Sechstes Kapitel
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Der Onkel – Leni
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Eines Nachmittags – K. war gerade vor dem Postabschluß sehr
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beschäftigt – drängte sich zwischen zwei Dienern, die Schriftstücke
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hineintrugen, K.s Onkel Karl, ein kleiner Grundbesitzer vom Lande, ins
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Zimmer. K. erschrak bei dem Anblick weniger, als er schon vor längerer Zeit
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bei der Vorstellung vom Kommen des Onkels erschrocken war. Der Onkel
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mußte kommen, das stand bei K. schon etwa einen Monat lang fest. Schon
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damals hatte er ihn zu sehen geglaubt, wie er, ein wenig gebückt, den
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eingedrückten Panamahut in der Linken, die Rechte schon von weitem ihm
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entgegenstreckte und sie mit rücksichtsloser Eile über den Schreibtisch
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hinreichte, alles umstoßend, was ihm im Wege war. Der Onkel befand sich
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immer in Eile, denn er war von dem unglücklichen Gedanken verfolgt, bei
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seinem immer nur eintägigen Aufenthalt in der Hauptstadt müsse er alles
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erledigen können, was er sich vorgenommen hatte, und dürfe überdies
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auch kein gelegentlich sich darbietendes Gespräch oder Geschäft oder
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Vergnügen sich entgehen lassen. Dabei mußte ihm K., der ihm als seinem
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gewesenen Vormund besonders verpflichtet war, in allem möglichen
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behilflich sein und ihn außerdem bei sich übernachten lassen. »Das
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Gespenst vom Lande« pflegte er ihn zu nennen.
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Gleich nach der Begrüßung – sich in den Fauteuil zu setzen, wozu ihn K.
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einlud, hatte er keine Zeit – bat er K. um ein kurzes Gespräch unter vier
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Augen. »Es ist notwendig«, sagte er, mühselig schluckend, »zu meiner
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Beruhigung ist es notwendig.« K. schickte sofort die Diener aus dem
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Zimmer, mit der Weisung, niemand einzulassen. »Was habe ich gehört,
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Josef?« rief der Onkel, als sie allein waren, setzte sich auf den Tisch und
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stopfte unter sich, ohne hinzusehen, verschiedene Papiere, um besser zu
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sitzen. K. schwieg, er wußte, was kommen würde, aber, plötzlich von der
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anstrengenden Arbeit entspannt, wie er war, gab er sich zunächst einer
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angenehmen Mattigkeit hin und sah durch das Fenster auf die
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gegenüberliegende Straßenseite, von der von seinem Sitz aus nur ein
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kleiner, dreieckiger Ausschnitt zu sehen war, ein Stück leerer Häusermauer
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zwischen zwei Geschäftsauslagen. »Du schaust aus dem Fenster!« rief der
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Onkel mit erhobenen Armen, »um Himmels willen, Josef, antworte mir
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doch! Ist es wahr, kann es denn wahr sein?« »Lieber Onkel«, sagte K. und
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riß sich von seiner Zerstreutheit los, »ich weiß ja gar nicht, was du von mir
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willst.« »Josef«, sagte der Onkel warnend, »die Wahrheit hast du immer
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gesagt, soviel ich weiß. Soll ich deine letzten Worte als schlimmes Zeichen
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auffassen?« »Ich ahne ja, was du willst«, sagte K. folgsam, »du hast
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wahrscheinlich von meinem Prozeß gehört.« »So ist es«, antwortete der
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Onkel, langsam nickend, »ich habe von deinem Prozeß gehört.« »Von wem
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denn?« fragte K. »Erna hat es mir geschrieben«, sagte der Onkel, »sie hat
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ja keinen Verkehr mit dir, du kümmerst dich leider nicht viel um sie,
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trotzdem hat sie es erfahren. Heute habe ich den Brief bekommen und bin
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natürlich sofort hergefahren. Aus keinem anderen Grund, aber es scheint
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ein genügender Grund zu sein. Ich kann dir die Briefstelle, die dich betrifft,
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vorlesen.« Er zog den Brief aus der Brieftasche. »Hier ist es. Sie schreibt:
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›Josef habe ich schon lange nicht gesehen, vorige Woche war ich einmal in
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der Bank, aber Josef war so beschäftigt, daß ich nicht vorgelassen wurde;
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ich habe fast eine Stunde gewartet, mußte dann aber nach Hause, weil ich
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Klavierstunde hatte. Ich hätte gern mit ihm gesprochen, vielleicht wird sich
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nächstens eine Gelegenheit finden. Zu meinem Namenstag hat er mir eine
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große Schachtel Schokolade geschickt, es war sehr lieb und aufmerksam.
