19. Kapitel
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Gleich nach sieben ging man zu Tisch, und alles freute sich, daß der
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Weihnachtsbaum, eine mit zahllosen Silberkugeln bedeckte Tanne, noch
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einmal angesteckt wurde. Crampas, der das Ringsche Haus noch nicht
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kannte, war helle Bewunderung. Der Damast, die Weinkühler, das reiche
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Silbergeschirr, alles wirkte herrschaftlich, weit über oberförsterliche
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Durchschnittsverhältnisse hinaus, was darin seinen Grund hatte, daß Rings
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Frau, so scheu und verlegen sie war, aus einem reichen Danziger
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Kornhändlerhause stammte. Von daher rührten auch die meisten der
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ringsumher hängenden Bilder: der Kornhändler und seine Frau, der
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Marienburger Remter und eine gute Kopie nach dem berühmten
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Memlingschen Altarbild in der Danziger Marienkirche. Kloster Olivia war
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zweimal da, einmal in Öl und einmal in Kork geschnitzt. Außerdem befand
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sich über dem Büfett ein sehr nachgedunkeltes Porträt des alten
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Nettelbeck, das noch aus dem bescheidenen Mobiliar des erst vor
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anderthalb Jahren verstorbenen Ringschen Amtsvorgängers herrührte.
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Niemand hatte damals bei der gewöhnlich stattfindenden Auktion das Bild
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des Alten haben wollen, bis Innstetten, der sich über diese Mißachtung
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ärgerte, darauf geboten hatte. Da hatte sich denn auch Ring patriotisch
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besonnen, und der alte Kolbergverteidiger war der Oberförsterei
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verblieben.
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Das Nettelbeckbild ließ ziemlich viel zu wünschen übrig; sonst aber
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verriet alles, wie schon angedeutet, eine beinahe an Glanz streifende
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Wohlhabenheit, und dem entsprach denn auch das Mahl, das aufgetragen
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wurde. Jeder hatte mehr oder weniger seine Freude daran, mit Ausnahme
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Sidoniens. Diese saß zwischen Innstetten und Lindequist und sagte, als sie
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Coras ansichtig wurde: »Da ist ja wieder dies unausstehliche Balg, diese
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Cora. Sehen Sie nur, Innstetten, wie sie die kleinen Weingläser präsentiert,
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ein wahres Kunststück, sie könnte jeden Augenblick Kellnerin werden.
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Ganz unerträglich. Und dazu die Blicke von Ihrem Freund Crampas! Das ist
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so die rechte Saat! Ich frage Sie, was soll dabei herauskommen?«
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Innstetten, der ihr eigentlich zustimmte, fand trotzdem den Ton, in dem
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das alles gesagt wurde, so verletzend herbe daß er spöttisch bemerkte:
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»Ja, meine Gnädigste, was dabei herauskommen soll? Ich weiß es auch
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nicht« – worauf sich Sidonie von ihm ab- und ihrem Nachbarn zur Linken
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zuwandte:
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»Sagen Sie, Pastor, ist diese vierzehnjährige Kokette schon im Unterricht
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bei Ihnen?«
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»Ja, mein gnädiges Fräulein.«
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»Dann müssen Sie mir die Bemerkung verzeihen, daß Sie sie nicht in die
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richtige Schule genommen haben. Ich weiß wohl, es hält das heutzutage
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sehr schwer, aber ich weiß auch, daß die, denen die Fürsorge für junge
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Seelen obliegt, es vielfach an dem rechten Ernst fehlen lassen. Es bleibt
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dabei, die Hauptschuld tragen die Eltern und Erzieher.«
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Lindequist, denselben Ton anschlagend wie Innstetten, antwortete, daß
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das alles sehr richtig, der Geist der Zeit aber zu mächtig sei.
