert und gaben unwillkürlich durch
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ihre wunderliche Erscheinung dem anmutigen Spiele oft plötzlich eine tiefe,
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fast schauerliche Bedeutung.
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Florio stand noch still geblendet, selber wie ein anmutiges Bild, zwischen
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den schönen schweifenden Bildern. Da trat ein zierliches Mädchen an ihn
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heran, in griechischem Gewande leicht geschürzt, die schönen Haare in
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künstliche Kränze geflochten. Eine Larve verbarg ihr halbes Gesicht und
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ließ die untere Hälfte nur desto rosiger und reizender sehen. Sie verneigte
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sich flüchtig, überreichte ihm eine Rose und war schnell wieder in dem
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Schwarme verloren.
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In demselben Augenblicke bemerkte er auch, daß der Herr vom Hause
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dicht bei ihm stand, ihn prüfend ansah, aber schnell wegblickte, als Florio
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sich umwandte.
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Verwundert durchstrich nun der letztere die rauschende Menge. Was er
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heimlich gehofft, fand er nirgends, und er machte sich beinahe Vorwürfe,
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dem fröhlichen Fortunato so leichtsinnig auf dieses Meer von Lust gefolgt
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zu sein, das ihn nun immer weiter von jener einsamen, hohen Gestalt zu
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verschlagen schien. Sorglos umspülten indes die losen Wellen
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schmeichlerisch neckend den Gedankenvollen und tauschten ihm
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unmerklich die Gedanken aus. Wohl kommt die Tanzmusik, wenn sie auch
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nicht unser Innerstes erschüttert und umkehrt, recht wie ein Frühling leise
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und gewaltig über uns, die Töne tasten zauberisch wie die ersten
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Sommerblicke nach der Tiefe und wecken alle die Lieder, die unten
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gebunden schliefen, und Quellen und Blumen und uralte Erinnerungen und
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das ganze eingefrorene, schwere, stockende Leben wie ein leichter, klarer
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Strom, auf dem das Herz mit rauschenden Wimpeln den lange
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aufgegebenen Wünschen fröhlich wieder zufährt. So hatte die allgemeine
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Lust auch Florio gar bald angesteckt, ihm war recht leicht zumute, als
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müßten sich alle Rätsel, die so schwül auf ihm lasteten, lösen.
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Neugierig suchte er nun die niedliche Griechin wieder auf. Er fand sie in
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einem lebhaften Gespräche mit andern Masken, aber er bemerkte wohl, daß
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auch ihre Augen mitten im Gespräch suchend abseits schweiften und ihn
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schon von ferne wahrgenommen hatten. Er forderte sie zum Tanze. Sie
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verneigte sich freundlich, aber ihre bewegliche Lebhaftigkeit schien wie
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gebrochen, als er ihre Hand berührte und festhielt. Sie folgte ihm still und
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mit gesenktem Köpfchen, man wußte nicht, ob schelmisch oder traurig. Die
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Musik begann, und er konnte keinen Blick verwenden von der reizenden
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Gauklerin, die ihn gleich den Zaubergestalten auf den alten, fabelhaften
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Schildereien umschwebte. «Du kennst mich», flüsterte sie kaum hörbar ihm
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zu, als sich einmal im Tanze ihre Lippen flüchtig beinahe berührten.
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Der Tanz war endlich aus, die Musik hielt plötzlich inne; da glaubte Florio
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seine schöne Tänzerin am andern Ende des Saales noch einmal
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wiederzusehen. Es war dieselbe Tracht, dieselben Farben des Gewandes,
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derselbe Haarschmuck. Das schöne Bild schien unverwandt auf ihn
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herzusehen und stand fortwährend still im Schwarme der nun überall
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zerstreuten Tänzer, wie ein heiteres Gestirn zwischen dem leichten,
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fliegenden Gewölk bald untergeht, bald lieblich wieder erscheint. Die
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zierliche Griechin schien die Erscheinung nicht zu bemerken oder doch
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nicht zu beachten, sondern verließ, ohne ein Wort zu sagen, mit einem
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leisen, flüchtigen Händedruck eilig ihren Tänzer.
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Der Saal war unterdes ziemlich leer geworden. Alles schwärmte in den
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Garten hinab, um sich in der lauen Luft zu ergehen, auch jenes seltsame
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Doppelbild war verschwunden. Florio folgte dem Zuge und schlenderte
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gedankenvoll durch die hohen Bogengänge. Die vielen Lichter warfen einen
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zauberischen Schein zwischen das zitternde Laub. Die hin und her
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schweifenden Masken mit ihren veränderten, grellen Stimmen und
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wunderbarem Aufzuge nahmen sich hier in der ungewissen Beleuchtung
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noch viel seltsamer und fast gespenstisch aus.
