Fünfter Abschnitt
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Die früheste Morgendämmerung fand ihn schon zu Pferde vor den Toren
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der Stadt. Das unermüdliche Zureden seines getreuen Dieners hatte ihn
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endlich zu dem Entschlusse bewogen, diese Gegend gänzlich zu verlassen.
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Langsam und in sich gekehrt zog er nun die schöne Straße, die von Lucca
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in das Land hinausführte, zwischen den dunkelnden Bäumen, in denen die
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Vögel noch schliefen, dahin. Da gesellten sich nicht gar fern von der Stadt
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noch drei andere Reiter zu ihm. Nicht ohne heimlichen Schauer erkannte er
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in dem einen den Sänger Fortunato. Der andere war Fräulein Biankas
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Oheim, in dessen Landhause er an jenem verhängnisvollen Abende
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getanzt. Er wurde von einem Knaben begleitet, der stillschweigend und
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ohne viel aufzublicken neben ihm herritt. Alle drei hatten sich
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vorgenommen, miteinander das schöne Italien zu durchschweifen, und
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luden Florio freundlich ein, mit ihnen zu reisen. Er aber verneigte sich
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schweigend, weder einwilligend noch verneinend, und nahm fortwährend
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an allen ihren Gesprächen nur geringen Anteil.
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Die Morgenröte erhob sich indes immer höher und kühler über der
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wunderschönen Landschaft vor ihnen. Da sagte der heitre Pietro zu
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Fortunato: «Seht nur, wie seltsam das Zwielicht über dem Gestein der alten
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Ruine auf dem Berge dort spielt! Wie oft bin ich, schon als Knabe, mit
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Erstaunen, Neugier und heimlicher Scheu dort herumgeklettert! Ihr seid so
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vieler Sagen kundig, könnt Ihr uns nicht Auskunft geben von dem Ursprung
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und Verfall dieses Schlosses, von dem so wunderliche Gerüchte im Lande
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gehen?» – Florio warf einen Blick nach dem Berge. In einer großen
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Einsamkeit lag da altes, verfallenes Gemäuer umher, schöne, halb in die
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Erde versunkene Säulen und künstlich gehauene Steine, alles von einer
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üppig blühenden Wildnis grünverschlungener Ranken, Hecken und hohen
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Unkrauts überdeckt. Ein Weiher befand sich daneben, über dem sich ein
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zum Teil zertrümmertes Marmorbild erhob, hell vom Morgen angeglüht. Es
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war offenbar dieselbe Gegend, dieselbe Stelle, wo er den schönen Garten
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und die Dame gesehen hatte. – Er schauerte innerlichst zusammen bei dem
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Anblicke. – Fortunato aber sagte: «Ich weiß ein altes Lied darauf, wenn Ihr
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damit fürlieb nehmen wollt.» – Und hiermit sang er, ohne sich lange zu
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besinnen, mit seiner klaren, fröhlichen Stimme in die heitere Morgenluft
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hinaus:
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Von kühnen Wunderbildern
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Ein großer Trümmerhauf.
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In reizendem Verwildern
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Ein blühnder Garten drauf.
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Versunknes Reich zu Füßen,
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Vom Himmel fern und nah
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Aus andrem Reich ein Grüßen –
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Das ist Italia!
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Wenn Frühlingslüfte wehen
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Hold überm grünen Plan,
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Ein leises Auferstehen
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Hebt in den Tälern an.
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Da will sichs unten rühren
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Im stillen Göttergrab,
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Der Mensch kanns schauernd spüren
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Tief in die Brust hinab.
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Verwirrend in den Bäumen
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Gehn Stimmen hin und her,
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Ein sehnsuchtsvolles Träumen
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Weht übers blaue Meer.
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Und unterm duftgen Schleier,
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So oft der Lenz erwacht,
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Webt in geheimer Feier
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Die alte Zaubermacht.
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Frau Venus hört das Locken,
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Der Vögel heitern Chor,
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Und richtet froh erschrocken
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Aus Blumen sich empor.