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»Geist der Zeit!« sagte Sidonie. »Kommen Sie mir nicht damit. Das kann
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ich nicht hören, das ist der Ausdruck höchster Schwäche,
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Bankrotterklärung. Ich kenne das; nie scharf zufassen wollen, immer dem
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Unbequemen aus dem Wege gehen. Denn Pflicht ist unbequem. Und so
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wird nur allzuleicht vergessen, daß das uns anvertraute Gut auch mal von
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uns zurückgefordert wird. Eingreifen, lieber Pastor, Zucht. Das Fleisch ist
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schwach, gewiß, aber ...«
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In diesem Augenblick kam ein englisches Roastbeef, von dem Sidonie
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ziemlich ausgiebig nahm, ohne Lindequists Lächeln dabei zu bemerken.
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Und weil sie's nicht bemerkte, so durfte es auch nicht wundernehmen, daß
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sie mit viel Unbefangenheit fortfuhr: »Es kann übrigens alles, was Sie hier
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sehen, nicht wohl anders sein; alles ist schief und verfahren von Anfang
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an. Ring, Ring – wenn ich nicht irre, hat es drüben in Schweden oder da
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herum mal einen Sagenkönig dieses Namens gegeben. Nun sehen Sie,
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benimmt er sich nicht, als ob er von dem abstamme? Und seine Mutter, die
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ich noch gekannt habe, war eine Plättfrau in Köslin.«
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»Ich kann darin nichts Schlimmes finden.«
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»Schlimmes finden? Ich auch nicht. Und jedenfalls gibt es Schlimmeres.
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Aber soviel muß ich doch von Ihnen, als einem geweihten Diener der
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Kirche, gewärtigen dürfen, daß Sie die gesellschaftlichen Ordnungen gelten
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lassen. Ein Oberförster ist ein bißchen mehr als ein Förster, und ein Förster
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hat nicht solche Weinkühler und solch Silberzeug; das alles ist ungehörig
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und zieht dann solche Kinder groß wie dies Fräulein Cora. «
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Sidonie, jedesmal bereit, irgendwas Schreckliches zu prophezeien, wenn
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sie, vom Geist überkommen, die Schalen ihres Zorns ausschüttete, würde
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sich auch heute bis zum Kassandrablick in die Zukunft gesteigert haben,
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wenn nicht in ebendiesem Augenblick die dampfende Punschbowle –
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womit die Weihnachtsreunions bei Ring immer abschlossen – auf der Tafel
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erschienen wäre, dazu Krausgebackenes, das, geschickt
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übereinandergetürmt, noch weit über die vor einigen Stunden aufgetragene
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Kaffeekuchenpyramide hinauswuchs. Und nun trat auch Ring selbst, der
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sich bis dahin etwas zurückgehalten hatte, mit einer gewissen strahlenden
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Feierlichkeit in Aktion und begann die vor ihm stehenden Gläser, große
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geschliffene Römer, in virtuosem Bogensturz zu füllen, ein
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Einschenkekunststück, das die stets schlagfertige Frau von Padden, die
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heute leider fehlte, mal als »Ringsche Füllung en cascade« bezeichnet
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hatte. Rotgolden wölbte sich dabei der Strahl, und kein Tropfen durfte
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verlorengehen. So war es auch heute wieder. Zuletzt aber, als jeder, was
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ihm zukam, in Händen hielt – auch Cora, die sich mittlerweile mit ihrem
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rotblonden Wellenhaar auf »Onkel Crampas'« Schoß gesetzt hatte –, erhob
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sich der alte Papenhagner, um, wie herkömmlich bei Festlichkeiten der Art,
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einen Toast auf seinen lieben Oberförster auszubringen. Es gäbe viele
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Ringe, so etwa begann er, Jahresringe, Gardinenringe, Trauringe, und was
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nun gar – denn auch davon dürfe sich am Ende wohl sprechen lassen – die
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Verlobungsringe angehe, so sei glücklicherweise die Gewähr gegeben, daß
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einer davon in kürzester Frist in diesem Hause sichtbar werden und den
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Ringfinger (und zwar hier in einem doppelten Sinne den Ringfinger) eines
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kleinen hübschen Pätschelchens zieren werde...
