Sechster Auftritt
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Szene: in Sittahs Harem.
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Sittah und Recha in Unterhaltung begriffen.
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Sittah:
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Was freu ich mich nicht deiner, süßes Mädchen!
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Sei so beklemmt nur nicht! so angst! so schüchtern!
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Sei munter! sei gesprächiger! vertrauter!
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Recha:
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Prinzessin....
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Sittah:
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Nicht doch! nicht Prinzessin! Nenn
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Mich Sittah, deine Freundin, deine Schwester.
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Nenn mich dein Mütterchen! Ich könnte das
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Ja schier auch sein. So jung! so klug! so fromm!
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Was du nicht alles weißt! nicht alles mußt
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Gelesen haben!
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Recha:
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Ich gelesen? Sittah,
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Du spottest deiner kleinen albern Schwester.
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Ich kann kaum lesen.
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Sittah:
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Kannst kaum, Lügnerin!
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Recha:
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Ein wenig meines Vaters Hand! Ich meinte,
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Du sprächst von Büchern.
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Sittah:
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Allerdings! von Büchern.
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Recha:
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Nun, Bücher wird mir wahrlich schwer zu lesen!
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Sittah:
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Im Ernst?
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Recha:
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In ganzem Ernst. Mein Vater liebt
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Die kalte Buchgelehrsamkeit, die sich
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Mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt,
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Zu wenig.
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Sittah:
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Ei, was sagst du! Hat indes
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Wohl nicht sehr unrecht! Und so manches, was
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Du weißt ... ?
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Recha:
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Weiß ich allein aus seinem Munde
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Und könnte bei dem meisten dir noch sagen,
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Wie? wo? warum? er mich's gelehrt.
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Sittah:
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So hängt
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Sich freilich alles besser an. So lernt
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Mit eins die ganze Seele.
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Recha:
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Sicher hat
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Auch Sittah wenig oder nichts gelesen!
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Sittah:
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Wieso? Ich bin nicht stolz aufs Gegenteil.
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Allein wieso? Dein Grund! Sprich dreist. Dein Grund?
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Recha:
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Sie ist so schlecht und recht; so unverkünstelt;
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So ganz sich selbst nur ähnlich ...
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Sittah:
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Nun?
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Recha:
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Das sollen
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Die Bücher uns nur selten lassen! sagt
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Mein Vater.
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Sittah:
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O was ist dein Vater für
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Ein Mann!
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Recha:
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Nicht wahr?
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Sittah:
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Wie nah er immer doch
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Zum Ziele trifft!
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Recha:
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Nicht wahr? Und diesen Vater –
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Sittah:
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Was ist dir, Liebe?
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Recha:
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Diesen Vater –
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Sittah:
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Gott!
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Du weinst?
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Recha:
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Und diesen Vater Ah! es muß
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Heraus! Mein Herz will Luft, will Luft ...
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Wirft sich, von Tränen überwältiget, zu ihren Füßen.
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Sittah:
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Kind, was
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Geschieht dir? Recha?
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Recha:
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Diesen Vater soll -
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Soll ich verlieren!
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Sittah:
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Du? verlieren? ihn?
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Wie das? Sei ruhig! Nimmermehr! Steh auf!
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Recha:
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Du sollst vergebens dich zu meiner Freundin,
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Zu meiner Schwester nicht erboten haben!
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Sittah:
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Ich bin's ja! bin's! Steh doch nur auf! Ich muß
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Sonst Hilfe rufen.
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Recha (die sich ermannt und aufsteht):
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Ah! verzeih! vergib!
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Mein Schmerz hat mich vergessen machen, wer
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Du bist. Vor Sittah gilt kein Winseln, kein
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Verzweifeln. Kalte, ruhige Vernunft
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Will alles über sie allein vermögen.
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Wes Sache diese bei ihr führt, der siegt!
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Sittah:
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Nun dann?
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Recha:
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Nein; meine Freundin, meine Schwester
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Gibt das nicht zu! Gibt nimmer zu, daß mir
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Ein andrer Vater aufgedrungen werde!
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Sittah:
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Ein andrer Vater? aufgedrungen? dir?
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Wer kann das? kann das auch nur wollen, Liebe?
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Recha:
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Wer? Meine gute böse Daja kann
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Das wollen, will das können. ja; du kennst
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Wohl diese gute böse Daja nicht?