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Sie sucht die alten Stellen,
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Das luftge Säulenhaus,
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Schaut lächelnd in die Wellen
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Der Frühlingsluft hinaus.
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Doch öd sind nun die Stellen,
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Stumm liegt ihr Säulenhaus,
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Gras wächst da auf den Schwellen,
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Der Wind zieht ein und aus.
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Wo sind nun die Gespielen?
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Diana schläft im Wald,
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Neptunus ruht im kühlen
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Meerschloß, das einsam hallt.
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Zuweilen nur Sirenen
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Noch tauchen aus dem Grund,
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Und tun in irren Tönen
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Die tiefe Wehmut kund. –
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Sie selbst muß sinnend stehen
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So bleich im Frühlingsschein,
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Die Augen untergehen,
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Der schöne Leib wird Stein.
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Denn über Land und Wogen
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Erscheint, so still und mild,
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Hoch auf dem Regenbogen
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Ein ander Frauenbild.
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Ein Kindlein in den Armen
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Die Wunderbare hält,
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Und himmlisches Erbarmen
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Durchdringt die ganze Welt.
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Da in den lichten Räumen
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Erwacht das Menschenkind,
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Und schüttelt böses Träumen
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Von seinem Haupt geschwind.
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Und, wie die Lerche singend,
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Aus schwülen Zaubers Kluft
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Erhebt die Seele ringend
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Sich in die Morgenluft.
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Alle waren still geworden über dem Liede. – «Jene Ruine», sagte endlich
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Pietro, «wäre also ein ehemaliger Tempel der Venus, wenn ich Euch sonst
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recht verstanden?» – «Allerdings», erwiderte Fortunato, «soviel man an der
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Anordnung des Ganzen und den noch übriggebliebenen Verzierungen
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abnehmen kam. Auch sagt man, der Geist der schönen Heidengöttin habe
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keine Ruhe gefunden. Aus der erschrecklichen Stille des Grabes heißt sie
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das Andenken an die irdische Lust jeden Frühling immer wieder in die
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grüne Einsamkeit ihres verfallenen Hauses heraufsteigen und durch
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teuflisches Blendwerk die alte Verführung üben an jungen, sorglosen
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Gemütern, die dann, vom Leben abgeschieden und doch auch nicht
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aufgenommen in den Frieden der Toten, zwischen wilder Lust und
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schrecklicher Reue, an Leib und Seele verloren, umherirren und in der
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entsetzlichsten Täuschung sich selber verzehren. Gar häufig will man auf
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demselben Platze Anfechtungen von Gespenstern verspürt haben, wo sich
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bald eine wunderschöne Dame, bald mehrere ansehnliche Kavaliere sehen
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lassen und die Vorübergehenden in einem dem Auge vorgestellten
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erdichteten Garten und Palast führen.» – «Seid Ihr jemals droben
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gewesen?» fragte hier Florio rasch, aus seinen Gedanken erwachend. –
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«Erst vorgestern abends», entgegnete Fortunato. – «Und habt ihr nichts
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Erschreckliches gesehen?» – «Nichts», sagte der Sänger, «als den stillen
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Weiher und die weißen rätselhaften Steine im Mondlicht umher und den
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weiten unendlichen Sternenhimmel darüber. Ich sang ein altes, frommes
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Lied, eines von jenen ursprünglichen Liedern, die wie Erinnerungen und
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Nachklänge aus einer heimatlichen Welt durch das Paradiesgärtlein unsrer
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Kindheit ziehen und ein rechtes Wahrzeichen sind, an dem sich alle
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Poetischen später in dem älter gewordenen Leben immer wiedererkennen.
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Glaubt mir, ein redlicher Dichter kann viel wagen, denn die Kunst, die ohne
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Stolz und Frevel, bespricht und bändigt die wilden Erdengeister, die aus der
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Tiefe nach uns langen.»
