Abschnitt 13
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Kohlhaas, der inzwischen, wie schon gesagt, in Berlin angekommen, und,
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auf einen Spezialbefehl des Kurfürsten, in ein ritterliches Gefängnis
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gebracht worden war, das ihn mit seinen fünf Kindern, so bequem als es
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sich tun ließ, empfing, war gleich nach Erscheinung des kaiserlichen
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Anwalts aus Wien, auf den Grund wegen Verletzung des öffentlichen,
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kaiserlichen Landfriedens, vor den Schranken des Kammergerichts zur
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Rechenschaft gezogen worden; und ob er schon in seiner Verantwortung
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einwandte, daß er wegen seines bewaffneten Einfalls in Sachsen, und der
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dabei verübten Gewalttätigkeiten, kraft des mit dem Kurfürsten von
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Sachsen zu Lützen abgeschlossenen Vergleichs, nicht belangt werden
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könne: so erfuhr er doch, zu seiner Belehrung, daß des Kaisers Majestät,
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deren Anwalt hier die Beschwerde führe, darauf keine Rücksicht nehmen
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könne: ließ sich auch sehr bald, da man ihm die Sache auseinander setzte
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und erklärte, wie ihm dagegen von Dresden her, in seiner Sache gegen den
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Junker Wenzel von Tronka, völlige Genugtuung widerfahren werde, die
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Sache gefallen. Demnach traf es sich, daß grade am Tage der Ankunft des
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Kämmerers, das Gesetz über ihn sprach, und er verurteilt ward mit dem
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Schwerte vom Leben zum Tode gebracht zu werden; ein Urteil, an dessen
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Vollstreckung gleichwohl, bei der verwickelten Lage der Dinge, seiner Milde
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ungeachtet, niemand glaubte, ja, das die ganze Stadt, bei dem Wohlwollen
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das der Kurfürst für den Kohlhaas trug, unfehlbar durch ein Machtwort
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desselben, in eine bloße, vielleicht beschwerliche und langwierige
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Gefängnisstrafe verwandelt zu sehen hoffte. Der Kämmerer, der gleichwohl
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einsah, daß keine Zeit zu verlieren sein möchte, falls der Auftrag, den ihm
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sein Herr gegeben, in Erfüllung gehen sollte, fing sein Geschäft damit an,
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sich dem Kohlhaas, am Morgen eines Tages, da derselbe in harmloser
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Betrachtung der Vorübergehenden, am Fenster seines Gefängnisses stand,
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in seiner gewöhnlichen Hoftracht, genau und umständlich zu zeigen; und
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da er, aus einer plötzlichen Bewegung seines Kopfes, schloß, daß der
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Roßhändler ihn bemerkt hatte, und besonders, mit großem Vergnügen,
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einen unwillkürlichen Griff desselben mit der Hand auf die Gegend der
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Brust, wo die Kapsel lag, wahrnahm: so hielt er das, was in der Seele
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desselben in diesem Augenblick vorgegangen war, für eine hinlängliche
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Vorbereitung, um in dem Versuch, des Zettels habhaft zu werden, einen
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Schritt weiter vorzurücken. Er bestellte ein altes, auf Krücken
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herumwandelndes Trödelweib zu sich, das er in den Straßen von Berlin,
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unter einem Troß andern, mit Lumpen handelnden Gesindels bemerkt hatte,
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und das ihm, dem Alter und der Tracht nach, ziemlich mit dem, das ihm der
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Kurfürst beschrieben hatte, übereinzustimmen schien; und in der
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Voraussetzung, der Kohlhaas werde sich die Züge derjenigen, die ihm in
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einer flüchtigen Erscheinung den Zettel überreicht hatte, nicht eben tief
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eingeprägt haben, beschloß er, das gedachte Weib statt ihrer
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unterzuschieben, und bei Kohlhaas, wenn es sich tun ließe, die Rolle, als
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ob sie die Zigeunerin wäre, spielen zu lassen. Dem gemäß, um sie dazu in