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»Unerhört«, raunte Sidonie dem Pastor zu.
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»Ja, meine Freunde«, fuhr Güldenklee mit gehobener Stimme fort, »viele
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Ringe gibt es, und es gibt sogar eine Geschichte, die wir alle kennen, die
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die Geschichte von den 'drei Ringen' heißt, eine Judengeschichte, die, wie
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der ganze liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil gestiftet
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hat und noch stiftet. Gott bessere es. Und nun lassen Sie mich schließen,
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um Ihre Geduld und Nachsicht nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen.
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Ich bin nicht für diese drei Ringe, meine Lieben, ich bin vielmehr für einen
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Ring, für einen Ring, der so recht ein Ring ist, wie er sein soll, ein Ring, der
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alles Gute, was wir in unsrem altpommerschen Kessiner Kreise haben,
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alles, was noch mit Gott für König und Vaterland einsteht – und es sind
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ihrer noch einige (lauter Jubel) –, an diesem seinem gastlichen Tisch
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vereinigt sieht. Für diesen Ring bin ich. Er lebe hoch!«
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Alles stimmte ein und umdrängte Ring, der, solange das dauerte, das Amt
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des »Einschenkens en cascade« an den ihm gegenübersitzenden Crampas
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abtreten mußte; der Hauslehrer aber stürzte von seinem Platz am unteren
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Ende der Tafel an das Klavier und schlug die ersten Takte des
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Preußenliedes an, worauf alles stehend und feierlich einfiel: »Ich bin ein
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Preuße ... will ein Preuße sein.«
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»Es ist doch etwas Schönes«, sagte gleich nach der ersten Strophe der
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alte Borcke zu Innstetten, »so was hat man in anderen Ländern nicht.«
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»Nein«, antwortete Innstetten, der von solchem Patriotismus nicht viel
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hielt, »in anderen Ländern hat man was anderes.«
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Man sang alle Strophen durch, dann hieß es, die Wagen seien
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vorgefahren, und gleich danach erhob sich alles, um die Pferde nicht
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warten zu lassen. Denn diese Rücksicht »auf die Pferde« ging auch im
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Kreise Kessin allem anderen vor. Im Hausflur standen zwei hübsche Mägde,
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Ring hielt auf dergleichen, um den Herrschaften beim Anziehen ihrer Pelze
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behilflich zu sein. Alles war heiter angeregt, einige mehr als das, und das
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Einsteigen in die verschiedenen Gefährte schien sich schnell und ohne
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Störung vollziehen zu sollen, als es mit einemmal hieß, der Gieshüblersche
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Schlitten sei nicht da. Gieshübler selbst war viel zu artig, um gleich Unruhe
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zu zeigen oder gar Lärm zu machen; endlich aber, weil doch wer das Wort
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nehmen mußte, fragte Crampas, was es denn eigentlich sei.
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»Mirambo kann nicht fahren«, sagte der Hofknecht; »das linke Pferd hat
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ihn beim Anspannen vor das Schienbein geschlagen. Er liegt im Stall und
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schreit.«
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Nun wurde natürlich nach Doktor Hannemann gerufen, der denn auch
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hinausging und nach fünf Minuten mit echter Chirurgenruhe versicherte: ja,
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Mirambo müsse zurückbleiben; es sei vorläufig in der Sache nichts zu
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machen als stilliegen und kühlen. Übrigens von Bedenklichem keine Rede.
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Das war nun einigermaßen ein Trost, aber schaffte doch die Verlegenheit,
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wie der Gieshüblersche Schlitten zurückzufahren sei, nicht aus der Welt,
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bis Innstetten erklärte, daß er für Mirambo einzutreten und das Zwiegestirn
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von Doktor und Apotheker persönlich glücklich heimzusteuern gedenke.