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Er war eben, unwillkürlich einen einsamen Pfad einschlagend, ein wenig
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von der Gesellschaft abgekommen, als er eine liebliche Stimme zwischen
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den Gebüschen singen hörte:
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Über die beglänzten Gipfel
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Fernher kommt es wie ein Grüßen,
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Flüsternd neigen sich die Wipfel,
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Als ob sie sich wollten küssen.
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Ist er doch so schön und milde!
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Stimmen gehen durch die Nacht,
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Singen heimlich von dem Bilde –
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Ach, ich bin so froh verwacht!
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Plaudert nicht so laut, ihr Quellen!
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Wissen darf es nicht der Morgen,
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In der Mondnacht linde Wellen
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Senk ich stille Glück und Sorgen.
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Florio folgte dem Gesange und kam auf einen offenen, runden
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Rasenplatz, in dessen Mitte ein Springbrunnen lustig mit den Funken des
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Mondlichts spielte. Die Griechin saß, wie eine schöne Naiade, auf dem
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steinernen Becken. Sie hatte die Larve abgenommen und spielte
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gedankenvoll mit einer Pose in dem schimmernden Wasserspiegel.
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Schmeichlerisch schweifte der Mondschein über den blendendweißen
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Nacken auf und nieder, ihr Gesicht konnte er nicht sehen, denn sie hatte
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ihm den Rücken zugekehrt. – Als sie die Zweige hinter sich rauschen hörte,
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sprang das schöne Bildchen rasch auf, steckte die Larve vor und floh,
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schnell wie ein aufgescheuchtes Reh, wieder zur Gesellschaft zurück.
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Florio mischte sich nun auch wieder in die bunten Reihen der
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Spazierengehenden. Manch zierliches Liebeswort schallte da leise durch
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die laue Luft, der Mondschein hatte mit seinen unsichtbaren Fäden alle die
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Bilder wie in ein goldenes Liebesnetz verstrickt, in das nur die Masken mit
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ihren ungeselligen Parodien manche komische Lücke gerissen. Besonders
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hatte Fortunato sich diesen Abend mehreremal verkleidet und trieb
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fortwährend seltsam wechselnd sinnreichen Spuk, immer neu und
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unerkannt und oft sich selber überraschend durch die Kühnheit und tiefe
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Bedeutsamkeit seines Spieles, so daß er manchmal plötzlich still wurde vor
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Wehmut, wenn die andern sich halbtot lachen wollten.
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Die schöne Griechin ließ sich indes nirgends sehen, sie schien es
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absichtlich zu vermeiden, dem Florio wieder zu begegnen.
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Dagegen hatte ihn der Herr vom Hause recht in Beschlag genommen.
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Künstlich und weit ausholend befragte ihn derselbe weitläufig um sein
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früheres Leben, seine Reisen und seinen künftigen Lebensplan. Florio
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konnte dabei gar nicht vertraulich werden, denn Pietro, so hieß jener, sah
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fortwährend so beobachtend aus, als läge hinter allen den feinen
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Redensarten irgendein besonderer Anschlag auf der Lauer. Vergebens
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sann er hin und her, dem Grunde dieser zudringlichen Neugier auf die Spur
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zu kommen.
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Er hatte sich soeben wieder von ihm losgemacht, als er, um den Ausgang
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einer Allee herumbiegend, mehreren Masken begegnete, unter denen er
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unerwartet die Griechin wieder erblickte. Die Masken sprachen viel und
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seltsam durcheinander, die eine Stimme schien ihm bekannt, doch konnte
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er sich nicht deutlich besinnen. Bald darauf verlor sich eine Gestalt nach
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der andern, bis er sich am Ende, ehe er sich dessen recht versah, allein mit
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dem Mädchen befand. Sie blieb zögernd stehen und sah ihn einige
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Augenblicke schweigend an. Die Larve war fort, aber ein kurzer,
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blütenweißer Schleier, mit allerlei wunderlichen, goldgestickten Figuren
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verziert, verdeckte das Gesichtchen. Er wunderte sich, daß die Scheue nun
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so allein bei ihm aushielt.