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Nun, Gott vergeb' es ihr! belohn' es ihr!
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Sie hat mir so viel Gutes, so viel Böses
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Erwiesen!
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Sittah:
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Böses dir? So muß sie Gutes
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Doch wahrlich wenig haben.
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Recha:
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Doch! recht viel,
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Recht viel!
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Sittah:
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Wer ist sie?
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Recha:
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Eine Christin, die
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In meiner Kindheit mich gepflegt; mich so
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Gepflegt! Du glaubst nicht! Die mir eine Mutter
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So wenig missen lassen! Gott vergelt'
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Es ihr! Die aber mich auch so geängstet!
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Mich so gequält!
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Sittah:
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Und über was? warum?
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Wie?
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Recha:
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Ach! die arme Frau ich sag dir's ja
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Ist eine Christin; muß aus Liebe quälen;
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Ist eine von den Schwärmerinnen, die
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Den allgemeinen, einzig wahren Weg
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Nach Gott zu wissen wähnen!
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Sittah:
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Nun versteh ich!
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Recha:
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Und sich gedrungen fühlen, einen jeden,
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Der dieses Wegs verfehlt, darauf zu lenken.
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Kaum können sie auch anders. Denn ist's wahr,
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Daß dieser Weg allein nur richtig führt:
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Wie sollen sie gelassen ihre Freunde
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Auf einem andern wandeln sehn, der ins
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Verderben stürzt, ins ewige Verderben?
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Es müßte möglich sein, denselben Menschen
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Zur selben Zeit zu lieben und zu hassen.
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Auch ist's das nicht, was endlich laute Klagen
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Mich über sie zu führen zwingt. Ihr Seufzen,
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Ihr Warnen, ihr Gebet, ihr Drohen hätt'
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Ich gern noch länger ausgehalten; gern!
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Es brachte mich doch immer auf Gedanken,
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Die gut und nützlich. Und wem schmeichelt's doch
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Im Grunde nicht, sich gar so wert und teuer,
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Von wem's auch sei, gehalten fühlen, daß
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Er den Gedanken nicht ertragen kann,
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Er müss' einmal auf ewig uns entbehren!
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Sittah:
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Sehr wahr!
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Recha:
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Allein allein das geht zu weit!
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Dem kann ich nichts entgegensetzen; nicht
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Geduld, nicht Überlegung; nichts!
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Sittah:
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Was? wem?
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Recha:
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Was sie mir eben itzt entdeckt will haben.
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Sittah:
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Entdeckt? und eben itzt?
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Recha:
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Nur eben itzt!
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Wir nahten, auf dem Weg hierher, uns einem
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Verfallnen Christentempel. Plötzlich stand
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Sie still; schien mit sich selbst zu kämpfen; blickte
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Mit nassen Augen bald gen Himmel, bald
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Auf mich. Komm, sprach sie endlich, laß uns hier
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Durch diesen Tempel in die Richte gehn!
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Sie geht; ich folg ihr, und mein Auge schweift
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Mit Graus die wankenden Ruinen durch.
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Nun steht sie wieder; und ich sehe mich
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An den versunknen Stufen eines morschen
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Altars mit ihr. Wie ward mir? als sie da
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Mit heißen Tränen, mit gerungnen Händen
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Zu meinen Füßen stürzte ...
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Sittah:
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Gutes Kind!
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Recha:
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Und bei der Göttlichen, die da wohl sonst
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So manch Gebet erhört, so manches Wunder
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Verrichtet habe, mich beschwor; mit Blicken
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Des wahren Mitleids mich beschwor, mich meiner
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Doch zu erbarmen! Wenigstens, ihr zu
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Vergeben, wenn sie mir entdecken müsse,
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Was ihre Kirch' auf mich für Anspruch habe.
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Sittah:
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(Unglückliche! Es ahnte mir!)
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Recha:
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Ich sei
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Aus christlichem Geblüte; sei getauft;
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Sei Nathans Tochter nicht; er nicht mein Vater!
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Gott! Gott! Er nicht mein Vater! Sittah! Sittah!
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Sieh mich aufs neu' zu deinen Füßen ...
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Sittah:
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Recha!
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Nicht doch! steh auf! Mein Bruder kömmt! steh auf!