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Ich hatte vergessen, es Euch damals zu schreiben, erst jetzt, da Ihr mich
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fragt, erinnere ich mich daran. Schokolade, müßt ihr wissen, verschwindet
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nämlich in der Pension sofort, kaum ist man zum Bewußtsein dessen
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gekommen, daß man mit Schokolade beschenkt worden ist, ist sie auch
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schon weg. Aber was Josef betrifft, wollte ich Euch noch etwas sagen. Wie
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erwähnt, wurde ich in der Bank nicht zu ihm vorgelassen, weil er gerade mit
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einem Herrn verhandelte. Nachdem ich eine Zeitlang ruhig gewartet hatte,
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fragte ich einen Diener, ob die Verhandlung noch lange dauern werde. Er
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sagte, das dürfte wohl sein, denn es handle sich wahrscheinlich um den
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Prozeß, der gegen den Herrn Prokuristen geführt werde. Ich fragte, was
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denn das für ein Prozeß sei, ob er sich nicht irre, er aber sagte, er irre sich
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nicht, es sei ein Prozeß, und zwar ein schwerer Prozeß, mehr aber wisse er
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nicht. Er selbst möchte dem Herrn Prokuristen gerne helfen, denn dieser
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sei ein guter und gerechter Herr, aber er wisse nicht, wie er es anfangen
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sollte, und er möchte nur wünschen, daß sich einflußreiche Herren seiner
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annehmen würden. Dies werde auch sicher geschehen, und es werde
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schließlich ein gutes Ende nehmen, vorläufig aber stehe es, wie er aus der
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Laune des Herrn Prokuristen entnehmen könne, gar nicht gut. Ich legte
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diesen Reden natürlich nicht viel Bedeutung bei, suchte auch den
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einfältigen Diener zu beruhigen, verbot ihm, anderen gegenüber davon zu
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sprechen, und halte das Ganze für ein Geschwätz. Trotzdem wäre es
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vielleicht gut, wenn Du, liebster Vater, bei Deinem nächsten Besuch der
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Sache nachgehen wolltest, es wird Dir leicht sein, Genaueres zu erfahren
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und, wenn es wirklich nötig sein sollte, durch Deine großen, einflußreichen
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Bekanntschaften einzugreifen. Sollte es aber nicht nötig sein, was ja das
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wahrscheinlichste ist, so wird es wenigstens Deiner Tochter bald
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Gelegenheit geben, Dich zu umarmen, was sie freuen würde.‹ – Ein gutes
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Kind«, sagte der Onkel, als er die Vorlesung beendet hatte, und wischte
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einige Tränen aus den Augen fort. K. nickte, er hatte infolge der
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verschiedenen Störungen der letzten Zeit vollständig Erna vergessen,
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sogar ihren Geburtstag hatte er vergessen, und die Geschichte von der
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Schokolade war offenbar nur zu dem Zweck erfunden, um ihn vor Onkel
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und Tante in Schutz zu nehmen. Es war sehr rührend, und mit den
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Theaterkarten, die er ihr von jetzt ab regelmäßig schicken wollte, gewiß
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nicht genügend belohnt, aber zu Besuchen in der Pension und zu
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Unterhaltungen mit einer kleinen achtzehnjährigen Gymnasiastin fühlte er
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sich jetzt nicht geeignet. »Und was sagst du jetzt?« fragte der Onkel, der
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durch den Brief alle Eile und Aufregung vergessen hatte und ihn noch
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einmal zu lesen schien. »Ja, Onkel«, sagte K., »es ist wahr.« »Wahr?« rief
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der Onkel. »Was ist wahr? Wie kann es denn wahr sein? Was für ein
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Prozeß? Doch nicht ein Strafprozeß?« »Ein Strafprozeß«, antwortete K.
