28. Kapitel
2
Am andern Abend, wie verabredet, reiste Innstetten. Er benutzte
3
denselben Zug, den am Tag vorher Wüllersdorf benutzt hatte, und war bald
4
nach fünf Uhr früh auf der Bahnstation, von wo der Weg nach Kessin links
5
abzweigte. Wie immer, solange die Saison dauerte, ging auch heute, gleich
6
nach Eintreffen des Zuges, das mehrerwähnte Dampfschiff, dessen erstes
7
Läuten Innstetten schon hörte, als er die letzten Stufen der vom Bahndamm
8
hinabführenden Treppe erreicht hatte. Der Weg bis zur Anlegestelle war
9
keine drei Minuten; er schritt darauf zu und begrüßte den Kapitän, der
10
etwas verlegen war, also im Laufe des gestrigen Tages von der ganzen
11
Sache schon gehört haben mußte, und nahm dann seinen Platz in der Nähe
12
des Steuers. Gleich danach löste sich das Schiff vom Brückensteg los; das
13
Wetter war herrlich, helle Morgensonne, nur wenig Passagiere an Bord.
14
Innstetten gedachte des Tages, als er, mit Effi von der Hochzeitsreise
15
zurückkehrend, hier am Ufer der Kessine hin in offenem Wagen gefahren
16
war ein grauer Novembertag damals, aber er selber froh im Herzen; nun
17
hatte sich's verkehrt: Das Licht lag draußen, und der Novembertag war in
18
ihm. Viele, viele Male war er dann des Weges hier gekommen, und der
19
Frieden, der sich über die Felder breitete, das Zuchtvieh in den Koppeln,
20
das aufhorchte, wenn er vorüberfuhr, die Leute bei der Arbeit, die
21
Fruchtbarkeit der Äcker, das alles hatte seinem Sinne wohlgetan, und jetzt,
22
in hartem Gegensatz dazu, war er froh, als etwas Gewölk heranzog und den
23
lachenden blauen Himmel leise zu trüben begann. So fuhren sie den Fluß
24
hinab, und bald nachdem sie die prächtige Wasserfläche des Breitling
25
passiert, kam der Kessiner Kirchturm in Sicht und gleich danach auch das
26
Bollwerk und die lange Häuserreihe mit Schiffen und Booten davor. Und
27
nun waren sie heran. Innstetten verabschiedete sich von dem Kapitän und
28
schritt auf den Steg zu, den man, bequemeren Aussteigens halber,
29
herangerollt hatte. Wüllersdorf war schon da. Beide begrüßten sich, ohne
30
zunächst ein Wort zu sprechen, und gingen dann, quer über den Damm, auf
31
den Hoppensackschen Gasthof zu, wo sie unter einem Zeltdach Platz
32
nahmen.
33
»Ich habe mich gestern früh hier einquartiert«, sagte Wüllersdorf, der
34
nicht gleich mit den Sachlichkeiten beginnen wollte. »Wenn man bedenkt,
35
daß Kessin ein Nest ist, ist es erstaunlich, ein so gutes Hotel hier zu finden.
36
Ich bezweifle nicht, daß mein Freund, der Oberkellner, drei Sprachen
37
spricht; seinem Scheitel und seiner ausgeschnittnen Weste nach können
38
wir dreist auf vier rechnen ... Jean, bitte, wollen Sie uns Kaffee und Kognak
39
bringen.«
40
Innstetten begriff vollkommen, warum Wüllersdorf diesen Ton anschlug,
41
war auch damit einverstanden, konnte aber seiner Unruhe nicht ganz Herr
42
werden und zog unwillkürlich die Uhr.