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Lachend und unter ziemlich angeheiterten Scherzen gegen den
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verbindlichsten aller Landräte, der sich, um hilfreich zu sein, sogar von
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seiner jungen Frau trennen wolle, wurde dem Vorschlag zugestimmt, und
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Innstetten, mit Gieshübler und dem Doktor im Fond, nahm jetzt wieder die
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Tete. Crampas und Lindequist folgten unmittelbar. Und als gleich danach
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auch Kruse mit dem landrätlichen Schlitten vorfuhr, trat Sidonie lächelnd
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an Effi heran und bat diese, da ja nun ein Platz frei sei, mit ihr fahren zu
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dürfen. »In unserer Kutsche ist es immer so stickig; mein Vater liebt das.
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Und außerdem, ich möchte so gerne mit Ihnen plaudern. Aber nur bis
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Quappendorf. Wo der Morgnitzer Weg abzweigt, steig ich aus und muß
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dann wieder in unseren unbequemen Kasten. Und Papa raucht auch noch.«
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Effi war wenig erfreut über diese Begleitung und hätte die Fahrt lieber
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allein gemacht; aber ihr blieb keine Wahl, und so stieg denn das Fräulein
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ein, und kaum daß beide Damen ihre Plätze genommen hatten, so gab
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Kruse den Pferden auch schon einen Peitschenknips, und von der
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oberförsterlichen Rampe her, von der man einen prächtigen Ausblick auf
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das Meer hatte, ging es die ziemlich steile Düne hinunter auf den
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Strandweg zu, der, eine Meile lang, in beinahe gerader Linie bis an das
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Kessiner Strandhotel und von dort aus, rechts einbiegend, durch die
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Plantage hin in die Stadt führte.
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Der Schneefall hatte schon seit ein paar Stunden aufgehört, die Luft war
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frisch, und auf das weite dunkelnde Meer fiel der matte Schein der
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Mondsichel. Kruse fuhr hart am Wasser hin, mitunter den Schaum der
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Brandung durchschneidend, und Effi, die etwas fröstelte, wickelte sich
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fester in ihren Mantel und schwieg noch immer und mit Absicht. Sie wußte
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recht gut, daß das mit der »stickigen Kutsche« bloß ein Vorwand gewesen
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und daß sich Sidonie nur zu ihr gesetzt hatte, um ihr etwas Unangenehmes
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zu sagen. Und das kam immer noch früh genug. Zudem war sie wirklich
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müde, vielleicht von dem Spaziergange im Walde, vielleicht auch von dem
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oberförsterlichen Punsch, dem sie, auf Zureden der neben ihr sitzenden
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Frau von Flemming, tapfer zugesprochen hatte. Sie tat denn auch, als ob
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sie schliefe, schloß die Augen und neigte den Kopf immer mehr nach links.
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»Sie sollten sich nicht so sehr nach links beugen, meine gnädigste Frau.
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Fährt der Schlitten auf einen Stein, so fliegen Sie hinaus. Ihr Schlitten hat
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ohnehin kein Schutzleder und, wie ich sehe, auch nicht einmal die Haken
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dazu.«
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»Ich kann die Schutzleder nicht leiden; sie haben so was Prosaisches.
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Und dann, wenn ich hinausflöge, mir wär es recht, am liebsten gleich in die
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Brandung. Freilich ein etwas kaltes Bad, aber was tut's ... Übrigens, hören
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Sie nichts?«
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»Nein. «
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»Hören Sie nicht etwas wie Musik?«
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Orgel?«
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»Nein, nicht Orgel. Da würd ich denken, es sei das Meer. Aber es ist etwas
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anderes, ein unendlich feiner Ton, fast wie menschliche Stimme ...«
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»Das sind Sinnestäuschungen«, sagte Sidonie, die jetzt den richtigen
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Einsetzmoment gekommen glaubte. »Sie sind nervenkrank. Sie hören
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Stimmen. Gebe Gott, daß Sie auch die richtige Stimme hören.«
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»Ich höre ... nun, gewiß, es ist Torheit, ich weiß, sonst würd ich mir
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einbilden, ich hätte die Meerfrauen singen hören ... Aber, ich bitte Sie, was
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ist das? Es blitzt ja bis hoch in den Himmel hinauf. Das muß ein Nordlicht
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sein.«
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»Ja«, sagte Sidonie. »Gnädigste Frau tun ja, als ob es ein Weltwunder
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wäre. Das ist es nicht. Und wenn es dergleichen wäre, wir haben uns vor
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Naturkultus zu hüten. Übrigens ein wahres Glück, daß wir außer Gefahr
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sind, unsern Freund Oberförster, diesen eitelsten aller Sterblichen, über
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dies Nordlicht sprechen zu hören. Ich wette, daß er sich einbilden würde,
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das tue ihm der Himmel zu Gefallen, um sein Fest noch festlicher zu
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machen. Er ist ein Narr. Güldenklee konnte Besseres tun, als ihn feiern.