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»Und du sitzt ruhig hier und hast einen Strafprozeß auf dem Halse?« rief
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der Onkel, der immer lauter wurde. »Je ruhiger ich bin, desto besser ist es
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für den Ausgang«, sagte K. müde, »fürchte nichts.« »Das kann mich nicht
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beruhigen!« rief der Onkel, »Josef, lieber Josef, denke an dich, an deine
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Verwandten, an unsern guten Namen! Du warst bisher unsere Ehre, du
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darfst nicht unsere Schande werden. Deine Haltung«, er sah K. mit schief
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geneigtem Kopfe an, »gefällt mir nicht, so verhält sich kein unschuldig
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Angeklagter, der noch bei Kräften ist. Sag mir nur schnell, worum es sich
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handelt, damit ich dir helfen kann. Es handelt sich natürlich um die Bank?«
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»Nein«, sagte K. und stand auf, »du sprichst aber zu laut, lieber Onkel, der
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Diener steht wahrscheinlich an der Tür und horcht. Das ist mir
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unangenehm. Wir wollen lieber weggehen. Ich werde dir dann alle Fragen,
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so gut es geht, beantworten. Ich weiß sehr gut, daß ich der Familie
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Rechenschaft schuldig bin.« »Richtig!« schrie der Onkel, »sehr richtig,
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beeile dich nur, Josef, beeile dich!« »Ich muß nur noch einige Aufträge
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geben«, sagte K. und berief telephonisch seinen Vertreter zu sich, der in
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wenigen Augenblicken eintrat. Der Onkel, in seiner Aufregung, zeigte ihm
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mit der Hand, daß K. ihn habe rufen lassen, woran auch sonst kein Zweifel
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gewesen wäre. K., der vor dem Schreibtisch stand, erklärte dem jungen
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Mann, der kühl, aber aufmerksam zuhörte, mit leiser Stimme unter
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Zuhilfenahme verschiedener Schriftstücke, was in seiner Abwesenheit
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heute noch erledigt werden müsse. Der Onkel störte, indem er zuerst mit
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großen Augen und nervösem Lippenbeißen dabeistand, ohne allerdings
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zuzuhören, aber der Anschein dessen war schon störend genug. Dann aber
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ging er im Zimmer auf und ab und blieb hie und da vor dem Fenster oder
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vor einem Bild stehen, wobei er immer in verschiedene Ausrufe ausbrach,
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wie: »Mir ist es vollständig unbegreiflich!« oder »Jetzt sagt mir nur, was
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soll denn daraus werden!« Der junge Mann tat, als bemerke er nichts
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davon, hörte ruhig K.s Aufträge bis zu Ende an, notierte sich auch einiges
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und ging, nachdem er sich vor K. wie auch vor dem Onkel verneigt hatte,
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der ihm aber gerade den Rücken zukehrte, aus dem Fenster sah und mit
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ausgestreckten Händen die Vorhänge zusammenknüllte. Die Tür hatte sich
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noch kaum geschlossen, als der Onkel ausrief: »Endlich ist der
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Hampelmann weggegangen, jetzt können doch auch wir gehen. Endlich!«
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Es gab leider kein Mittel, den Onkel zu bewegen, in der Vorhalle, wo einige
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Beamte und Diener herumstanden und die gerade auch der
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Direktor-Stellvertreter kreuzte, die Fragen wegen des Prozesses zu
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unterlassen. »Also, Josef«, begann der Onkel, während er die
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Verbeugungen der Umstehenden durch leichtes Salutieren beantwortete,
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»jetzt sag mir offen, was es für ein Prozeß ist.« K. machte einige
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nichtssagende Bemerkungen, lachte auch ein wenig, und erst auf der
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Treppe erklärte er dem Onkel, daß er vor den Leuten nicht habe offen reden
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wollen. »Richtig«, sagte der Onkel, »aber jetzt rede.« Mit geneigtem Kopf,
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eine Zigarre in kurzen, eiligen Zügen rauchend, hörte er zu. »Vor allem,
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Onkel«, sagte K., »handelt es sich gar nicht um einen Prozeß vor dem
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gewöhnlichen Gericht.« »Das ist schlimm«, sagte der Onkel. »Wie?« sagte
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K. und sah den Onkel an. »Daß das schlimm ist, meine ich«, wiederholte
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der Onkel. Sie standen auf der Freitreppe, die zur Straße führte; da der
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Portier zu horchen schien, zog K. den Onkel hinunter; der lebhafte
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Straßenverkehr nahm sie auf. Der Onkel, der sich in K. eingehängt hatte,
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fragte nicht mehr so dringend nach dem Prozeß, sie gingen sogar eine
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Zeitlang schweigend weiter. »Wie ist es aber geschehen?« fragte endlich
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der Onkel, so plötzlich stehenbleibend, daß die hinter ihm gehenden Leute
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erschreckt auswichen. »Solche Dinge kommen doch nicht plötzlich, sie
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bereiten sich seit langem vor, es müssen Anzeichen dessen gewesen sein,
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warum hast du mir nicht geschrieben? Du weißt, daß ich für dich alles tue,
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ich bin ja gewissermaßen noch dein Vormund und war bis heute stolz
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darauf. Ich werde dir natürlich auch jetzt noch helfen, nur ist es jetzt, wenn
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der Prozeß schon im Gange ist, sehr schwer. Am besten wäre es jedenfalls,
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wenn du dir jetzt einen kleinen Urlaub nimmst und zu uns aufs Land