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Stand zu setzen, unterrichtete er sie umständlich von allem, was zwischen
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dem Kurfürsten und der gedachten Zigeunerin in Jüterbock vorgefallen
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war, wobei er, weil er nicht wußte, wie weit das Weib in ihren Eröffnungen
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gegen den Kohlhaas gegangen war, nicht vergaß, ihr besonders die drei
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geheimnisvollen, in dem Zettel enthaltenen Artikel einzuschärfen; und
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nachdem er ihr auseinandergesetzt hatte, was sie, auf abgerissene und
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unverständliche Weise, fallen lassen müsse, gewisser Anstalten wegen, die
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man getroffen, sei es durch List oder durch Gewalt, des Zettels, der dem
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sächsischen Hofe von der äußersten Wichtigkeit sei, habhaft zu werden,
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trug er ihr auf, dem Kohlhaas den Zettel, unter dem Vorwand, daß derselbe
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bei ihm nicht mehr sicher sei, zur Aufbewahrung während einiger
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verhängnisvollen Tage, abzufordern. Das Trödelweib übernahm auch
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sogleich gegen die Verheißung einer beträchtlichen Belohnung, wovon der
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Kämmerer ihr auf ihre Forderung einen Teil im voraus bezahlen mußte, die
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Ausführung des besagten Geschäfts; und da die Mutter des bei Mühlberg
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gefallenen Knechts Herse, den Kohlhaas, mit Erlaubnis der Regierung,
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zuweilen besuchte, diese Frau ihr aber seit einigen Monden her, bekannt
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war: so gelang es ihr, an einem der nächsten Tage, vermittelst einer kleinen
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Gabe an den Kerkermeister, sich bei dem Roßkamm Eingang zu
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verschaffen. – Kohlhaas aber, als diese Frau zu ihm eintrat, meinte, an
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einem Siegelring, den sie an der Hand trug, und einer ihr vom Hals
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herabhängenden Korallenkette, die bekannte alte Zigeunerin selbst wieder
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zu erkennen, die ihm in Jüterbock den Zettel überreicht hatte; und wie denn
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die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit ist, so traf es
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sich, daß hier etwas geschehen war, das wir zwar berichten: die Freiheit
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aber, daran zu zweifeln, demjenigen, dem es wohlgefällt, zugestehen
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müssen: der Kämmerer hatte den ungeheuersten Mißgriff begangen, und in
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dem alten Trödelweib, das er in den Straßen von Berlin aufgriff, um die
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Zigeunerin nachzuahmen, die geheimnisreiche Zigeunerin selbst getroffen,
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die er nachgeahmt wissen wollte. Wenigstens berichtete das Weib, indem
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sie, auf ihre Krücken gestützt, die Wangen der Kinder streichelte, die sich,
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betroffen von ihrem wunderlichen Anblick, an den Vater lehnten: daß sie
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schon seit geraumer Zeit aus dem Sächsischen ins Brandenburgische
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zurückgekehrt sei, und sich, auf eine, in den Straßen von Berlin
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unvorsichtig gewagte Frage des Kämmerers, nach der Zigeunerin, die im
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Frühjahr des verflossenen Jahres, in Jüterbock gewesen, sogleich an ihn
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gedrängt, und, unter einem falschen Namen, zu dem Geschäfte, das er
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besorgt wissen wollte, angeraten habe. Der Roßhändler, der eine
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sonderbare Ähnlichkeit zwischen ihr und seinem verstorbenen Weibe
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Lisbeth bemerkte, dergestalt, daß er sie hätte fragen können, ob sie ihre
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Großmutter sei: denn nicht nur, daß die Züge ihres Gesichts, ihre Hände,
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auch in ihrem knöchernen Bau noch schön, und besonders der Gebrauch,
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den sie davon im Reden machte, ihn aufs lebhafteste an sie erinnerten:
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auch ein Mal, womit seiner Frauen Hals bezeichnet war, bemerkte er an dem
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ihrigen – der Roßhändler nötigte sie, unter Gedanken, die sich seltsam in
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ihm kreuzten, auf einen Stuhl nieder, und fragte, was sie in aller Welt in
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Geschäften des Kämmerers zu ihm führe? Die Frau, während der alte Hund
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des Kohlhaas ihre Kniee umschnüffelte, und von ihrer Hand gekraut, mit
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dem Schwanz wedelte, antwortete: »der Auftrag, den ihr der Kämmerer
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gegeben, wäre, ihm zu eröffnen, auf welche drei dem sächsischen Hofe
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wichtigen Fragen der Zettel geheimnisvolle Antwort enthalte; ihn vor einem
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Abgesandten, der sich in Berlin befinde, um seiner habhaft zu werden, zu
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warnen: und ihm den Zettel, unter dem Vorwande, daß er an seiner Brust,
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wo er ihn trage, nicht mehr sicher sei, abzufordern. Die Absicht aber, in der
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sie komme, sei, ihm zu sagen, daß die Drohung ihn durch Arglist oder
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Gewalttätigkeit um den Zettel zu bringen, abgeschmackt, und ein leeres
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Trugbild sei; daß er unter dem Schutz des Kurfürsten von Brandenburg, in
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dessen Verwahrsam er sich befinde, nicht das Mindeste für denselben zu
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befürchten habe, ja, daß das Blatt bei ihm weit sicherer sei, als bei ihr, und
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daß er sich wohl hüten möchte, sich durch Ablieferung desselben, an wen
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und unter welchem Vorwand es auch sei, darum bringen zu lassen. –
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Gleichwohl schloß sie, daß sie es für klug hielte, von dem Zettel den
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Gebrauch zu machen, zu welchem sie ihm denselben auf dem Jahrmarkt zu
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Jüterbock eingehändigt, dem Antrag, den man ihm auf der Grenze durch
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den Junker vom Stein gemacht, Gehör zu geben, und den Zettel, der ihm
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selbst weiter nichts nutzen könne, für Freiheit und Leben an den Kurfürsten
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von Sachsen auszuliefern.« Kohlhaas, der über die Macht jauchzte, die ihm
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gegeben war, seines Feindes Ferse, in dem Augenblick, da sie ihn in den
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Staub trat, tödlich zu verwunden, antwortete: nicht um die Welt,
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Mütterchen, nicht um die Welt! und drückte der Alten Hand, und wollte nur
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wissen, was für Antworten auf die ungeheuren Fragen im Zettel enthalten
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wären? Die Frau, inzwischen sie das Jüngste, das sich zu ihren Füßen
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niedergekauert hatte, auf den Schoß nahm, sprach: »nicht um die Welt,
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Kohlhaas, der Roßhändler; aber um diesen hübschen, kleinen, blonden
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Jungen!« und damit lachte sie ihn an, hetzte und küßte ihn, der sie mit
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großen Augen ansah, und reichte ihm, mit ihren dürren Händen, einen
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Apfel, den sie in ihrer Tasche trug, dar. Kohlhaas sagte verwirrt: daß die
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Kinder selbst, wenn sie groß wären, ihn, um seines Verfahrens loben
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würden, und daß er, für sie und ihre Enkel nichts Heilsameres tun könne,
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als den Zettel behalten. Zudem fragte er, wer ihn, nach der Erfahrung, die er
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gemacht, vor einem neuen Betrug sicher stelle, und ob er nicht zuletzt,
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unnützer Weise, den Zettel, wie jüngst den Kriegshaufen, den er in Lützen
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zusammengebracht, an den Kurfürsten aufopfern würde? »Wer mir sein
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Wort einmal gebrochen«, sprach er, »mit dem wechsle ich keins mehr; und
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nur deine Forderung, bestimmt und unzweideutig, trennt mich, gutes
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Mütterchen, von dem Blatt, durch welches mir für alles, was ich erlitten, auf
