Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben LF
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

2. Aufzug

2
Iason: Nicht jetzt zum ersten Mal, nein, oft schon sah ich, welch heilloses
3
Übel wilder Zorn ist. Du konntest hier im Hause und im Lande wohnen,
4
hättest du die Beschlüsse der Mächtigen willig hingenommen; nun wirst
5
du wegen deiner törichten Reden außer Landes gejagt. Mich kümmert das
6
zwar nicht; sage ruhig unaufhörlich, Iason sei der schändlichste aller
7
Menschen. Doch kannst du von Glück sagen, wenn dich für deine
8
Schmähreden gegen das Herrscherhaus nur Verbannung trifft. Ich wollte
9
stets den Zorn des erbitterten Königs besänftigen und hätte gewünscht,
10
du du hier bleibst. Du aber ließest von deinem Unverstand nicht ab und
11
beschimpftest ständig das Königshaus. Deswegen wirst du aus dem Land
12
gejagt. Ich sage mich dennoch von meinen Lieben nicht los und komme,
13
Frau, aus Sorge für dein Wohl; du sollst nicht mittellos mit den Kindern in
14
die Verbannung gehen oder etwas entbehren. Verbannung bringt ja viele
15
Übel mit sich. Denn wenn du mich auch hassest, bringe ich es doch nicht
16
fertig, dir übel zu wollen.
17
18
Medeia: Du allererbärmlichster Schuft – ich weiß kein schlimmeres Wort
19
für deine feige Art zu sagen – du, du kommst zu mir, nachdem du mein
20
ärgster Feind geworden bist? Es ist kein Zeichen von Mut und Tapferkeit,
21
seine Familie zu mißhandeln und ihr dann noch vor Augen zu treten, nein,
22
es ist das widerlichste aller menschlichen Laster, es ist Schamlosigkeit.
23
Doch kommst du mir gerade recht. Kann ich Vorwürfe gegen dich
24
schleudern, wird mir das Herz leichter, und dir tut es weh, wenn du sie
25
hörst.
26
Und so beginn' ich mit dem Ersten. Wie alle Hellenen wissen, die mit dir
27
das Schiff Argo bestiegen, habe ich dich gerettet, als man dich schickte,
28
das Gespann der feuerschnaubenden Stiere zu lenken und das
29
todbringende Feld zu besäen[1]. Auch tötete ich den Drachen, der sich
30
vielfach um das goldene Vließ wand und es schlummerlos bewachte, und
31
brachte dir das Licht der Rettung. Ich selbst verriet Vater und Vaterhaus
32
und zog mit dir nach Iolkos am Pelion, zwar mehr dem Herzen folgend als
33
der Klugheit. Auch Pelias brachte ich den Tod, den bittersten, durch seine
34
eigenen Töchter, und befreite dich von aller Furcht[2]. Und trotz solcher
35
Wohltaten, du Schurke, verrietst du mich und nahmst ein anderes Weib,
36
obwohl schon Kinder da waren. Denn bliebst du kinderlos, war es
37
verzeihlich, daß du dich in diese Frau verliebtest. Doch du hast deinen Eid
38
gebrochen, und ich frage mich, ob du glaubst, daß die alten Götter nicht
39
mehr herrschen, oder daß bei den Menschen jetzt neue Gesetze gelten; du
40
mußt doch wissen, daß du mir einen Meineid schworst. O arme Hand, o
41
arme Knie, so flehend oft von ihm umfaßt! Wie heuchlerisch gestreichelt
42
von dem schlechten Menschen! Wie eitel war alle Hoffnung!
43
Trotzdem will ich mit dir wie mit einem Freund verhandeln. Freilich, welche
44
Wohltat darf ich von dir erwarten? Und doch! Meine Fragen werden dich
45
als noch größeren Schuft entlarven. Wohin soll ich mich nun wenden? Zum
46
Vaterhaus, das ich samt der Heimat dir zuliebe verriet und hierher kam?
47
Oder zu den armen Töchtern des Pelias? Die würden mich schön in ihrem
48
Haus empfangen, die Mörderin ihres Vaters. Denn so steht es: Denen, die
49
mir von Hause aus freund sind, bin ich verhaßt geworden, und die, denen
50
ich nichts Böses tun durfte, habe ich mir für dich zu Feinden gemacht.
51
Zum Dank dafür hast du mich glücklich gemacht, wie viele Griechenfrauen
52
meinen. Einen bewundernswerten Gemahl habe ich an dir und einen treuen
53
dazu, ich Arme, die ich als Verbannte aus dem Land fliehen muß, ohne
54
Freunde, verlassen mit verlassenen Kindern. Eine schöne Schande für den
55
neuen Bräutigam, wenn seine Kinder und ich, seine Retterin, als Bettler
56
umherirren!