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«Ihr habt mich in meinem Gesange belauscht», sagte sie endlich
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freundlich. Es waren die ersten lauten Worte, die er von ihr vernahm. Der
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melodische Klang ihrer Stimme drang ihm durch die Seele, es war, als
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rührte sie erinnernd an alles Liebe, Schöne und Fröhliche, was er im Leben
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erfahren. Er entschuldigte seine Kühnheit und sprach verwirrt von der
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Einsamkeit, die ihn verlockt, seiner Zerstreuung, dem Rauschen der
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Wasserkunst. Einige Stimmen näherten sich unterdes dem Platze. Das
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Mädchen blickte scheu um sich und ging rasch tiefer in die Nacht hinein.
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Sie schien es gern zu sehen, daß Florio ihr folgte.
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Kühn und vertraulicher bat er sie nun, sich nicht länger zu verbergen oder
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doch ihren Namen zu sagen, damit ihre liebliche Erscheinung unter den
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tausend verwirrenden Bildern des Tages ihm nicht wieder verloren ginge.
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«Laßt das», erwiderte sie träumerisch, «nehmt die Blumen des Lebens
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fröhlich, wie sie der Augenblick gibt, und forscht nicht nach den Wurzeln
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im Grunde, denn unten ist es freudlos und still.» Florio sah sie erstaunt an;
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er begriff nicht, wie solche rätselhafte Worte in den Mund des heitern
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Mädchens kamen. Das Mondlicht fiel eben wechselnd zwischen den
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Bäumen auf ihre Gestalt. Da kam es ihm auch vor, als sei sie nun größer,
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schlanker und edler, als vorhin beim Tanze und am Springbrunnen.
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Sie waren indes bis an den Ausgang des Gartens gekommen. Keine
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Lampe brannte mehr hier, nur manchmal hörte man noch eine Stimme in
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der Ferne verhallend. Draußen ruhte der weite Kreis der Gegend still und
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feierlich im prächtigen Mondschein. Auf einer Wiese, die vor ihnen lag,
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bemerkte Florio mehrere Pferde und Menschen, in dem Dämmerlichte
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halbkenntlich durcheinander wirrend.
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Hier blieb seine Begleiterin plötzlich stehen. «Es wird mich erfreuen»,
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sagte sie, «Euch einmal in meinem Hause zu sehen. Unser Freund wird
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Euch hingeleiten. – Lebt wohl!» – Bei diesen Worten schlug sie den
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Schleier zurück, und Florio fuhr erschrocken zusammen. – Es war die
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wunderbare Schöne, deren Gesang er in jenem mittagschwülen Garten
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belauscht. – Aber ihr Gesicht, das der Mond hell beschien, kam ihm bleich
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und regungslos vor, fast wie damals das Marmorbild am Weiher.
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Er sah nun, wie sie über die Wiese dahinging, von mehreren
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reichgeschmückten Dienern empfangen wurde und in einem schnell
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umgeworfenen, schimmernden Jagdkleide einen schneeweißen Zelter
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bestieg. Wie festgebannt von Staunen, Freude und einem heimlichen
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Grauen, das ihn innerlichst überschlich, blieb er stehen, bis Pferde, Reiter
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und die ganze seltsame Erscheinung in die Nacht verschwunden war.
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Ein Rufen aus dem Garten weckte ihn endlich aus seinen Träumen. Er
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erkannte Fortunatos Stimme und eilte, den Freund zu erreichen, der ihn
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schon längst vermißt und vergebens aufgesucht hatte. Dieser wurde seiner
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kaum gewahr, als er ihm schon entgegensang:
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Still in Luft
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Es gebart,
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Aus dem Duft
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Hebt sichs zart,
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Liebchen ruft,
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Liebster schweift
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Durch die Luft;
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Sternwärts greift,
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Seufzt und ruft,
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Herz wird bang,
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Matt wird Duft,
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Zeit wird lang –
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Mondscheinduft,
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Luft in Luft
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Bleibt Liebe und Liebste,
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wie sie gewesen!
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«Aber wo seid Ihr denn auch so lange herumgeschwebt?» schloß er
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endlich lachend. – Um keinen Preis hätte Florio sein Geheimnis verraten
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können. «Lange?» erwiderte er nur, selber erstaunt. Denn in der Tat war der
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Garten unterdes ganz leer geworden, alle Beleuchtung fast erloschen, nur
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wenige Lampen flackerten noch ungewiß wie Irrlichter im Winde hin und
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her.
