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Inhaltsverzeichnis

32. Kapitel

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Drei Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte seit fast ebenso langer
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Zeit eine kleine Wohnung in der Königgrätzer Straße, zwischen
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Askanischem Platz und Halleschem Tor: ein Vorder- und Hinterzimmer und
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hinter diesem die Küche mit Mädchengelaß, alles so durchschnittsmäßig
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und alltäglich wie nur möglich. Und doch war es eine apart hübsche
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Wohnung, die jedem, der sie sah, angenehm auffiel, am meisten vielleicht
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dem alten Geheimrat Rummschüttel, der, dann und wann vorsprechend, der
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armen jungen Frau nicht bloß die nun weit zurückliegende Rheumatismusund
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Neuralgiekomödie sondern auch alles, was seitdem sonst noch
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vorgekommen war, längst verziehen hatte, wenn es für ihn der Verzeihung
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überhaupt bedurfte. Denn Rummschüttel kannte noch ganz anderes.
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Er war jetzt ausgangs Siebzig, aber wenn Effi, die seit einiger Zeit
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ziemlich viel kränkelte, ihn brieflich um seinen Besuch bat, so war er am
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anderen Vormittag auch da und wollte von Entschuldigungen, daß es so
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hoch sei, nichts wissen. »Nur keine Entschuldigungen, meine liebe
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gnädigste Frau; denn erstens ist es mein Metier, und zweitens bin ich
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glücklich und beinahe stolz, die drei Treppen so gut noch steigen zu
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können. Wenn ich nicht fürchten müßte, Sie zu belästigen – denn ich
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komme doch schließlich als Arzt und nicht als Naturfreund und
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Landschaftsschwärmer –, so käme ich wohl noch öfter, bloß um Sie zu
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sehen und mich hier etliche Minuten an Ihr Hinterfenster zu setzen. Ich
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glaube, Sie würdigen den Ausblick nicht genug.«
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»O doch, doch«, sagte Effi; Rummschüttel aber ließ sich nicht stören und
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fuhr fort: »Bitte, meine gnädigste Frau, treten Sie hier heran, nur einen
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Augenblick, oder erlauben Sie mir, daß ich Sie bis an das Fenster führe.
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Wieder ganz herrlich heute. Sehen Sie doch nur die verschiedenen
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Bahndämme, drei, nein, vier, und wie es beständig darauf hin und her
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gleitet ... und nun verschwindet der Zug da wieder hinter einer
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Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den weißen Rauch
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durchleuchtet! Wäre der Matthäikirchhof nicht unmittelbar dahinter, so wäre
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es ideal.«
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»Ich sehe gern Kirchhöfe.«
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»Ja, Sie dürfen das sagen. Aber unsereins! Unsereinem kommt
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unabweislich immer die Frage, könnten hier nicht vielleicht einige weniger
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liegen? Im übrigen, meine gnädigste Frau, bin ich mit Ihnen zufrieden und
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beklage nur, daß Sie von Ems nichts wissen wollen; Ems bei Ihren
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katarrhalischen Affektionen, würde Wunder ...«
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Effi schwieg.
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»Ems würde Wunder tun. Aber da Sie's nicht mögen (und ich finde mich
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darin zurecht), so trinken Sie den Brunnen hier. In drei Minuten sind Sie im
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Prinz Albrechtschen Garten, und wenn auch die Musik und die Toiletten
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und all die Zerstreuungen einer regelrechten Brunnenpromenade fehlen,
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der Brunnen selbst ist doch die Hauptsache.«
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Effi war einverstanden, und Rummschüttel nahm Hut und Stock. Aber er
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trat noch einmal an das Fenster heran. »Ich höre von einer Terrassierung
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des Kreuzbergs sprechen, Gott segne die Stadtverwaltung, und wenn dann
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erst die kahle Stelle da hinten mehr in Grün stehen wird ... Eine reizende
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Wohnung. Ich könnte Sie fast beneiden ... Und was ich schon längst einmal
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sagen wollte, meine gnädige Frau, Sie schreiben mir immer einen so
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liebenswürdigen Brief. Nun, wer freute sich dessen nicht? Aber es ist doch
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jedesmal eine Mühe ... Schicken Sie mir doch einfach Roswitha.«
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Effi dankte ihm, und so schieden sie.