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Und dabei spielt er sich auf den Kirchlichen aus und hat auch neulich eine
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Altardecke geschenkt. Vielleicht, daß Cora daran mitgestickt hat. Diese
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Unechten sind schuld an allem, denn ihre Weltlichkeit liegt immer obenauf
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und wird denen mit angerechnet, die's ernst mit dem Heil ihrer Seele
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meinen.«
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»Es ist so schwer, ins Herz zu sehen!«
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»Ja. Das ist es. Aber bei manchem ist es auch ganz leicht.« Und dabei sah
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sie die junge Frau mit beinahe ungezogener Eindringlichkeit an. Effi
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schwieg und wandte sich ungeduldig zur Seite.
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»Bei manchem, sag ich, ist es ganz leicht«, wiederholte Sidonie, die ihren
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Zweck erreicht hatte und deshalb ruhig lächelnd fortfuhr. »Und zu diesen
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leichten Rätseln gehört unser Oberförster. Wer seine Kinder so erzieht, den
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beklag ich, aber das eine Gute hat es, es liegt bei ihm alles klar da. Und wie
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bei ihm selbst, so bei den Töchtern. Cora geht nach Amerika und wird
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Millionärin oder Methodistenpredigerin; in jedem Fall ist sie verloren. Ich
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habe noch keine Vierzehnjährige gesehen ...«
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In diesem Augenblick hielt der Schlitten, und als sich beide Damen
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umsahen, um in Erfahrung zu bringen, was es denn eigentlich sei,
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bemerkten sie, daß rechts von ihnen, in etwa dreißig Schritt Abstand, auch
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die beiden anderen Schlitten hielten – am weitesten nach rechts der von
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Innstetten geführte, näher heran der Crampassche.
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»Was ist?« fragte Effi.
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Kruse wandte sich halb herum und sagte: »Der Schloon, gnäd'ge Frau.«
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»Der Schloon? Was ist das? Ich sehe nichts.«
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Kruse wiegte den Kopf hin und her, wie wenn er ausdrücken wollte, daß
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die Frage leichter gestellt als beantwortet sei.
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Worin er auch recht hatte. Denn was der Schloon sei, das war nicht so mit
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drei Worten zu sagen. Kruse fand aber in seiner Verlegenheit alsbald Hilfe
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bei dem gnädigen Fräulein, das hier mit allem Bescheid wußte und
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natürlich auch mit dem Schloon.