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so wunderbare Weise Genugtuung geworden ist.« Die Frau, indem sie das
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Kind auf den Boden setzte, sagte: daß er in mancherlei Hinsicht recht hätte,
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und daß er tun und lassen könnte, was er wollte! Und damit nahm sie ihre
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Krücken wieder zur Hand, und wollte gehn. Kohlhaas wiederholte seine
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Frage, den Inhalt des wunderbaren Zettels betreffend; er wünschte, da sie
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flüchtig antwortete: »daß er ihn ja eröffnen könne, obschon es eine bloße
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Neugierde wäre«, noch über tausend andere Dinge, bevor sie ihn verließe,
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Aufschluß zu erhalten; wer sie eigentlich sei, woher sie zu der
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Wissenschaft, die ihr inwohne, komme, warum sie dem Kurfürsten, für den
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er doch geschrieben, den Zettel verweigert, und grade ihm, unter so vielen
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tausend Menschen, der ihrer Wissenschaft nie begehrt, das Wunderblatt
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überreicht habe? – – Nun traf es sich, daß in eben diesem Augenblick ein
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Geräusch hörbar ward, das einige Polizei-Offizianten, die die Treppe
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heraufstiegen, verursachten; dergestalt, daß das Weib, von plötzlicher
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Besorgnis, in diesen Gemächern von ihnen betroffen zu werden, ergriffen,
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antwortete: »auf Wiedersehen Kohlhaas, auf Wiedersehn! Es soll dir, wenn
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wir uns wiedertreffen, an Kenntnis über dies alles nicht fehlen!« Und damit,
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indem sie sich gegen die Tür wandte, rief sie: »lebt wohl, Kinderchen, lebt
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wohl!« küßte das kleine Geschlecht nach der Reihe, und ging ab.
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Inzwischen hatte der Kurfürst von Sachsen, seinen jammervollen
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Gedanken preisgegeben, zwei Astrologen, namens Oldenholm und
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Olearius, welche damals in Sachsen in großem Ansehen standen,
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herbeigerufen, und wegen des Inhalts des geheimnisvollen, ihm und dem
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ganzen Geschlecht seiner Nachkommen so wichtigen Zettels zu Rate
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gezogen; und da die Männer, nach einer, mehrere Tage lang im Schloßturm
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zu Dresden fortgesetzten, tiefsinnigen Untersuchung, nicht einig werden
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konnten, ob die Prophezeiung sich auf späte Jahrhunderte oder aber auf
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die jetzige Zeit beziehe, und vielleicht die Krone Polen, mit welcher die
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Verhältnisse immer noch sehr kriegerisch waren, damit gemeint sei: so
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wurde durch solchen gelehrten Streit, statt sie zu zerstreuen, die Unruhe,
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um nicht zu sagen, Verzweiflung, in welcher sich dieser unglückliche Herr
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befand, nur geschärft, und zuletzt bis auf einen Grad, der seiner Seele ganz
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unerträglich war, vermehrt. Dazu kam, daß der Kämmerer um diese Zeit
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seiner Frau, die im Begriff stand, ihm nach Berlin zu folgen, auftrug, dem
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Kurfürsten, bevor sie abreiste, auf eine geschickte Art beizubringen, wie
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mißlich es nach einem verunglückten Versuch, den er mit einem Weibe
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gemacht, das sich seitdem nicht wieder habe blicken lassen, mit der
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Hoffnung aussehe, des Zettels in dessen Besitz der Kohlhaas sei, habhaft
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zu werden, indem das über ihn gefällte Todesurteil, nunmehr, nach einer
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umständlichen Prüfung der Akten, von dem Kurfürsten von Brandenburg
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unterzeichnet, und der Hinrichtungstag bereits auf den Montag nach
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Palmarum festgesetzt sei; auf welche Nachricht der Kurfürst sich, das Herz
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von Kummer und Reue zerrissen, gleich einem ganz Verlorenen, in seinem
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Zimmer verschloß, während zwei Tage, des Lebens satt, keine Speise zu