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»Schicken Sie mir doch einfach Roswitha ...« hatte Rummschüttel gesagt.
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Ja, war denn Roswitha bei Effi? War sie denn statt in der Keith- in der
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Königgrätzer Straße? Gewiß war sie's, und zwar sehr lange schon, gerade
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so lange, wie Effi selbst in der Königgrätzer Straße wohnte. Schon drei
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Tage vor diesem Einzug hatte sich Roswitha bei ihrer lieben gnädigen Frau
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sehen lassen, und das war ein großer Tag für beide gewesen, so sehr, daß
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dieses Tages hier noch nachträglich gedacht werden muß.
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Effi hatte damals, als der elterliche Absagebrief aus Hohen-Cremmen kam
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und sie mit dem Abendzug von Ems nach Berlin zurückreiste, nicht gleich
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eine selbständige Wohnung genommen, sondern es mit einem
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Unterkommen in einem Pensionat versucht. Es war ihr damit auch leidlich
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geglückt. Die beiden Damen, die dem Pensionat vorstanden, waren gebildet
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und voll Rücksicht und hatten es längst verlernt, neugierig zu sein. Es kam
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da so vieles zusammen, daß ein Eindringenwollen in die Geheimnisse jedes
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einzelnen viel zu umständlich gewesen wäre. Dergleichen hinderte nur den
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Geschäftsgang. Effi, die die mit den Augen angestellten Kreuzverhöre der
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Zwicker noch in Erinnerung hatte, fühlte sich denn auch von dieser
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Zurückhaltung der Pensionsdamen sehr angenehm berührt; als aber
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vierzehn Tage vorüber waren, empfand sie doch deutlich, daß die hier
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herrschende Gesamtatmosphäre, die physische wie die moralische, nicht
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wohl ertragbar für sie sei. Bei Tisch waren sie meist zu sieben, und zwar
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außer Effi und der einen Pensionsvorsteherin (die andere leitete draußen
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das Wirtschaftliche) zwei die Hochschule besuchende Engländerinnen, eine
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adelige Dame aus Sachsen, eine sehr hübsche galizische Jüdin, von der
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niemand wußte, was sie eigentlich vorhatte, und eine Kantorstochter aus
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Polzin in Pommern, die Malerin werden wollte. Das war eine schlimme
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Zusammensetzung, und die gegenseitigen Überheblichkeiten, bei denen die
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Engländerinnen merkwürdigerweise nicht absolut obenan standen,
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sondern mit der vom höchsten Malergefühl erfüllten Polzinerin um die
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Palme rangen, waren unerquicklich; dennoch wäre Effi, die sich passiv
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verhielt, über den Druck, den diese geistige Atmosphäre übte,
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hinweggekommen, wenn nicht, rein physisch und äußerlich, die sich
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hinzugesellende Pensionsluft gewesen wäre. Woraus sich diese eigentlich
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zusammensetzte, war vielleicht überhaupt unerforschlich, aber daß sie der
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sehr empfindlichen Effi den Atem raubte, war nur zu gewiß, und so sah sie
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sich, aus diesem äußerlichen Grunde, sehr bald schon zur Aus- und
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Umschau nach einer anderen Wohnung gezwungen, die sie denn auch in
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verhältnismäßiger Nähe fand. Es war dies die vorgeschilderte Wohnung in
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der Königgrätzer Straße. Sie sollte dieselbe zu Beginn des
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Herbstvierteljahres beziehen, hatte das Nötige dazu beschafft und zählte
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während der letzten Septembertage die Stunden bis zur Erlösung aus dem
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Pensionat.
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An einem dieser letzten Tage – sie hatte sich eine Viertelstunde zuvor aus
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dem Eßzimmer zurückgezogen und gedachte sich eben auf einem mit
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einem großblumigen Wollstoff überzogenen Seegrassofa auszuruhen –
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wurde leise an ihre Tür geklopft.
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»Herein. «
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Das eine Hausmädchen, eine kränklich aussehende Person von Mitte
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Dreißig, die durch beständigen Aufenthalt auf dem Korridor des Pensionats
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den hier lagernden Dunstkreis überallhin in ihren Falten mitschleppte, trat
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ein und sagte: Die gnädige Frau möchte entschuldigen, aber es wolle sie
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jemand sprechen.