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Alle schwiegen, die Sonne ging soeben auf vor ihnen und warf ihre
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funkelnden Lichter über die Erde. Da schüttelte Florio sich an allen
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Gliedern, sprengte rasch eine Strecke den anderen voraus und sang mit
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heller Stimme:
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Hier bin ich, Herr! Gegrüßt das
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Licht,
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Das durch die stille Schwüle
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Der müden Brust gewaltig bricht
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Mit seiner strengen Kühle.
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Nun bin ich frei! Ich taumle noch
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Und kann mich noch nicht fassen –
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O Vater, du erkennst mich doch,
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Und wirst nicht von mir lassen!
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Es kommt nach allen heftigen Gemütsbewegungen, die unser ganzes
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Wesen durchschüttern, eine stillklare Heiterkeit über die Seele, gleich wie
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die Felder nach einem Gewitter frischer grünen und aufatmen. So fühlte
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sich auch Florio nun innerlichst erquickt; er blickte wieder recht mutig um
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sich und erwartete beruhigt die Gefährten, die langsam im Grünen
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nachgezogen kamen.
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Der zierliche Knabe, welcher Pietro begleitete, hatte unterdes auch, wie
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Blumen vor den ersten Morgenstrahlen, das Köpfchen erhoben. – Da
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erkannte Florio mit Erstaunen Fräulein Bianka. Er erschrak, wie sie so
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bleich aussah gegen jenen Abend, da er sie zum ersten Mal unter den
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Zelten in reizendem Mutwillen gesehen. Die Arme war mitten in ihren
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sorglosen Kinderspielen von der Gewalt der ersten Liebe überrascht
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worden. Und als dann der heißgeliebte Florio, den dunkeln Mächten
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folgend, so fremd wurde und sich immer weiter von ihr entfernte, bis sie ihn
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endlich ganz verloren geben mußte, da versank sie in eine tiefe Schwermut,
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deren Geheimnis sie niemand anzuvertrauen wagte. Der kluge Pietro wußte
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es aber wohl und hatte beschlossen, seine Nichte weit fortzuführen und sie
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in fremden Gegenden und in einem andern Himmelsstrich, wo nicht zu
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heilen, doch zu zerstreuen und zu erhalten. Um ungehinderter reisen zu
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können und zugleich alles Vergangene gleichsam von sich abzustreifen,
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hatte sie Knabentracht anlegen müssen.
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Mit Wohlgefallen ruhten Florios Blicke auf der lieblichen Gestalt. Eine
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seltsame Verblendung hatte bisher seine Augen wie mit einem Zaubernebel
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umfangen. Nun erstaunte er ordentlich, wie schön sie war! Er sprach
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vielerlei gerührt und mit tiefer Innigkeit zu ihr. Da ritt sie, ganz überrascht
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von dem unverhofften Glück und in freudiger Demut, als verdiene sie
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solche Gnade nicht, mit niedergeschlagenen Augen schweigend neben ihm
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her. Nur manchmal blickte sie unter den langen schwarzen Augenwimpern
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nach ihm hinauf, die ganze klare Seele lag in dem Blick, als wollte sie
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bittend sagen: «Täusche mich nicht wieder!»
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Sie waren unterdes auf einer luftigen Höhe angelangt; hinter ihnen
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versank die Stadt Lucca mit ihren dunkeln Türmen in dem schimmernden
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Duft. Da sagte Florio, zu Bianka gewendet: «Ich bin wie neugeboren, es ist
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mir, als würde noch alles gut werden, seit ich Euch wiedergefunden. Ich
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möchte niemals wieder scheiden, wenn Ihr es vergönnt.»
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Bianka blickte ihn statt aller Antwort selber wie fragend mit ungewisser,
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noch halb zurückgehaltener Freude an und sah recht wie ein heiteres
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Engelsbild auf dem tiefblauen Grunde des Morgenhimmels aus. Der Morgen
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schien ihnen, in langen, goldenen Strahlen über die Fläche schießend,
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gerade entgegen. Die Bäume standen hell angeglüht, unzählige Lerchen
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sangen schwirrend in der klaren Luft. Und so zogen die Glücklichen
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fröhlich durch die überglänzten Auen in das blühende Mailand hinunter.