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sich nahm, und am dritten plötzlich, unter der kurzen Anzeige an das
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Gubernium, daß er zu dem Fürsten von Dessau auf die Jagd reise, aus
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Dresden verschwand. Wohin er eigentlich ging, und ob er sich nach Dessau
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wandte, lassen wir dahin gestellt sein, indem die Chroniken, aus deren
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Vergleichung wir Bericht erstatten, an dieser Stelle, auf befremdende
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Weise, einander widersprechen und aufheben. Gewiß ist, daß der Fürst von
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Dessau, unfähig zu jagen, um diese Zeit krank in Braunschweig, bei seinem
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Oheim, dem Herzog Heinrich, lag, und daß die Dame Heloise, am Abend des
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folgenden Tages, in Gesellschaft eines Grafen von Königstein, den sie für
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ihren Vetter ausgab, bei dem Kämmerer Herrn Kunz, ihrem Gemahl, in
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Berlin eintraf. – Inzwischen war dem Kohlhaas, auf Befehl des Kurfürsten,
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das Todesurteil vorgelesen, die Ketten abgenommen, und die über sein
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Vermögen lautenden Papiere, die ihm in Dresden abgesprochen worden
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waren, wieder zugestellt worden; und da die Räte, die das Gericht an ihn
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abgeordnet hatte, ihn fragten, wie er es mit dem, was er besitze, nach
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seinem Tode gehalten wissen wolle: so verfertigte er, mit Hülfe eines
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Notars, zu seiner Kinder Gunsten ein Testament, und setzte den Amtmann
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zu Kohlhaasenbrück, seinen wackern Freund, zum Vormund derselben ein.
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Demnach glich nichts der Ruhe und Zufriedenheit seiner letzten Tage; denn
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auf eine sonderbare Spezial-Verordnung des Kurfürsten war bald darauf
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auch noch der Zwinger, in welchem er sich befand, eröffnet, und allen
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seinen Freunden, deren er sehr viele in der Stadt besaß, bei Tag und Nacht
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freier Zutritt zu ihm verstattet worden. Ja, er hatte noch die Genugtuung,
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den Theologen Jakob Freising, als einen Abgesandten Doktor Luthers, mit
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einem eigenhändigen, ohne Zweifel sehr merkwürdigen Brief, der aber
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verloren gegangen ist, in sein Gefängnis treten zu sehen, und von diesem
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geistlichen Herrn in Gegenwart zweier brandenburgischen Dechanten, die
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ihm an die Hand gingen, die Wohltat der heiligen Kommunion zu
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empfangen. Hierauf erschien nun, unter einer allgemeinen Bewegung der
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Stadt, die sich immer noch nicht entwöhnen konnte, auf ein Machtwort, das
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ihn rettete, zu hoffen, der verhängnisvolle Montag nach Palmarum, an
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welchem er die Welt, wegen des allzuraschen Versuchs, sich selbst in ihr
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Recht verschaffen zu wollen, versöhnen sollte. Eben trat er, in Begleitung
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einer starken Wache, seine beiden Knaben auf dem Arm (denn diese
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Vergünstigung hatte er sich ausdrücklich vor den Schranken des Gerichts
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ausgebeten), von dem Theologen Jakob Freising geführt, aus dem Tor
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seines Gefängnisses, als unter einem wehmütigen Gewimmel von
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Bekannten, die ihm die Hände drückten, und von ihm Abschied nahmen,
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der Kastellan des kurfürstlichen Schlosses, verstört im Gesicht, zu ihm
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herantrat, und ihm ein Blatt gab, das ihm, wie er sagte, ein altes Weib für
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ihn eingehändigt. Kohlhaas, während er den Mann der ihm nur wenig
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bekannt war, befremdet ansah, eröffnete das Blatt, dessen Siegelring ihn,
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im Mundlack ausgedrückt, sogleich an die bekannte Zigeunerin erinnerte.