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»Ja, meine gnädigste Frau«, sagte Sidonie, »da steht es schlimm. Für
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mich hat es nicht viel auf sich, ich komme bequem durch; denn wenn erst
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die Wagen heran sind, die haben hohe Räder, und unsere Pferde sind
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außerdem daran gewöhnt. Aber mit solchem Schlitten ist es was anderes;
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die versinken im Schloon, und Sie werden wohl oder übel einen Umweg
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machen müssen.«
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»Versinken! Ich bitte Sie, mein gnädigstes Fräulein, ich sehe noch immer
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nicht klar. Ist denn der Schloon ein Abgrund oder irgendwas, drin man mit
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Mann und Maus zugrunde gehen muß? Ich kann mir so was hierzulande gar
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nicht denken.«
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»Und doch ist es so was, nur freilich im kleinen; dieser Schloon ist
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eigentlich bloß ein kümmerliches Rinnsal, das hier rechts vom Gothener
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See herunterkommt und sich durch die Dünen schleicht. Und im Sommer
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trocknet es mitunter ganz aus, und Sie fahren dann ruhig drüber hin und
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wissen es nicht einmal.«
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»Und im Winter?«
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»Ja, im Winter, da ist es was anderes; nicht immer, aber doch oft. Da wird
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es dann ein Sog.«
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»Mein Gott, was sind das nur alles für Namen und Wörter!«
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»... Da wird es ein Sog, und am stärksten immer dann, wenn der Wind
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nach dem Lande hin steht. Dann drückt der Wind das Meerwasser in das
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kleine Rinnsal hinein, aber nicht so, daß man es sehen kann. Und das ist
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das Schlimmste von der Sache, darin steckt die eigentliche Gefahr. Alles
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geht nämlich unterirdisch vor sich, und der ganze Strandsand ist dann bis
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tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefüllt. Und wenn man dann über
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solche Sandstelle weg will, die keine mehr ist, dann sinkt man ein, als ob es
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ein Sumpf oder ein Moor wäre.«
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»Das kenn ich«, sagte Effi lebhaft. »Das ist wie in unsrem Luch«, und
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inmitten all ihrer Ängstlichkeit wurde ihr mit einem Male ganz wehmütig
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freudig zu Sinn.
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Während das Gespräch noch so ging und sich fortsetzte, war Crampas
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aus seinem Schlitten ausgestiegen und auf den am äußersten Flügel
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haltenden Gieshüblerschen zugeschritten, um hier mit Innstetten zu
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verabreden, was nun wohl eigentlich zu tun sei. Knut, so meldete er, wolle
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die Durchfahrt riskieren, aber Knut sei dumm und verstehe nichts von der
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Sache; nur solche, die hier zu Hause seien, müßten die Entscheidung
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treffen. Innstetten – sehr zu Crampas' Überraschung – war auch fürs
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»Riskieren«, es müsse durchaus noch mal versucht werden ... er wisse
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schon, die Geschichte wiederholte sich jedesmal: Die Leute hier hätten
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einen Aberglauben und vorweg eine Furcht, während es doch eigentlich
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wenig zu bedeuten habe. Nicht Knut, der wisse nicht Bescheid, wohl aber
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Kruse solle noch einmal einen Anlauf nehmen und Crampas derweilen bei
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den Damen einsteigen (ein kleiner Rücksitz sei ja noch da), um bei der
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Hand zu sein, wenn der Schlitten umkippe. Das sei doch schließlich das
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Schlimmste, was geschehen könne.
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Mit dieser Innstettenschen Botschaft erschien jetzt Crampas bei den
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beiden Damen und nahm, als er lachend seinen Auftrag ausgeführt hatte,
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ganz nach empfangener Order den kleinen Sitzplatz ein, der eigentlich
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nichts als eine mit Tuch überzogene Leiste war, und rief Kruse zu: »Nun,
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vorwärts, Kruse. «
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Dieser hatte denn auch die Pferde bereits um hundert Schritte
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zurückgezoppt und hoffte, scharf anfahrend, den Schlitten glücklich
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durchbringen zu können; im selben Augenblick aber, wo die Pferde den
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Schloon auch nur berührten, sanken sie bis über die Knöchel in den Sand
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ein, so daß sie nur mit Mühe nach rückwärts wieder heraus konnten.
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»Es geht nicht«, sagte Crampas, und Kruse nickte.
