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Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

Sechster Auftritt

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Emilia und Claudia Galotti.
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Emilia (stürzet in einer ängstlichen Verwirrung herein) :
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Wohl mir! wohl mir! – Nun bin ich in Sicherheit. Oder ist er mir gar
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gefolgt? (Indem sie den Schleier zurückwirft und ihre Mutter erblicket.)
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Ist er, meine Mutter? ist er? Nein, dem Himmel sei Dank!
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Claudia: Was ist dir, meine Tochter? was ist dir?
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Emilia: Nichts, nichts –
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Claudia: Und blickest so wild um dich? Und zitterst an
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jedem Gliede?
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Emilia: Was hab ich hören müssen? Und wo, wo hab
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ich es hören müssen?
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Claudia: Ich habe dich in der Kirche geglaubt –
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Emilia: Eben da! Was ist dem Laster Kirch' und Altar? –
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Ach, meine Mutter! (Sich ihr in die Arme werfend.)
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Claudia: Rede, meine Tochter! – Mach meiner Furcht
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ein Ende. – Was kann dir da, an heiliger Stätte, so Schlimmes begegnet
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sein?
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Emilia: Nie hätte meine Andacht inniger, brünstiger sein
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sollen als heute: nie ist sie weniger gewesen, was sie sein sollte.
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Claudia: Wir sind Menschen, Emilia.
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Die Gabe zu beten ist nicht immer in unserer Gewalt. Dem Himmel ist
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beten wollen auch beten.
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Emilia: Und sündigen wollen auch sündigen.
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Claudia: Das hat meine Emilia nicht wollen!
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Emilia: Nein, meine Mutter; so tief ließ mich die Gnade
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nicht sinken. – Aber daß fremdes Laster uns, wider unsern Willen, zu
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Mitschuldigen machen kann! .
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Claudia: Fasse dich! – Sammle deine Gedanken, soviel
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dir möglich. – Sag es mir mit eins, was dir geschehen.
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Emilia: Eben hatt' ich mich – weiter von dem Altare, als
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ich sonst pflege – denn ich kam zu spät –, auf meine Knie gelassen.
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Eben fing ich an, mein Herz zu erheben: als dicht hinter mir etwas
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seinen Platz nahm. So dicht hinter mir! – Ich konnte weder vor noch zur
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Seite rücken – so gern ich auch wollte; aus Furcht, daß eines andern
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Andacht mich in meiner stören möchte. – Andacht! das war das
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Schlimmste, was ich besorgte. – Aber es währte nicht lange, so hört'
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ich, ganz nah an meinem Ohre – nach einem tiefen Seufzer – nicht den
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Namen einer Heiligen – den Namen – zürnen Sie nicht, meine Mutter –
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den Namen Ihrer Tochter! – Meinen Namen! – O daß laute Donner mich
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verhindert hätten, mehr zu hören! – Es sprach von Schönheit, von Liebe
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– Es klagte, daß dieser Tag, welcher mein Glück mache – wenn er es
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anders mache – sein Unglück auf immer entscheide. – Es beschwor
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mich – hören mußt' ich dies alles. Aber ich blickte nicht um; ich wollte
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tun, als ob ich es nicht hörte. – Was konnt' ich sonst? – Meinen guten
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Engel bitten, mich mit Taubheit zu schlagen; und wann auch, wenn
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auch auf immer! – Das bat ich; das war das einzige, was ich beten
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konnte. – Endlich ward es Zeit, mich wieder zu erheben. Das heilige
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Amt ging zu Ende. Ich zitterte, mich umzukehren. Ich zitterte, ihn zu
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erblicken, der sich den Frevel erlauben dürfen. Und da ich mich
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umwandte, da ich ihn erblickte –
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Claudia: Wen, meine Tochter?
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Emilia: Raten Sie, meine Mutter, raten Sie – Ich glaubte
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in die Erde zu sinken – Ihn selbst.
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Claudia: Wen, ihn selbst?
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Emilia: Den Prinzen.
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Claudia: Den Prinzen! – O gesegnet sei die Ungeduld
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deines Vaters, der eben hier war und dich nicht erwarten wollte!
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Emilia: Mein Vater hier? – und wollte mich nicht
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erwarten?
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Claudia: Wenn du in deiner Verwirrung auch ihn das
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hättest hören lassen!
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Emilia: Nun, meine Mutter? – Was hätt' er an mir
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Strafbares finden können?
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Claudia: Nichts; ebensowenig als an mir. Und doch,
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doch – Ha, du kennest deinen Vater nicht! In seinem Zorne hätt' er den
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unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher
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verwechselt. In seiner Wut hätt' ich ihm geschienen, das veranlaßt zu
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haben, was ich weder verhindern noch vorhersehen können. – Aber