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»Wer?«
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»Eine Frau.«
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»Und hat sie ihren Namen genannt?«
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Ja, Roswitha.«
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Und siehe da, kaum daß Effi diesen Namen gehört hatte, so schüttelte sie
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den Halbschlaf von sich und sprang auf und lief auf den Korridor hinaus,
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um Roswitha bei beiden Händen zu fassen und in ihr Zimmer zu ziehen.
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»Roswitha. Du. Ist das eine Freude. Was bringst du? Natürlich was Gutes.
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Ein so gutes altes Gesicht kann nur was Gutes bringen. Ach, wie glücklich
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ich bin, ich könnte dir einen Kuß geben; ich hätte nicht gedacht, daß ich
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noch solche Freude haben könnte. Mein gutes altes Herz, wie geht es dir
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denn? Weißt du noch, wie's damals war, als der Chinese spukte? Das
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waren glückliche Zeiten. Ich habe damals gedacht, es wären unglückliche,
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weil ich das Harte des Lebens noch nicht kannte. Seitdem habe ich es
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kennengelernt. Ach, Spuk ist lange nicht das Schlimmste! Komm, meine
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gute Roswitha, komm, setz dich hier zu mir und erzähle mir ... Ach, ich habe
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solche Sehnsucht. Was macht Annie?«
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Roswitha konnte kaum reden und sah sich in dem sonderbaren Zimmer
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um, dessen grau und verstaubt aussehende Wände in schmale Goldleisten
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gefaßt waren. Endlich aber fand sie sich und sagte, daß der gnädige Herr
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nun wieder aus Glatz zurück sei; der alte Kaiser habe gesagt, sechs
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Wochen in solchem Falle sei gerade genug, und auf den Tag, wo der
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gnädige Herr wieder da sein würde, darauf habe sie bloß gewartet, wegen
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Annie, die doch eine Aufsicht haben müsse. Denn Johanna sei wohl eine
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sehr propre Person, aber sie sei doch noch zu hübsch und beschäftige sich
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noch zu viel mit sich selbst und denke vielleicht Gott weiß was alles. Aber
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nun, wo der gnädige Herr wieder aufpassen und in allem nach dem Rechten
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sehen könne, da habe sie sich's doch antun wollen und mal sehen, wie's
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der gnädigen Frau gehe ...
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»Das ist recht, Roswitha ...«
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Und habe mal sehen wollen, ob der gnädigen Frau was fehle und ob sie
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sie vielleicht brauche, dann wolle sie gleich hierbleiben und beispringen
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und alles machen und dafür sorgen, daß es der gnädigen Frau wieder
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gutgehe.
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Effi hatte sich in die Sofaecke zurückgelehnt und die Augen geschlossen.
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Aber mit eins richtete sie sich auf und sagte: »Ja, Roswitha, was du da
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sagst, das ist ein Gedanke; das ist was. Denn du mußt wissen, ich bleibe
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hier nicht in dieser Pension, ich habe da weiterhin eine Wohnung gemietet
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und auch Einrichtung besorgt, und in drei Tagen will ich da einziehen. Und
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wenn ich da mit dir ankäme und zu dir sagen könnte: 'Nein, Roswitha, da
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nicht, der Schrank muß dahin und der Spiegel da', ja, das wäre was, das
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sollte mir schon gefallen. Und wenn wir dann müde von all der Plackerei
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wären, dann sagte ich: 'Nun, Roswitha, gehe da hinüber und hole uns eine
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Karaffe Spatenbräu, denn wenn man gearbeitet hat, dann will man doch
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auch trinken, und wenn du kannst, so bring uns auch etwas Gutes aus dem
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Habsburger Hof mit, du kannst ja das Geschirr nachher wieder
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herüberbringen' – ja, Roswitha, wenn ich mir das denke, da wird mir
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ordentlich leichter ums Herz. Aber ich muß dich doch fragen, hast du dir
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auch alles überlegt? Von Annie will ich nicht sprechen, an der du doch
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hängst, sie ist ja fast wie dein eigen Kind – aber trotzdem, für Annie wird
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schon gesorgt werden, und die Johanna hängt ja auch an ihr. Also davon
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nichts. Aber bedenke, wie sich alles verändert hat, wenn du wieder zu mir
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willst. Ich bin nicht mehr wie damals; ich habe jetzt eine ganz kleine
