Fünfter Auftritt
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Orsina. Marinelli.
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Marinelli: Haben Sie es, gnädige Gräfin, nun von ihm selbst gehört, was Sie
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mir nicht glauben wollen?
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Orsina (wie betäubt): Hab ich? hab ich wirklich?
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Marinelli: Wirklich.
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Orsina (mit Rührung): »Ich bin beschäftiget. Ich bin nicht allein.« Ist das die
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Entschuldigung ganz, die ich wert bin? Wen weiset man damit nicht ab?
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Jeden Überlästigen, jeden Bettler. Für mich keine einzige Lüge mehr?
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Keine einzige kleine Lüge mehr, für mich? – Beschäftiget? womit denn?
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Nicht allein? wer wäre denn bei ihm? – Kommen Sie, Marinelli; aus
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Barmherzigkeit, lieber Marinelli! Lügen Sie mir eines auf eigene
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Rechnung vor. Was kostet Ihnen denn eine Lüge? – Was hat er zu tun?
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Wer ist bei ihm? – Sagen Sie mir, sagen Sie mir, was Ihnen zuerst in
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den Mund kömmt – und ich gehe.
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Marinelli (vor sich): Mit dieser Bedingung kann ich ihr ja wohl einen Teil der
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Wahrheit sagen.
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Orsina: Nun? Geschwind, Marinelli, und ich gehe. – Er sagte ohnedem, der
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Prinz: »Ein andermal, meine liebe Gräfin!« Sagte er nicht so? – Damit
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er mir Wort hält, damit er keinen Vorwand hat, mir nicht Wort zu halten:
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geschwind, Marinelli, Ihre Lüge, und ich gehe.
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Marinelli: Der Prinz, liebe Gräfin, ist wahrlich nicht allein. Es sind Personen
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bei ihm, von denen er sich keinen Augenblick abmüßigen kann;
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Personen, die eben einer großen Gefahr entgangen sind. Der Graf
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Appiani
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Orsina: Wäre bei ihm? – Schade, daß ich über diese Lüge Sie ertappen
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muß. Geschwind eine andere. – Denn Graf Appiani, wenn Sie es noch
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nicht wissen, ist eben von Räubern erschossen worden. Der Wagen mit
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seinem Leichname begegnete mir kurz vor der Stadt. – Oder ist er
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nicht? Hätte es mir bloß geträumt?
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Marinelli: Leider nicht bloß geträumt! – Aber die andern, die mit dem Grafen
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waren, haben sich glücklich hieher nach dem Schlosse gerettet: seine
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Braut nämlich und die Mutter der Braut, mit welchen er nach Sabionetta
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zu seiner feierlichen Verbindung fahren wollte.
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Orsina: Also die? Die sind bei dem Prinzen? Die Braut? und die Mutter der
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Braut? – Ist die Braut schön?
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Marinelli: Dem Prinzen geht ihr Unfall ungemein nahe.
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Orsina: Ich will hoffen, auch wenn sie häßlich wäre. Denn ihr Schicksal ist
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schrecklich. – Armes gutes Mädchen, eben da er dein auf immer
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werden sollte, wird er dir auf immer entrissen! – Wer ist sie denn, diese
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Braut? Kenn ich sie gar? – Ich bin so lange aus der Stadt, daß ich von
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nichts weiß.
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Marinelli: Es ist Emilia Galotti.
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Orsina: Wer? – Emilia Galotti? Emilia Galotti? – Marinelli! daß ich diese
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Lüge nicht für Wahrheit nehme!
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Marinelli: Wieso?
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Orsina: Emilia Galotti?
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Marinelli: Die Sie schwerlich kennen werden –
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Orsina: Doch! doch! Wenn es auch nur von heute wäre. – Im Ernst,
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Marinelli? Emilia Galotti? – Emilia Galotti wäre die unglückliche Braut,
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die der Prinz tröstet?
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Marinelli (vor sich): Sollte ich ihr schon zuviel gesagt haben?