57
O Zeus, warum gabst du den Menschen den untrüglichen Prüfstein für
58
verfälschtes Gold, während dem Menschenleib kein Merkmal
59
angeschaffen ist, das uns den Schurken klar erkennen läßt?
60
61
Chor: Ganz furchtbar und unversöhnlich ist der Zorn, wenn Gatten
62
miteinander streiten.
63
64
Iason: Mir scheint, ich darf kein schlechter Redner sein, sondern darf wie
65
ein kluger Steuermann nur den äußersten Rand der Segel aufspannen, um
66
deiner boshaften Lästerzunge zu entgehen. Da du dein Verdienst so
67
maßlos übertreibst, will ich dir sagen, daß allein Kypris[3] von allen Göttern
68
und Menschen meiner Fahrt Glück verlieh. Dein Geist ist klug genug; doch
69
willst du es nicht hören, wenn ich sage, daß Eros[4] dich mit seinem
70
unentrinnbaren Bogen zwang, mein Leben zu retten. Doch rede ich nicht
71
lang und breit davon und gebe gerne zu, daß du mir nützlich warst. Durch
72
meine Rettung erlangtest aber du selbst größeren Vorteil, als du mir
73
brachtest, wie ich beweisen will. Fürs erste wohnst du nun in Hellas statt
74
im Barbarenland[5] und lernst das Leben nach Gesetz und Ordnung statt des
75
Faustrechts kennen. Auch haben alle Hellenen erkannt, daß du klug bist,
76
und so gewannst du Ruhm. Denn lebtest du noch immer an den äußersten
77
Grenzen der Erde, schwiege die Welt von dir. Ich jedenfalls möchte weder
78
Gold im Hause haben noch schöner singen als Orpheus[6], wäre mein Leben
79
ohne Ruhm. So viel von meinen Verdiensten um dich. Du wolltest ja den
80
Redekampf. Da du mich aber wegen meiner Ehe mit der Königstochter
81
schmähtest, will ich beweisen, daß ich damit erstens klug handelte,
82
zweitens besonnen und drittens als wahrer Freund für dich und meine
83
Kinder. Fahre nur nicht auf!
84
Als ich aus Iolkos mit vielen schweren Sorgen hierher kam, welch größeren
85
Glücksfund konnte ich da machen als die Heirat mit der Königstochter, ich,
86
der nur ein Verbannter war? Das tat ich nicht, wie du so bissig sagst, weil
87
mir dein Bett verleidet wäre, oder vom Verlangen nach einer neuen Braut
88
und vom Wunsch nach möglichst vielen Kindern getrieben; mir genügen
89
die schon geborenen, und sie sind mir recht. Ich tat es vor allem, damit wir
90
einen anständigen Haushalt führen und nicht Mangel leiden sollten; denn
91
ich weiß, daß jeder Freund dem Armen aus dem Wege geht. Auch wollte
92
ich die Kinder so aufziehen, wie es meinem Haus ansteht, deinen Söhnen
93
Brüder schenken, die sie zu gleichem Rang erheben und durch die
94
Verbindung beider Familien unser Glück machen. Denn wozu brauchst du
95
noch Kinder? Mir aber ist es wichtig, den schon geborenen Kindern durch
96
die künftigen zu nützen. War also mein Entschluß so falsch? Auch du
97
würdest das nicht behaupten, quälte dich nicht Eifersucht. Doch leider seid
98
ihr Weiber so: Wenn in der Ehe alles gut geht, glaubt ihr, euch gehört die
99
Welt. Gibt es dann Unglück in der Ehe, stellt ihr das Beste und Schönste als
100
das Schlimmste hin. Es wäre ja am besten, wenn der Mensch sich anders
101
Kinder zeugte und es die Weiber gar nicht gäbe. So gäbe es kein Unglück
102
in der Welt.
103
104
Chor: Du hast die Worte, Iason, schön gesetzt, doch scheint es mir – mag
105
ich auch anders sprechen, als du denkst – nicht recht getan, wenn du die
106
Frau verläßt.