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Wohnung genommen, und der Portier wird sich wohl nicht sehr um dich
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und um mich bemühen. Und wir werden eine sehr kleine Wirtschaft haben,
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immer das, was wir sonst unser Donnerstagessen nannten, weil da
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reingemacht wurde. Weißt du noch? Und weißt du noch, wie der gute
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Gieshübler mal dazukam und sich zu uns setzen mußte, und wie er dann
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sagte: So was Delikates habe er noch nie gegessen. Du wirst dich noch
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erinnern, er war immer so schrecklich artig, denn eigentlich war er doch der
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einzige Mensch in der Stadt, der von Essen was verstand. Die andern
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fanden alles schön.«
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Roswitha freute sich über jedes Wort und sah schon alles in bestem
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Gange, bis Effi wieder sagte: »Hast du dir das alles überlegt? Denn du bist
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doch – ich muß das sagen, wiewohl es meine eigne Wirtschaft war –, du
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bist doch nun durch viele Jahre hin verwöhnt, und es kam nie darauf an,
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wir hatten es nicht nötig, sparsam zu sein; aber jetzt muß ich sparsam sein,
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denn ich bin arm und habe nur, was man mir gibt, du weißt, von
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Hohen-Cremmen her. Meine Eltern sind sehr gut gegen mich, soweit sie's
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können, aber sie sind nicht reich. Und nun sage, was meinst du?«
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»Daß ich nächsten Sonnabend mit meinem Koffer anziehe, nicht am
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Abend, sondern gleich am Morgen, und daß ich da bin, wenn das Einrichten
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losgeht. Denn ich kann doch ganz anders zufassen wie die gnädige Frau.«
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»Sage das nicht, Roswitha. Ich kann es auch. Wenn man muß, kann man
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alles.«
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»Und dann, gnädigste Frau, Sie brauchen sich wegen meiner nicht zu
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fürchten, als ob ich mal denken könnte: 'für Roswitha ist das nicht gut
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genug'. Für Roswitha ist alles gut, was sie mit der gnädigen Frau teilen
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muß, und am liebsten, wenn es was Trauriges ist. Ja, darauf freue ich mich
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schon ordentlich. Dann sollen Sie mal sehen, das verstehe ich. Und wenn
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ich es nicht verstünde, dann wollte ich es schon lernen. Denn, gnädige
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Frau, das hab' ich nicht vergessen, als ich da auf dem Kirchhof saß,
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mutterwindallein, und bei mir dachte, nun wäre es doch wohl das beste, ich
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läge da gleich mit in der Reihe. Wer kam da? Wer hat mich da bei Leben
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erhalten? Ach, ich habe so viel durchzumachen gehabt. Als mein Vater
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damals mit der glühenden Stange auf mich loskam ...«
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»Ich weiß schon, Roswitha ...«
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»Ja, das war schlimm genug. Aber als ich da auf dem Kirchhof saß, so
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ganz arm und verlassen, das war doch noch schlimmer. Und da kam die
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gnädige Frau. Und ich will nicht selig werden, wenn ich das vergesse.«
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Und dabei stand sie auf und ging aufs Fenster zu. »Sehen Sie, gnädige
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Frau, den müssen Sie doch auch noch sehen.«
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Und nun trat auch Effi heran.
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Drüben, auf der anderen Seite der Straße, saß Rollo und sah nach den
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Fenstern der Pension hinauf.
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Wenige Tage danach bezog Effi, von Roswitha unterstützt, ihre Wohnung
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in der Königgrätzer Straße, darin es ihr von Anfang an gefiel. Umgang
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fehlte freilich, aber sie hatte während ihrer Pensionstage von dem Verkehr
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mit Menschen so wenig Erfreuliches gehabt, daß ihr das Alleinsein nicht
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schwerfiel, wenigstens anfänglich nicht. Mit Roswitha ließ sich allerdings
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kein ästhetisches Gespräch führen, auch nicht mal sprechen über das, was
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in der Zeitung stand; aber wenn es einfach menschliche Dinge betraf und
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Effi mit einem »ach, Roswitha, mich ängstigt es wieder ...« ihren Satz
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begann, dann wußte die treue Seele jedesmal gut zu antworten und hatte
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immer Trost und meist auch Rat.