43
»Wir haben Zeit«, sagte Wüllersdorf. »Noch anderthalb Stunden oder
44
doch beinah. Ich habe den Wagen auf acht ein Viertel bestellt; wir fahren
45
nicht länger als zehn Minuten.«
46
Und wo?«
47
»Crampas schlug erst ein Waldeck vor, gleich hinter dem Kirchhof. Aber
48
dann unterbrach er sich und sagte: 'Nein, da nicht.' Und dann haben wir
49
uns über eine Stelle zwischen den Dünen geeinigt. Hart am Strand; die
50
vorderste Düne hat einen Einschnitt, und man sieht aufs Meer.«
51
Innstetten lächelte. »Crampas scheint sich einen Schönheitspunkt
52
ausgesucht zu haben. Er hatte immer die Allüren dazu. Wie benahm er
53
sich?«
54
»Wundervoll.«
55
»Übermütig? Frivol?«
56
»Nicht das eine und nicht das andere. Ich bekenne Ihnen offen,
57
Innstetten, daß es mich erschütterte. Als ich Ihren Namen nannte, wurde er
58
totenblaß und rang nach Fassung, und um seine Mundwinkel sah ich ein
59
Zittern. Aber all das dauerte nur einen Augenblick, dann hatte er sich
60
wieder gefaßt, und von da an war alles an ihm wehmütige Resignation. Es
61
ist mir ganz sicher, er hat das Gefühl, aus der Sache nicht heil
62
herauszukommen, und will auch nicht. Wenn ich ihn richtig beurteile, er
63
lebt gern und ist zugleich gleichgültig gegen das Leben. Er nimmt alles mit
64
und weiß doch, daß es nicht viel damit ist.«
65
»Wer wird ihm sekundieren? Oder sag ich lieber, wen wird er
66
mitbringen?«
67
»Das war, als er sich wieder gefunden hatte, seine Hauptsorge. Er nannte
68
zwei, drei Adlige aus der Nähe, ließ sie dann aber wieder fallen, sie seien zu
69
alt und zu fromm, er werde nach Treptow hin telegrafieren an seinen
70
Freund Buddenbrook. Und der ist auch gekommen, famoser Mann,
71
schneidig und doch zugleich wie ein Kind. Er konnte sich nicht beruhigen
72
und ging in größter Erregung auf und ab. Aber als ich ihm alles gesagt
73
hatte, sagte er geradeso wie wir: 'Sie haben recht, es muß sein!'«
74
Der Kaffee kam. Man nahm eine Zigarre, und Wüllersdorf war wieder
75
darauf aus, das Gespräch auf mehr gleichgültige Dinge zu lenken.
76
»Ich wundere mich, daß keiner von den Kessinern sich einfindet, Sie zu
77
begrüßen. Ich weiß doch, daß Sie sehr beliebt gewesen sind. Und nun gar
78
Ihr Freund Gieshübler... «
79
Innstetten lächelte. »Da verkennen Sie die Leute hier an der Küste; halb
80
Philister und halb Pfiffici, nicht sehr nach meinem Geschmack; aber eine
81
Tugend haben sie, sie sind alle sehr manierlich. Und nun gar mein alter
82
Gieshübler. Natürlich weiß jeder, um was sich's handelt; aber eben deshalb
83
hütet man sich, den Neugierigen zu spielen.«
84
In diesem Augenblick wurde von links her ein zurückgeschlagener
85
Chaisewagen sichtbar, der, weil es noch vor der bestimmten Zeit war,
86
langsam herankam.
87
»Ist das unser?« fragte Innstetten.
88
»Mutmaßlich.«
89
Und gleich danach hielt der Wagen vor dem Hotel, und Innstetten und
90
Wüllersdorf erhoben sich.
91
Wüllersdorf trat an den Kutscher heran und sagte: »Nach der Mole.«
92
Die Mole lag nach der entgegengesetzten Strandseite, rechts statt links,
93
und die falsche Weisung wurde nur gegeben, um etwaigen Zwischenfällen,
94
die doch immerhin möglich waren, vorzubeugen. Im übrigen, ob man sich
95
nun weiter draußen nach rechts oder links zu halten vorhatte, durch die
96
Plantage mußte man jedenfalls, und so führte denn der Weg unvermeidlich
97
an Innstettens alter Wohnung vorüber. Das Haus lag noch stiller da als
98
früher; ziemlich vernachlässigt sah's in den Parterreräumen aus; wie mocht
99
es erst da oben sein! Und das Gefühl des Unheimlichen, das Innstetten an
100
Effi so oft bekämpft oder auch wohl belächelt hatte, jetzt überkam es ihn
101
selbst, und er war froh, als sie dran vorüber waren.