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Aber wer beschreibt das Erstaunen, das ihn ergriff, als er folgende
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Nachricht darin fand: »Kohlhaas, der Kurfürst von Sachsen ist in Berlin; auf
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den Richtplatz schon ist er vorangegangen, und wird, wenn dir daran liegt,
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an einem Hut, mit blauen und weißen Federbüschen kenntlich sein. Die
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Absicht, in der er kömmt, brauche ich dir nicht zu sagen; er will die Kapsel,
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sobald du verscharrt bist, ausgraben, und den Zettel, der darin befindlich
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ist, eröffnen lassen. – Deine Elisabeth.« – Kohlhaas, indem er sich auf das
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äußerste bestürzt zu dem Kastellan umwandte, fragte ihn: ob er das
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wunderbare Weib, das ihm den Zettel übergeben, kenne? Doch da der
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Kastellan antwortete: »Kohlhaas, das Weib« – – und in Mitten der Rede auf
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sonderbare Weise stockte, so konnte er, von dem Zuge, der in diesem
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Augenblick wieder antrat, fortgerissen, nicht vernehmen, was der Mann, der
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an allen Gliedern zu zittern schien, vorbrachte. – Als er auf dem Richtplatz
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ankam, fand er den Kurfürsten von Brandenburg mit seinem Gefolge,
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worunter sich auch der Erzkanzler, Herr Heinrich von Geusau befand, unter
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einer unermeßlichen Menschenmenge, daselbst zu Pferde halten: ihm zur
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Rechten der kaiserliche Anwalt Franz Müller, eine Abschrift des
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Todesurteils in der Hand; ihm zur Linken, mit dem Konklusum des
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Dresdner Hofgerichts, sein eigener Anwalt, der Rechtsgelehrte Anton
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Zäuner; ein Herold in der Mitte des halboffenen Kreises, den das Volk
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schloß, mit einem Bündel Sachen, und den beiden, von Wohlsein
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glänzenden, die Erde mit ihren Hufen stampfenden Rappen. Denn der
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Erzkanzler, Herr Heinrich, hatte die Klage, die er, im Namen seines Herrn, in
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Dresden anhängig gemacht, Punkt für Punkt, und ohne die mindeste
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Einschränkung gegen den Junker Wenzel von Tronka, durchgesetzt;
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dergestalt, daß die Pferde, nachdem man sie durch Schwingung einer
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Fahne über ihre Häupter, ehrlich gemacht, und aus den Händen des
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Abdeckers, der sie ernährt, zurückgezogen hatte, von den Leuten des
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Junkers dickgefüttert, und in Gegenwart einer eigens dazu niedergesetzten
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Kommission, dem Anwalt, auf dem Markt zu Dresden, übergeben worden
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waren. Demnach sprach der Kurfürst, als Kohlhaas von der Wache
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begleitet, auf den Hügel zu ihm heranschritt: Nun, Kohlhaas, heut ist der
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Tag, an dem dir dein Recht geschieht! Schau her, hier liefere ich dir alles,
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was du auf der Tronkenburg gewaltsamer Weise eingebüßt, und was ich,
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als dein Landesherr, dir wieder zu verschaffen, schuldig war, zurück:
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Rappen, Halstuch, Reichsgulden, Wäsche, bis auf die Kurkosten sogar für
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deinen bei Mühlberg gefallenen Knecht Herse. Bist du mit mir zufrieden? –
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Kohlhaas, während er das, ihm auf den Wink des Erzkanzlers
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eingehändigte Konklusum, mit großen, funkelnden Augen überlas, setzte
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die beiden Kinder, die er auf dem Arm trug, neben sich auf den Boden
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nieder; und da er auch einen Artikel darin fand, in welchem der Junker
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Wenzel zu zweijähriger Gefängnisstrafe verurteilt ward: so ließ er sich, aus
261
der Ferne, ganz überwältigt von Gefühlen, mit kreuzweis auf die Brust
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gelegten Händen, vor dem Kurfürsten nieder. Er versicherte freudig dem