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Orsina: Und Graf Appiani war der Bräutigam dieser Braut? der eben
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erschossene Appiani?
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Marinelli: Nicht anders.
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Orsina: Bravo! o bravo! bravo! (In die Hände schlagend.)
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Marinelli: Wie das?
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Orsina: Küssen möcht' ich den Teufel, der ihn dazu verleitet hat!
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Marinelli: Wen? verleitet? wozu?
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Orsina: Ja, küssen, küssen möcht' ich ihn – Und wenn Sie selbst dieser
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Teufel wären, Marinelli.
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Marinelli: Gräfin!
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Orsina: Kommen Sie her! Sehen Sie mich an! steif an! Aug' in Auge!
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Marinelli: Nun?
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Orsina: Wissen Sie nicht, was ich denke?
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Marinelli: Wie kann ich das?
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Orsina: Haben Sie keinen Anteil daran?
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Marinelli: Woran?
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Orsina: Schwören Sie! – Nein, schwören Sie nicht. Sie möchten eine Sünde
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mehr begehen. – Oder ja, schwören Sie nur. Eine Sünde mehr oder
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weniger für einen, der doch verdammt ist! – Haben Sie keinen Anteil
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daran?
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Marinelli: Sie erschrecken mich, Gräfin.
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Orsina: Gewiß? – Nun, Marinelli, argwohnet Ihr gutes Herz auch nichts?
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Marinelli: Was? worüber?
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Orsina: Wohl – so will ich Ihnen etwas vertrauen – etwas, das Ihnen jedes
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Haar auf dem Kopfe zu Berge sträuben soll. – Aber hier, so nahe an der
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Türe, möchte uns jemand hören. Kommen Sie hierher! – Und! (Indem
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sie den Finger auf den Mund legt) Hören Sie! ganz in geheim! ganz in
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geheim! (und ihren Mund seinem Ohre nähert, als ob sie ihm zuflüstern
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wollte, was sie aber sehr laut ihm zuschreiet.) Der Prinz ist ein Mörder!
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Marinelli: Gräfin – Gräfin – sind Sie ganz von Sinnen?
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Orsina: Von Sinnen? Ha! ha! ha! (Aus vollem Halse lachend.) Ich bin selten
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oder nie mit meinem Verstande so wohl zufrieden gewesen als eben
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itzt. – Zuverlässig, Marinelli – aber es bleibt unter uns – (leise) der Prinz
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ist ein Mörder! des Grafen Appiani Mörder! – Den haben nicht Räuber,
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den haben Helfershelfer des Prinzen, den hat der Prinz umgebracht!
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Marinelli: Wie kann Ihnen so eine Abscheulichkeit in den Mund, in die
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Gedanken kommen?
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Orsina: Wie? – Ganz natürlich. – Mit dieser Emilia Galotti – die hier bei ihm
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ist – deren Bräutigam so über Hals über Kopf sich aus der Welt trollen
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müssen – mit dieser Emilia Galotti hat der Prinz heute morgen, in der
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Halle bei den Dominikanern, ein Langes und Breites gesprochen. Das
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weiß ich, das haben meine Kundschafter gesehen. Sie haben auch
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gehört, was er mit ihr gesprochen – Nun, guter Herr? Bin ich von
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Sinnen? Ich reime, dächt' ich, doch noch ziemlich zusammen, was
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zusammen gehört. – Oder trifft auch das nur so von ungefähr zu? Ist
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Ihnen auch das Zufall? Oh, Marinelli, so verstehen Sie auf die Bosheit
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der Menschheit sich ebenso schlecht als auf die Vorsicht.
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Marinelli: Gräfin, Sie würden sich um den Hals reden
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Orsina: Wenn ich das mehrern sagte? – Desto besser, desto besser! –
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Morgen will ich es auf dem Markte ausrufen. – Und wer mir widerspricht
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– wer mir widerspricht, der war des Mörders Spießgeselle. – Leben Sie
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wohl. (Indem sie fortgehen will, begegnet sie an der Türe dem alten
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Galotti, der eiligst hereintritt.)