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Während sich dies abspielte, waren endlich auch die Kutschen
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herangekommen, die Grasenabbsche vorauf, und als Sidonie, nach kurzem
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Dank gegen Effi, sich verabschiedet und dem seine türkische Pfeife
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rauchenden Vater gegenüber ihren Rückplatz eingenommen hatte, ging es
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mit dem Wagen ohne weiteres auf den Schloon zu; die Pferde sanken tief
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ein, aber die Räder ließen alle Gefahr leicht überwinden, und ehe eine halbe
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Minute vorüber war, trabten auch schon die Grasenabbs drüben weiter. Die
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andern Kutschen folgten. Effi sah ihnen nicht ohne Neid nach. Indessen
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nicht lange, denn auch für die Schlittenfahrer war in der zwischenliegenden
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Zeit Rat geschafft worden, und zwar einfach dadurch, daß sich Innstetten
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entschlossen hatte, statt aller weiteren Forcierung das friedlichere Mittel
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eines Umwegs zu wählen. Also genau das, was Sidonie gleich anfangs in
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Sicht gestellt hatte. Vom rechten Flügel her klang des Landrats bestimmte
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Weisung herüber, vorläufig diesseits zu bleiben und ihm durch die Dünen
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hin bis an eine weiter hinauf gelegene Bohlenbrücke zu folgen. Als beide
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Kutscher, Knut und Kruse, so verständigt waren, trat der Major, der, um
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Sidonie zu helfen, gleichzeitig mit dieser ausgestiegen war, wieder an Effi
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heran und sagte: »Ich kann Sie nicht allein lassen, gnäd'ge Frau.«
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Effi war einen Augenblick unschlüssig, rückte dann aber rasch von der
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einen Seite nach der anderen hinüber, und Crampas nahm links neben ihr
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Platz.
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All dies hätte vielleicht mißdeutet werden können, Crampas selbst aber
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war zu sehr Frauenkenner, um es sich bloß in Eitelkeit zurechtzulegen. Er
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sah deutlich, daß Effi nur tat, was nach Lage der Sache das einzig Richtige
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war. Es war unmöglich für sie, sich seine Gegenwart zu verbitten. Und so
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ging es denn im Fluge den beiden anderen Schlitten nach, immer dicht an
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dem Wasserlauf hin, an dessen anderem Ufer dunkle Waldmassen
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aufragten. Effi sah hinüber und nahm an, daß schließlich an dem
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landeinwärts gelegenen Außenrand des Waldes hin die Weiterfahrt gehen
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würde, genau also den Weg entlang, auf dem man in früher
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Nachmittagsstunde gekommen war. Innstetten aber hatte sich inzwischen
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einen anderen Plan gemacht, und im selben Augenblick, wo sein Schlitten
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die Bohlenbrücke passierte, bog er, statt den Außenweg zu wählen, in einen
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schmaleren Weg ein, der mitten durch die dichte Waldmasse
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hindurchführte. Effi schrak zusammen. Bis dahin waren Luft und Licht um
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sie her gewesen, aber jetzt war es damit vorbei, und die dunklen Kronen
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wölbten sich über ihr. Ein Zittern überkam sie, und sie schob die Finger fest
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ineinander, um sich einen Halt zu geben Gedanken und Bilder jagten sich,
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und eines dieser Bilder war das Mütterchen in dem Gedichte, das die
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»Gottesmauer« hieß, und wie das Mütterchen, so betete auch sie jetzt, daß
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Gott eine Mauer um sie her bauen möge. Zwei, drei Male kam es auch über
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ihre Lippen, aber mit einemmal fühlte sie, daß es tote Worte waren. Sie
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fürchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann und wollte
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auch nicht heraus.
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»Effi«, klang es jetzt leise an ihr Ohr, und sie hörte, daß seine Stimme
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zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch immer
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geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen. Es war ihr, als
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wandle sie eine Ohnmacht an.
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Als sie die Augen wieder öffnete, war man aus dem Wald heraus, und in
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geringer Entfernung vor sich hörte sie das Geläut der vorauseilenden
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Schlitten. Immer vernehmlicher klang es, und als man, dicht vor Utpatels
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Mühle, von den Dünen her in die Stadt einbog, lagen rechts die kleinen
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Häuser mit ihren Schneedächern neben ihnen.
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Effi blickte sich um, und im nächsten Augenblick hielt der Schlitten vor
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dem landrätlichen Hause.