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Erzkanzler, indem er aufstand, und die Hand auf seinen Schoß legte, daß
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sein höchster Wunsch auf Erden erfüllt sei; trat an die Pferde heran,
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musterte sie, und klopfte ihren feisten Hals; und erklärte dem Kanzler,
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indem er wieder zu ihm zurückkam, heiter: »daß er sie seinen beiden
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Söhnen Heinrich und Leopold schenke!« Der Kanzler, Herr Heinrich von
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Geusau, vom Pferde herab mild zu ihm gewandt, versprach ihm, in des
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Kurfürsten Namen, daß sein letzter Wille heilig gehalten werden solle: und
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forderte ihn auf, auch über die übrigen im Bündel befindlichen Sachen,
271
nach seinem Gutdünken zu schalten. Hierauf rief Kohlhaas die alte Mutter
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Hersens, die er auf dem Platz wahrgenommen hatte, aus dem Haufen des
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Volks hervor, und indem er ihr die Sachen übergab, sprach er: »da,
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Mütterchen; das gehört dir!« – die Summe, die, als Schadenersatz für ihn,
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bei dem im Bündel liegenden Gelde befindlich war, als ein Geschenk noch,
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zur Pflege und Erquickung ihrer alten Tage, hinzufügend. – – Der Kurfürst
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rief: »nun, Kohlhaas, der Roßhändler, du, dem solchergestalt Genugtuung
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geworden, mache dich bereit, kaiserlicher Majestät, deren Anwalt hier steht,
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wegen des Bruchs ihres Landfriedens, deinerseits Genugtuung zu geben!«
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Kohlhaas, indem er seinen Hut abnahm, und auf die Erde warf, sagte: daß
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er bereit dazu wäre! übergab die Kinder, nachdem er sie noch einmal vom
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Boden erhoben, und an seine Brust gedrückt hatte, dem Amtmann von
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Kohlhaasenbrück, und trat, während dieser sie unter stillen Tränen, vom
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Platz hinwegführte, an den Block. Eben knüpfte er sich das Tuch vom Hals
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ab und öffnete seinen Brustlatz: als er, mit einem flüchtigen Blick auf den
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Kreis, den das Volk bildete, in geringer Entfernung von sich, zwischen zwei
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Rittern, die ihn mit ihren Leibern halb deckten, den wohlbekannten Mann
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mit blauen und weißen Federbüschen wahrnahm. Kohlhaas löste sich,
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indem er mit einem plötzlichen, die Wache, die ihn umringte, befremdenden
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Schritt, dicht vor ihn trat, die Kapsel von der Brust; er nahm den Zettel
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heraus, entsiegelte ihn, und überlas ihn: und das Auge unverwandt auf den
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Mann mit blauen und weißen Federbüschen gerichtet, der bereits süßen
293
Hoffnungen Raum zu geben anfing, steckte er ihn in den Mund und
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verschlang ihn. Der Mann mit blauen und weißen Federbüschen sank, bei
295
diesem Anblick, ohnmächtig, in Krämpfen nieder. Kohlhaas aber, während
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die bestürzten Begleiter desselben sich herabbeugten, und ihn vom Boden
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aufhoben, wandte sich zu dem Schafott, wo sein Haupt unter dem Beil des
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Scharfrichters fiel. Hier endigt die Geschichte vom Kohlhaas. Man legte die
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Leiche unter einer allgemeinen Klage des Volks in einen Sarg; und während
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die Träger sie aufhoben, um sie anständig auf den Kirchhof der Vorstadt zu
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begraben, rief der Kurfürst die Söhne des Abgeschiedenen herbei und
302
schlug sie, mit der Erklärung an den Erzkanzler, daß sie in seiner
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Pagenschule erzogen werden sollten, zu Rittern. Der Kurfürst von Sachsen
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kam bald darauf, zerrissen an Leib und Seele, nach Dresden zurück, wo
305
man das Weitere in der Geschichte nachlesen muß. Vom Kohlhaas aber
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haben noch im vergangenen Jahrhundert, im Mecklenburgischen, einige
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frohe und rüstige Nachkommen gelebt.