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kommst. Du bist auch ein wenig abgemagert, jetzt merke ich es. Auf dem
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Land wirst du dich kräftigen, das wird gut sein, es stehen dir ja gewiß
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Anstrengungen bevor. Außerdem aber wirst du dadurch dem Gericht
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gewissermaßen entzogen sein. Hier haben sie alle möglichen Machtmittel,
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die sie notwendigerweise automatisch auch dir gegenüber anwenden; auf
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das Land müßten sie aber erst Organe delegieren oder nur brieflich,
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telegraphisch, telephonisch auf dich einzuwirken suchen. Das schwächt
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natürlich die Wirkung ab, befreit dich zwar nicht, aber läßt dich aufatmen.«
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»Sie könnten mir ja verbieten, wegzufahren«, sagte K., den die Rede des
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Onkels ein wenig in ihren Gedankengang gezogen hatte. »Ich glaube nicht,
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daß sie das tun werden«, sagte der Onkel nachdenklich, »so groß ist der
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Verlust an Macht nicht, den sie durch deine Abreise erleiden.« »Ich
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dachte«, sagte K. und faßte den Onkel unterm Arm, um ihn am
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Stehenbleiben hindern zu können, »daß du dem Ganzen noch weniger
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Bedeutung beimessen würdest als ich, und jetzt nimmst du es selbst so
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schwer.« »Josef«, rief der Onkel und wollte sich ihm entwinden, um
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stehenbleiben zu können, aber K. ließ ihn nicht, »du bist verwandelt, du
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hattest doch immer ein so richtiges Auffassungsvermögen, und gerade
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jetzt verläßt es dich? Willst du denn den Prozeß verlieren? Weißt du, was
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das bedeutet? Das bedeutet, daß du einfach gestrichen wirst. Und daß die
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ganze Verwandtschaft mitgerissen oder wenigstens bis auf den Boden
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gedemütigt wird. Josef, nimm dich doch zusammen. Deine Gleichgültigkeit
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bringt mich um den Verstand. Wenn man dich ansieht, möchte man fast
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dem Sprichwort glauben: ›Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon
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verloren haben‹.«
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»Lieber Onkel«, sagte K., »die Aufregung ist so unnütz, sie ist es auf deiner
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Seite und wäre es auch auf meiner. Mit Aufregung gewinnt man die
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Prozesse nicht, laß auch meine praktischen Erfahrungen ein wenig gelten,
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so wie ich deine, selbst wenn sie mich überraschen, immer und auch jetzt
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sehr achte. Da du sagst, daß auch die Familie durch den Prozeß in
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Mitleidenschaft gezogen würde – was ich für meinen Teil durchaus nicht
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begreifen kann, das ist aber Nebensache –, so will ich dir gerne in allem
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folgen. Nur den Landaufenthalt halte ich selbst in deinem Sinn nicht für
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vorteilhaft, denn das würde Flucht und Schuldbewußtsein bedeuten.
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Überdies bin ich hier zwar mehr verfolgt, kann aber auch selbst die Sache
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mehr betreiben.« »Richtig«, sagte der Onkel in einem Ton, als kämen sie
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jetzt endlich einander näher, »ich machte den Vorschlag nur, weil ich, wenn
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du hier bliebst, die Sache von deiner Gleichgültigkeit gefährdet sah und es
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für besser hielt, wenn ich statt deiner für dich arbeitete. Willst du es aber
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mit aller Kraft selbst betreiben, so ist es natürlich weit besser.« »Darin
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wären wir also einig«, sagte K. »Und hast du jetzt einen Vorschlag dafür,
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was ich zunächst machen soll?« »Ich muß mir natürlich die Sache noch
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überlegen«, sagte der Onkel, »du mußt bedenken, daß ich jetzt schon
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zwanzig Jahre fast ununterbrochen auf dem Lande bin, dabei läßt der
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Spürsinn in diesen Richtungen nach. Verschiedene wichtige Verbindungen
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mit Persönlichkeiten, die sich hier vielleicht besser auskennen, haben sich
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von selbst gelockert. Ich bin auf dem Land ein wenig verlassen, das weißt
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du ja. Selbst merkt man es eigentlich erst bei solchen Gelegenheiten. Zum
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Teil kam mir deine Sache auch unerwartet, wenn ich auch
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merkwürdigerweise nach Ernas Brief schon etwas Derartiges ahnte und es
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heute bei deinem Anblick fast mit Bestimmtheit wußte. Aber das ist
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gleichgültig, das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlieren.« Schon
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während seiner Rede hatte er, auf den Fußspitzen stehend, einem
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Automobil gewinkt und zog jetzt, während er gleichzeitig dem Wagenlenker
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eine Adresse zurief, K. hinter sich in den Wagen. »Wir fahren jetzt zum
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Advokaten Huld«, sagte er, »er war mein Schulkollege. Du kennst den
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Namen gewiß auch? Nicht? Das ist aber merkwürdig. Er hat doch als
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Verteidiger und Armenadvokat einen bedeutenden Ruf. Ich aber habe
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besonders zu ihm als Menschen großes Vertrauen.« »Mir ist alles recht,
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was du unternimmst«, sagte K., obwohl ihm die eilige und dringliche Art,
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mit der der Onkel die Angelegenheit behandelte, Unbehagen verursachte.