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Bis Weihnachten ging es vorzüglich; aber der Heiligabend verlief schon
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recht traurig, und als das neue Jahr herankam, begann Effi ganz
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schwermütig zu werden. Es war nicht kalt, nur grau und regnerisch, und
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wenn die Tage kurz waren, so waren die Abende desto länger. Was tun? Sie
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las, sie stickte, sie legte Patience, sie spielte Chopin, aber diese Notturnos
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waren auch nicht angetan, viel Licht in ihr Leben zu tragen, und wenn
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Roswitha mit dem Teebrett kam und außer dem Teezeug auch noch zwei
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Tellerchen mit einem Ei und einem in kleine Scheiben geschnittenen Wiener
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Schnitzel auf den Tisch setzte, sagte Effi, während sie das Piano schloß:
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»Rücke heran, Roswitha. Leiste mir Gesellschaft.«
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Roswitha kam denn auch. »Ich weiß schon, die gnädige Frau haben
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wieder zuviel gespielt; dann sehen Sie immer so aus und haben rote
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Flecke. Der Geheimrat hat es doch verboten.«
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»Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und du hast es auch
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leicht, all das nachzusprechen. Aber was soll ich denn machen? Ich kann
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doch nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen und nach der Christuskirche
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hin übersehen. Sonntags, beim Abendgottesdienst, wenn die Fenster
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beleuchtet sind, sehe ich ja immer hinüber; aber es hilft mir auch nichts,
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mir wird dann immer noch schwerer ums Herz.«
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»Ja, gnädige Frau, dann sollten Sie mal hineingehen. Einmal waren Sie ja
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schon drüben.«
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»O schon öfters. Aber ich habe nicht viel davon gehabt. Er predigt ganz
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gut und ist ein sehr kluger Mann, und ich wäre froh, wenn ich das
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Hundertste davon wüßte. Aber es ist doch alles bloß, wie wenn ich ein
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Buch lese; und wenn er dann so laut spricht und herumficht und seine
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schwarzen Locken schüttelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus.«
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»Heraus?«
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Effi lachte. »Du meinst, ich war noch gar nicht drin. Und es wird wohl so
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sein. Aber an wem liegt das? Das liegt doch nicht an mir. Er spricht immer
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soviel vom Alten Testament. Und wenn es auch ganz gut ist, es erbaut mich
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nicht. Überhaupt all das Zuhören; es ist nicht das Rechte. Sieh, ich müßte
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so viel zu tun haben, daß ich nicht ein noch aus wüßte. Das wäre was für
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mich. Da gibt es so Vereine, wo junge Mädchen die Wirtschaft lernen, oder
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Nähschulen oder Kindergärtnerinnen. Hast du nie davon gehört?«
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»Ja, ich habe mal davon gehört. Anniechen sollte mal in einen
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Kindergarten.«
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»Nun, siehst du, du weißt es besser als ich. Und in solchen Verein, wo
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man sich nützlich machen kann, da möchte ich eintreten. Aber daran ist gar
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nicht zu denken; die Damen nehmen mich nicht an und können es auch
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nicht. Und das ist das schrecklichste, daß einem die Welt so zu ist und daß
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es sich einem sogar verbietet, bei Gutem mit dabeizusein. Ich kann nicht
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mal armen Kindern eine Nachhilfestunde geben ...«
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»Das wäre auch nichts für Sie, gnädige Frau; die Kinder haben immer so
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fettige Stiefel an, und wenn es nasses Wetter ist'- das ist dann solch Dunst
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und Schmook, das halten die gnädige Frau gar nicht aus.«
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Effi lächelte. »Du wirst wohl recht haben, Roswitha; aber es ist schlimm,
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daß du recht hast, und ich sehe daran, daß ich noch zu viel von dem alten
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Menschen in mir habe und daß es mir noch zu gut geht.«
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Davon wollte aber Roswitha nichts wissen. »Wer so gut ist wie gnädige
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Frau, dem kann es gar nicht zu gut gehen. Und Sie müssen nur nicht immer