102
»Da hab ich gewohnt«, sagte er zu Wüllersdorf.
103
»Es sieht sonderbar aus, etwas öd und verlassen.«
104
»Mag auch wohl. In der Stadt galt es als ein Spukhaus, und wie's heute
105
daliegt, kann ich den Leuten nicht unrecht geben.«
106
»Was war es denn damit?«
107
»Ach, dummes Zeug: alter Schiffskapitän mit Enkelin oder Nichte, die
108
eines schönen Tages verschwand, und dann ein Chinese, der vielleicht ein
109
Liebhaber war, und auf dem Flur ein kleiner Haifisch und ein Krokodil,
110
beides an Strippen und immer in Bewegung. Wundervoll zu erzählen, aber
111
nicht jetzt. Es spukt einem doch allerhand anderes im Kopf.«
112
Sie vergessen, es kann auch alles glatt ablaufen.«
113
»Darf nicht. Und vorhin, Wüllersdorf, als Sie von Crampas sprachen,
114
sprachen Sie selber anders davon.«
115
Bald danach hatte man die Plantage passiert, und der Kutscher wollte
116
jetzt rechts einbiegen auf die Mole zu. »Fahren Sie lieber links. Das mit der
117
Mole kann nachher kommen.« Und der Kutscher bog links in eine breite
118
Fahrstraße ein, die hinter dem Herrenbade grade auf den Wald zulief. Als
119
sie bis auf dreihundert Schritt an diesen heran waren, ließ Wüllersdorf den
120
Wagen halten, und beide gingen nun, immer durch mahlenden Sand hin,
121
eine ziemlich breite Fahrstraße hinunter, die die hier dreifache Dünenreihe
122
senkrecht durchschnitt. Überall zur Seite standen dichte Büschel von
123
Strandhafer, um diesen herum aber Immortellen und ein paar blutrote
124
Nelken. Innstetten bückte sich und steckte sich eine der Nelken ins
125
Knopfloch. »Die Immortellen nachher.«
126
So gingen sie fünf Minuten. Als sie bis an die ziemlich tiefe Senkung
127
gekommen waren, die zwischen den beiden vordersten Dünenreihen hinlief,
128
sahen sie, nach links hin, schon die Gegenpartei: Crampas und
129
Buddenbrook und mit ihnen den guten Doktor Hannemann, der seinen Hut
130
in der Hand hielt, so daß das weiße Haar im Winde flatterte.
131
Innstetten und Wüllersdorf gingen die Sandschlucht hinauf, Buddenbrook
132
kam ihnen entgegen. Man begrüßte sich, worauf beide Sekundanten
133
beiseite traten, um noch ein kurzes sachliches Gespräch zu führen. Es lief
134
darauf hinaus, daß man à tempo avancieren und auf zehn Schritt Distanz
135
feuern solle. Dann kehrte Buddenbrook an seinen Platz zurück; alles
136
erledigte sich rasch; und die Schüsse fielen. Crampas stürzte.
137
Innstetten, einige Schritte zurücktretend, wandte sich ab von der Szene.
138
Wüllersdorf aber war auf Buddenbrook zugeschritten, und beide warteten
139
jetzt auf den Ausspruch des Doktors, der die Achseln zuckte.
140
Zugleich deutete Crampas durch eine Handbewegung an, daß er etwas
141
sagen wollte. Wüllersdorf beugte sich zu ihm nieder, nickte zustimmend zu
142
den paar Worten, die kaum hörbar von des Sterbenden Lippen kamen, und
143
ging dann auf Innstetten zu.
144
»Crampas will Sie noch sprechen, Innstetten. Sie müssen ihm zu Willen
145
sein. Er hat keine drei Minuten Leben mehr.«
146
Innstetten trat an Crampas heran.
147
»Wollen Sie ...« Das waren seine letzten Worte.
148
Noch ein schmerzlicher und doch beinah freundlicher Schimmer in
149
seinem Antlitz, und dann war es vorbei.