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weiter, meine Tochter, weiter! Als du den Prinzen erkanntest – Ich will
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hoffen, daß du deiner mächtig genug warest, ihm in einem Blicke alle
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die Verachtung zu bezeigen, die er verdienst.
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Emilia: Das war ich nicht, meine Mutter! Nach dem
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Blicke, mit dem ich ihn erkannte, hatt' ich nicht das Herz, einen zweiten
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auf ihn zu richten. Ich floh –
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Claudia: Und der Prinz dir nach –
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Emilia: Was ich nicht wußte, bis ich in der Halle mich
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bei der Hand ergriffen fühlte. Und von ihm! Aus Scham mußt' ich
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standhalten: mich von ihm loszuwinden würde die Vorbeigehenden zu
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aufmerksam auf uns gemacht haben. Das war die einzige Überlegung,
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deren ich fähig war – oder deren ich nun mich wieder erinnere. Er
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sprach; und ich hab ihm geantwortet. Aber was er sprach, was ich ihm
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geantwortet – fällt mir es noch bei, so ist es gut, so will ich es Ihnen
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sagen, meine Mutter. Jetzt weiß ich von dem allen nichts. Meine Sinne
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hatten mich verlassen. – Umsonst denk ich nach, wie ich von ihm weg
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und aus der Halle gekommen. Ich finde mich erst auf der Straße wieder,
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und höre ihn hinter mir herkommen, und höre ihn mit mir zugleich in das
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Haus treten, mit mir die Treppe hinaufsteigen – –
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Claudia: Die Furcht hat ihren besondern Sinn, meine
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Tochter! Ich werde es nie vergessen, mit welcher Gebärde du
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hereinstürztest. – Nein, so weit durfte er nicht wagen, dir zu folgen. –
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Gott! Gott! wenn dein Vater das wüßte! – Wie wild er schon war, als er
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nur hörte, daß der Prinz dich jüngst nicht ohne Mißfallen gesehen! –
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Indes, sei ruhig, meine Tochter! Nimm es für einen Traum, was dir
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begegnet ist. Auch wird es noch weniger Folgen haben als ein Traum.
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Du entgehest heute mit eins allen Nachstellungen.
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Emilia: Aber, nicht, meine Mutter? Der Graf muß das
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wissen. Ihm muß ich es sagen.
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Claudia: Um alle Welt nicht! – Wozu? warum? Willst du
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für nichts und wieder für nichts ihn unruhig machen? Und wann er es
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auch itzt nicht würde: wisse, mein Kind, daß ein Gift, welches nicht
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gleich wirket, darum kein minder gefährliches Gift ist. Was auf den
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Liebhaber keinen Eindruck macht, kann ihn auf den Gemahl machen.
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Den Liebhaber könnt' es sogar schmeicheln, einem so wichtigen
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Mitbewerber den Rang abzulaufen. Aber wenn er ihm den nun einmal
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abgelaufen hat: ah! mein Kind – so wird aus dem Liebhaber oft ein ganz
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anderes Geschöpf. Dein gutes Gestirn behüte dich vor dieser
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Erfahrung.
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Emilia: Sie wissen, meine Mutter, wie gern ich Ihren
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bessern Einsichten mich in allem unterwerfe. – Aber, wenn er es von
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einem andern erführe, daß der Prinz mich heute gesprochen? Würde
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mein Verschweigen nicht, früh oder spät, seine Unruhe vermehren? –
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Ich dächte doch, ich behielte lieber vor ihm nichts auf dem Herzen.
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Claudia: Schwachheit! verliebte Schwachheit! – Nein,
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durchaus nicht, meine Tochter! Sag ihm nichts. Laß ihn nichts merken!
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Emilia: Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen
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gegen den Ihrigen. – Aha! (Mit einem tiefen Atemzuge.) Auch wird mir
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wieder ganz leicht. – Was für ein albernes, furchtsames Ding ich bin! –
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Nicht, meine Mutter? – Ich hätte mich noch wohl anders dabei nehmen
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können und würde mir ebensowenig vergeben haben.
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Claudia: Ich wollte dir das nicht sagen, meine Tochter,
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bevor dir es dein eigner gesunder Verstand sagte. Und ich wußte, er
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wurde dir es sagen, sobald du wieder zu dir selbst gekommen. – Der
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Prinz ist galant. Du bist die unbedeutende Sprache der Galanterie zu
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wenig gewohnt. Eine Höflichkeit wird in ihr zur Empfindung, eine
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Schmeichelei zur Beteurung, ein Einfall zum Wunsche, ein Wunsch
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zum Vorsatze. Nichts klingt in dieser Sprache wie alles, und alles ist in
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ihr so viel als nichts.
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Emilia: O meine Mutter! – so müßte ich mir mit meiner
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Furcht vollends lächerlich vorkommen! – Nun soll er gewiß nichts davon
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erfahren, mein guter Appiani! Er könnte mich leicht für mehr eitel als
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tugendhaft halten. – Hui! daß er da selbst kömmt! Es ist sein Gang.

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