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so was Trauriges spielen, und mitunter denke ich mir, es wird alles noch
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wieder gut, und es wird sich schon was finden.«
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Und es fand sich auch was. Effi, trotz der Kantorstochter aus Polzin,
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deren Künstlerdünkel ihr immer noch als etwas Schreckliches
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vorschwebte, wollte Malerin werden, und wiewohl sie selber darüber lachte,
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weil sie sich bewußt war, über eine unterste Stufe des Dilettantismus nie
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hinauskommen zu können, so griff sie doch mit Passion danach, weil sie
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nun eine Beschäftigung hatte, noch dazu eine, die, weil still und
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geräuschlos, ganz nach ihrem Herzen war. Sie meldete sich denn auch bei
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einem ganz alten Malerprofessor, der in der märkischen Aristokratie sehr
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bewandert und zugleich so fromm war, daß ihm Effi von Anfang an ans
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Herz gewachsen erschien. Hier, so gingen wohl seine Gedanken, war eine
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Seele zu retten, und so kam er ihr, als ob sie seine Tochter gewesen wäre,
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mit einer ganz besonderen Liebenswürdigkeit entgegen. Effi war sehr
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glücklich darüber, und der Tag ihrer ersten Malstunde bezeichnete für sie
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einen Wendepunkt zum Guten Ihr armes Leben war nun nicht so arm mehr,
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und Roswitha triumphierte, daß sie recht gehabt und sich nun doch etwas
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gefunden habe.
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Das ging so Jahr und Tag und darüber hinaus. Aber daß sie nun wieder
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eine Berührung mit den Menschen hatte, wie sie's beglückte, so ließ es
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auch wieder den Wunsch in ihr entstehen, daß diese Berührungen sich
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erneuern und mehren möchten. Sehnsucht nach Hohen-Cremmen erfaßte
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sie mitunter mit einer wahren Leidenschaft, und noch leidenschaftlicher
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sehnte sie sich danach, Annie wiederzusehen. Es war doch ihr Kind, und
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wenn sie dem nachhing und sich gleichzeitig der Trippelli erinnerte, die mal
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gesagt hatte, die Welt sei so klein, und in Mittelafrika könne man sicher
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sein, plötzlich einem alten Bekannten zu begegnen, so war sie mit Recht
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verwundert, Annie noch nie getroffen zu haben. Aber auch das sollte sich
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eines Tages ändern. Sie kam aus der Malstunde, dicht am Zoologischen
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Garten, und stieg, nahe dem Halteplatz, in einen die lange Kurfürstenstraße
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passierenden Pferdebahnwagen ein. Es war sehr heiß, und die
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herabgelassenen Vorhänge, die bei dem starken Luftzuge, der ging, hin und
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her bauschten, taten ihr wohl. Sie lehnte sich in die dem Vorderperron
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zugekehrte Ecke und musterte eben mehrere in eine Glasscheibe
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eingebrannte Sofas, blau mit Quasten und Puscheln daran, als sie – der
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Wagen war gerade in einem langsamen Fahren – drei Schulkinder
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aufspringen sah, die Mappen auf dem Rücken, mit kleinen spitzen Hüten,
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zwei blond und ausgelassen, die dritte dunkel und ernst. Es war Annie. Effi
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fuhr heftig zusammen, und eine Begegnung mit dem Kinde zu haben,
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wonach sie sich doch so lange gesehnt, erfüllte sie jetzt mit einer wahren
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Todesangst. Was tun? Rasch entschlossen öffnete sie die Tür zu dem
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Vorderperron, auf dem niemand stand als der Kutscher, und bat diesen, sie
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bei der nächsten Haltestelle vorn absteigen zu lassen. »Is verboten,
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Fräulein«, sagte der Kutscher; sie gab ihm aber ein Geldstück und sah ihn
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so bittend an, daß der gutmutige Mensch anderen Sinnes wurde und vor
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sich hin sagte: »Sind soll es eigentlich nich; aber es wird ja woll mal
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gehen.« Und als der Wagen hielt, nahm er das Gitter aus, und Effi sprang
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ab.
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Noch in großer Erregung kam Effi nach Hause.