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Fortunato drang nicht weiter in den Jüngling, und schweigend stiegen sie
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in dem stillgewordenen Hause die Stufen hinan. «Ich löse nun mein Wort»,
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sagte Fortunato, indem sie auf der Terrasse über dem Dache der Villa
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anlangten, wo noch eine kleine Gesellschaft unter dem heiter gestirnten
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Himmel versammelt war. Florio erkannte sogleich mehrere Gesichter, die er
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an jenem ersten, fröhlichen Abende bei den Zelten gesehen. Mitten unter
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ihnen erblickte er auch seine schöne Nachbarin wieder. Aber der fröhliche
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Blumenkranz fehlte heute in den Haaren, ohne Band, ohne Schmuck
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wallten die schönen Locken um das Köpfchen und den zierlichen Hals. Er
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stand fast betroffen still bei dem Anblick. Die Erinnerung an jenen Abend
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überflog ihn mit einer seltsam wehmütigen Gewalt. Es war ihm, als sei das
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schon lange her, so ganz anders war alles seitdem geworden. Das Fräulein
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wurde Bianka genannt und ihm als Pietros Nichte vorgestellt. Sie schien
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ganz verschüchtert, als er sich ihr näherte, und wagte es kaum, zu ihm
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aufzublicken. Er äußerte ihr seine Verwunderung, sie diesen Abend
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hindurch nicht gesehen zu haben. «Ihr habt mich öfter gesehen», sagte sie
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leise, und er glaubte dieses Flüstern wiederzuerkennen. Währenddes wurde
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sie die Rose an seiner Brust gewahr, welche er von der Griechin erhalten,
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und schlug errötend die Augen nieder. Florio merkte es wohl, ihm fiel dabei
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ein, wie er nach dem Tanze die Griechin doppelt gesehen. Mein Gott!
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dachte er verwirrt bei sich, wer war denn das?
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«Es ist gar seltsam», unterbrach sie ablenkend das Stillschweigen, «so
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plötzlich aus der lauten Lust in die weite Nacht hinauszutreten. Seht nur,
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die Wolken gehen oft so schreckhaft wechselnd über den Himmel, daß man
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wahnsinnig werden müßte, wenn man lange hineinsähe; bald wie
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ungeheure Mondgebirge mit schwindligen Abgründen und schrecklichen
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Zacken, ordentlich wie Gesichter, bald wieder wie Drachen, oft plötzlich
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lange Hälse ausstreckend, und drunter schießt der Fluß heimlich wie eine
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goldne Schlange durch das Dunkel, das weiße Haus da drüben sieht aus
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wie ein stilles Marmorbild.» – «Wo?» fuhr Florio bei diesem Worte heftig
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erschreckt aus seinen Gedanken auf. – Das Mädchen sah ihn verwundert
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an, und beide schwiegen einige Augenblicke still. – «Ihr werdet Lucca
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verlassen?» sagte sie endlich zögernd und leise, als fürchtete sie sich vor
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einer Antwort. – «Nein», erwiderte Florio zerstreut, «doch, ja, ja, bald, recht
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sehr bald!» – Sie schien noch etwas sagen zu wollen, wandte aber plötzlich,
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die Worte zurückdrängend, ihr Gesicht ab in die Dunkelheit.
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Er konnte endlich den Zwang nicht länger aushalten. Sein Herz war so
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voll und gepreßt und doch so überselig. Er nahm schnell Abschied, eilte
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hinab und ritt ohne Fortunato und alle Begleitung in die Stadt zurück.
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Das Fenster in seinem Zimmer stand offen, er blickte flüchtig noch einmal
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hinaus. Die Gegend draußen lag unkenntlich und still wie eine wunderbar
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verschränkte Hieroglyphe im zauberischen Mondschein. Er schloß das
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Fenster fast erschrocken und warf sich auf sein Ruhebett hin, wo er wie ein
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Fieberkranker in die wunderlichsten Träume versank.
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Bianka aber saß noch lange auf der Terrasse oben. Alle andern hatten
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sich zur Ruhe begeben, hin und wieder erwachte schon manche Lerche mit
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ungewissem Liede hoch durch die stille Luft schweifend; die Wipfel der
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Bäume fingen an, sich unten zu rühren, falbe Morgenlichter flogen
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wechselnd über ihr erwachtes, von den freigelassenen Locken nachlässig
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umwalltes Gesicht. – Man sagt, daß einem Mädchen, wenn sie in einem aus
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neunerlei Blumen geflochtenen Kranze einschläft, ihr künftiger Bräutigam
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im Traume erscheine. So eingeschlummert hatte Bianka nach jenem Abend
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bei den Zelten Florio im Traume gesehen. – Nun war alles Lüge, er war ja so
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zerstreut, so kalt und fremd. – Sie zerpflückte die trügerischen Blumen, die
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sie bis jetzt wie einen Brautkranz aufbewahrt. Dann lehnte sie die Stirn an
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das kalte Geländer und weinte aus Herzensgrunde.