107
108
Medeia: Ich bin gewiß in vielem anders als viele Menschen. In meinen
109
Augen nämlich macht sich einer schwerster Strafe schuldig, wenn er ein
110
Schurke und dabei noch zungenfertig ist. Denn wer sich rühmt, er könne
111
mit Worten Unrecht bemänteln, wagt jede Schandtat. Und doch ist er nicht
112
allzu klug. So spiele auch jetzt nicht gegen mich den Scheinheiligen und
113
großen Redner. Ein einziges Wort nämlich streckt dich zu Boden. Wärst du
114
kein Schuft, so hättest du nur mit meiner Zustimmung diese Ehe schließen
115
und sie nicht den Deinen verheimlichen dürfen.
116
117
Iason: Ja, du hättest mich gewiß bei meinem Vorhaben unterstützt, hätte
118
ich dir von dieser Ehe gesprochen, wo du nicht einmal jetzt von deinem
119
schweren Groll ablassen kannst.
120
121
Medeia: Nicht diese Überlegung hielt dich ab. Nein! Dir schien unrühmlich,
122
mit der Barbarin lebenslang das Bett zu teilen.
123
124
Iason: So glaub' doch endlich, daß ich die neue Ehe mit der Königstochter
125
nicht wegen ihrer Reize schloß, sondern, wie ich schon vorhin sagte, um
126
dich zu schützen und meinen Kindern Brüder aus königlichem Geschlecht
127
zu zeugen als Stützen unseres Hauses.
128
129
Medeia: Ich wünsche mir kein Glück, das Leid bringt, und nicht Reichtum,
130
der mein Herz zerreißt.
131
132
Iason: Weißt du, wie du den Standpunkt ändern und vernünftiger
133
erscheinen kannst? Halte das Gute nicht für schlimm, und geht es dir gut,
134
meine nicht, du seist unglücklich.
135
136
Medeia: Spotte nur! Du hast ein sicheres Dach, ich aber muß allein und
137
hilflos aus dem Lande fliehen.
138
139
Iason: Du wolltest es so. Klage keinen anderen an!
140
141
Medeia: Was hab' ich denn getan? Habe ich geheiratet und dich betrogen?
142
143
Iason: Du hast gottlose Flüche gegen das Königshaus ausgestoßen.
144
145
Medeia: Auch deinem Hause fluche ich noch immer.
146
147
Iason: Darüber streite ich mit dir nicht länger. Doch wenn du für die Kinder
148
oder dich aus meinem Gut eine Hilfe für die Verbannung annehmen willst,
149
so sag' es! Denn ich bin bereit, mit vollen Händen zu geben und meinen
150
Gastfreunden Empfehlungsbriefe zu schicken, damit sie dir helfen. Und
151
nimmst du das nicht an, Weib, bist du dumm. Doch läßt du gar von deinem
152
Groll, wirst du noch besser fahren.
153
154
Medeia: Deine Gastfreunde brauche ich nicht, nehme auch nichts von dir,
155
und du biete mir nichts an! Denn schlechten Mannes Gabe bringt kein
156
Glück.
157
158
Iason: Nun gut! So rufe ich die Götter zu Zeugen, daß ich dir und den
159
Kindern in allen Stücken helfen will. Doch du verschmähst dein Glück und
160
stößt den Freund im Trotz zurück. Dafür wirst du noch schwerer leiden.
161
162
Medeia: Geh doch! Dich packt ja Sehnsucht nach der neuen Braut, wenn du
163
so lang von ihrem Haus abwesend bist. Heirate nur! Vielleicht – Gott
164
mache mein Wort wahr! – reut dich die neue Ehe noch.

[1] das Gespann der feuerschnaubenden Stiere zu lenken und das todbringende Feld zu besäen: Hier spielt Medeia auf die Aufgaben von Iason an, welche er zum Erlangen des Vlies bewältigen muss.
[2] Pelias brachte ich den Tod, den bittersten, durch seine eigenen Töchter, und befreite dich von aller Furcht: Medeia hat die Töchter des Pelias überzeugt, ihren Vater zu töten, damit dieser Jünger wird. Letztendlich stehen die Töchter als Mörder des Pelias da.
[3] Kypris: Beiname für Aphrodite, die Göttin der Schönheit, der Liebe und der sinnlichen Begierde
[4] Eros: Eros ist der Gott der begehrlichen Liebe. Er wird oft mit Pfeil und Bogen dargestellt. In der römischen Mythologie wird er auch Amor genannt.
[5] Barbarenland: Iason unterscheidet zwischen dem barbarischen, unzivilisierten Kolchis und dem gebildeten, zivilisierten Griechenland.
[6] Orpheus: Er ist ein Sänger und Dichter der griechischen Mythologie, welcher von den Argonauten mitgenommen wurde, da er so eine schöne Stimme hat.

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?