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»Denke dir, Roswitha, ich habe Annie gesehen.« Und nun erzählte sie von
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der Begegnung in dem Pferdebahnwagen. Roswitha war unzufrieden, daß
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Mutter und Tochter keine Wiedersehensszene gefeiert hatten, und ließ sich
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nur ungern überzeugen, daß das in Gegenwart so vieler Menschen nicht
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wohl angegangen sei. Dann mußte Effi erzählen, wie Annie ausgesehen
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habe, und als sie das mit mütterlichem Stolz getan, sagte Roswitha: »Ja,
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sie ist so halb und halb. Das Hübsche und, wenn ich es sagen darf, das
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Sonderbare, das hat sie von der Mama; aber das Ernste, das ist ganz der
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Papa. Und wenn ich mir so alles überlege, ist die doch wohl mehr wie der
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gnädige Herr.«
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»Gott sei Dank!« sagte Effi.
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»Na, gnäd'ge Frau, das ist nu doch auch noch die Frage. Und da wird ja
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wohl mancher sein, der mehr für die Mama ist.«
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Glaubst du, Roswitha? Ich glaube es nicht.«
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»Na, na, ich lasse mir nichts vormachen, und ich glaube, die gnädige Frau
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weiß auch ganz gut, wie's eigentlich ist und was die Männer am liebsten
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haben.«
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»Ach, sprich nicht davon, Roswitha.«
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Damit brach das Gespräch ab und wurde auch nicht wieder
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aufgenommen. Aber Effi, wenn sie's auch vermied, grade über Annie mit
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Roswitha zu sprechen, konnte die Begegnung in ihrem Herzen doch nicht
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verwinden und litt unter der Vorstellung, vor ihrem eigenen Kind geflohen
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zu sein. Es quälte sie bis zur Beschämung, und das Verlangen nach einer
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Begegnung mit Annie steigerte sich bis zum Krankhaften. An Innstetten
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schreiben und ihn darum bitten, das war nicht möglich. Ihrer Schuld war sie
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sich wohl bewußt, sie nährte das Gefühl davon mit einer halb
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leidenschaftlichen Geflissentlichkeit; aber inmitten ihres
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Schuldbewußtseins fühlte sie sich andererseits auch von einer gewissen
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Auflehnung gegen Innstetten erfüllt. Sie sagte sich, er hatte recht und noch
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einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er doch unrecht. Alles
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Geschehene lag so weit zurück, ein neues Leben hatte begonnen; er hätte
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es können verbluten lassen, statt dessen verblutete der arme Crampas.
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Nein, an Innstetten schreiben, das ging nicht; aber Annie wollte sie sehen
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und sprechen und an ihr Herz drücken, und nachdem sie's tagelang
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überlegt hatte, stand ihr fest, wie's am besten zu machen sei.
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Gleich am andern Vormittag kleidete sie sich sorgfältig in ein dezentes
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Schwarz und ging auf die Linden zu, sich hier bei der Ministerin melden zu
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lassen. Sie schickte ihre Karte herein, auf der nur stand: Effi von Innstetten
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geb. von Briest. Alles andere war fortgelassen, auch die Baronin.
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»Exzellenz lassen bitten«, und Effi folgte dem Diener bis in ein Vorzimmer,
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wo sie sich niederließ und trotz der Erregung, in der sie sich befand, den
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Bilderschmuck an den Wänden musterte. Da war zunächst Guido Renis
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Aurora, gegenüber aber hingen englische Kupferstiche, Stiche nach
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Benjamin West, in der bekannten Aquatinta-Manier von viel Licht und
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Schatten. Eines der Bilder war König Lear im Unwetter auf der Heide.
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Effi hatte ihre Musterung kaum beendet, als die Tür des angrenzenden
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Zimmers sich öffnete und eine große, schlanke Dame von einem sofort für
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sie einnehmenden Ausdruck auf die Bittstellerin zutrat und ihr die Hand
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reichte. »Meine liebe, gnädigste Frau«, sagte sie, »welche Freude für mich,
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Sie wiederzusehen ...«
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Und während sie das sagte, schritt sie auf das Sofa zu und zog Effi,
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während sie selber Platz nahm, zu sich nieder.
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Effi war bewegt durch die sich in allem aussprechende Herzensgüte.
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Keine Spur von Überheblichkeit oder Vorwurf, nur menschlich schöne
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Teilnahme. »Womit kann ich Ihnen dienen?« nahm die Ministerin noch
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einmal das Wort.
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Um Effis Mund zuckte es. Endlich sagte sie. »Was mich herführt, ist eine
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Bitte, deren Erfüllung Exzellenz vielleicht möglich machen. Ich habe eine
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zehnjährige Tochter, die ich seit drei Jahren nicht gesehen habe und gern
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wiedersehen möchte.«
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Die Ministerin nahm Effis Hand und sah sie freundlich an. »Wenn ich
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sage, in drei Jahren nicht gesehen, so ist das nicht ganz richtig. Vor drei
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Tagen habe ich sie wiedergesehen.« Und nun schilderte Effi mit großer
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Lebendigkeit die Begegnung, die sie mit Annie gehabt hatte. »Vor meinem
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eigenen Kinde auf der Flucht. Ich weiß wohl, man liegt, wie man sich bettet,
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und ich will nichts ändern in meinem Leben. Wie es ist, so ist es recht; ich
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habe es nicht anders gewollt. Aber das mit dem Kinde, das ist doch zu hart,
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und so habe ich denn den Wunsch, es dann und wann sehen zu dürfen,
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nicht heimlich und verstohlen, sondern mit Wissen und Zustimmung aller
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Beteiligten.«
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»Unter Wissen und Zustimmung aller Beteiligten«, wiederholte die
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Ministerin Effis Worte. »Das heißt also unter Zustimmung Ihres Herrn
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Gemahls. Ich sehe, daß seine Erziehung dahin geht, das Kind von der
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Mutter fernzuhalten, ein Verfahren, über das ich mir kein Urteil erlaube.
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Vielleicht, daß er recht hat; verzeihen Sie mir diese Bemerkung, gnädige
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Frau.«
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Effi nickte.
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»Sie finden sich selbst in der Haltung Ihres Herrn Gemahls zurecht und
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verlangen nur, daß einem natürlichen Gefühl, wohl dem schönsten unserer
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Gefühle (wenigstens wir Frauen werden uns darin finden), sein Recht
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werde. Treff ich es darin?«
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»In allem.«
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»Und so soll ich denn die Erlaubnis zu gelegentlichen Begegnungen
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erwirken, in Ihrem Hause, wo Sie versuchen können, sich das Herz Ihres
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Kindes zurückzuerobern.«
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Effi drückte noch einmal ihre Zustimmung aus, während die Ministerin
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fortfuhr: »Ich werde also tun, meine gnädigste Frau, was Ich tun kann. Aber
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wir werden es nicht eben leicht haben. Ihr Herr Gemahl, verzeihen Sie, daß
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ich ihn nach wie vor so nenne, ist ein Mann der nicht nach Stimmungen
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und Laune, sondern nach Grundsätzen handelt und diese fallenzulassen
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oder auch nur momentan aufzugeben, wird ihn hart ankommen. Läg' es
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nicht so, so wäre seine Handlungs- und Erziehungsweise längst eine
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andere gewesen. Das, was hart für Ihr Herz ist, hält er für richtig.«
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»So meinen Exzellenz vielleicht, es wäre besser, meine Bitte
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zurückzunehmen?«
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»Doch nicht. Ich wollte nur das Tun Ihres Herrn Gemahls erklären, um
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nicht zu sagen rechtfertigen, und wollte zugleich die Schwierigkeiten
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andeuten, auf die wir aller Wahrscheinlichkeit nach stoßen werden. Aber
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ich denke, wir zwingen es trotzdem. Denn wir Frauen, wenn wir's klug
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einleiten und den Bogen nicht überspannen, wissen mancherlei
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durchzusetzen. Zudem gehört Ihr Herr Gemahl zu meinen besonderen
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Verehrern, und er wird mir eine Bitte, die ich an ihn richte, nicht wohl
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abschlagen. Wir haben morgen einen kleinen Zirkel, auf dem ich ihn sehe,
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und übermorgen früh haben Sie ein paar Zeilen von mir, die Ihnen sagen
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werden, ob ich's klug, das heißt glücklich eingeleitet oder nicht. Ich denke,
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wir siegen in der Sache, und Sie werden Ihr Kind wiedersehen und sich
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seiner freuen. Es soll ein sehr schönes Mädchen sein. Nicht zu
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verwundern.«

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