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Es war nicht sehr erfreulich, als Angeklagter zu einem Armenadvokaten zu
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fahren. »Ich wußte nicht«, sagte er,»daß man in einer solchen Sache auch
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einen Advokaten zuziehen könne.« »Aber natürlich«, sagte der Onkel, »das
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ist ja selbstverständlich. Warum denn nicht? Und nun erzähle mir, damit ich
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über die Sache genau unterrichtet bin, alles, was bisher geschehen ist.« K.
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begann sofort zu erzählen, ohne irgend etwas zu verschweigen, seine
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vollständige Offenheit war der einzige Protest, den er sich gegen des
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Onkels Ansicht, der Prozeß sei eine große Schande, erlauben konnte.
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Fräulein Bürstners Namen erwähnte er nur einmal und flüchtig, aber das
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beeinträchtigte nicht die Offenheit, denn Fräulein Bürstner stand mit dem
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Prozeß in keiner Verbindung. Während er erzählte, sah er aus dem Fenster
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und beobachtete, wie sie sich gerade jener Vorstadt näherten, in der die
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Gerichtskanzleien waren, er machte den Onkel darauf aufmerksam, der
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aber das Zusammentreffen nicht besonders auffallend fand. Der Wagen
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hielt vor einem dunklen Haus. Der Onkel läutete gleich im Parterre bei der
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ersten Tür; während sie warteten, fletschte er lächelnd seine großen Zähne
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und flüsterte: »Acht Uhr, eine ungewöhnliche Zeit für Parteienbesuche.
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Huld nimmt es mir aber nicht übel.« Im Guckfenster der Tür erschienen
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zwei große, schwarze Augen, sahen ein Weilchen die zwei Gäste an und
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verschwanden; die Tür öffnete sich aber nicht. Der Onkel und K.
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bestätigten einander gegenseitig die Tatsache, die zwei Augen gesehen zu
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haben. »Ein neues Stubenmädchen, das sich vor Fremden fürchtet«, sagte
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der Onkel und klopfte nochmals. Wieder erschienen die Augen, man konnte
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sie jetzt fast für traurig halten, vielleicht war das aber auch nur eine
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Täuschung, hervorgerufen durch die offene Gasflamme, die nahe über den
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Köpfen stark zischend brannte, aber wenig Licht gab. »Öffnen Sie«, rief der
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Onkel und hieb mit der Faust gegen die Tür, »es sind Freunde des Herrn
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Advokaten!« »Der Herr Advokat ist krank«, flüsterte es hinter ihnen. In einer
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Tür am andern Ende des kleinen Ganges stand ein Herr im Schlafrock und
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machte mit äußerst leiser Stimme diese Mitteilung. Der Onkel, der schon
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wegen des langen Wartens wütend war, wandte sich mit einem Ruck um,
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rief: »Krank? Sie sagen, er ist krank?« und ging fast drohend, als sei der
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Herr die Krankheit, auf ihn zu. »Man hat schon geöffnet«, sagte der Herr,
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zeigte auf die Tür des Advokaten, raffte seinen Schlafrock zusammen und
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verschwand. Die Tür war wirklich geöffnet worden, ein junges Mädchen – K.
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erkannte die dunklen, ein wenig hervorgewälzten Augen wieder – stand in
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langer, weißer Schürze im Vorzimmer und hielt eine Kerze in der Hand.
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»Nächstens öffnen Sie früher!« sagte der Onkel statt einer Begrüßung,
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während das Mädchen einen kleinen Knicks machte. »Komm, Josef«, sagte
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er dann zu K., der sich langsam an dem Mädchen vorüberschob. »Der Herr
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Advokat ist krank«, sagte das Mädchen, da der Onkel, ohne sich
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aufzuhalten, auf eine Tür zueilte. K. staunte das Mädchen noch an, während
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es sich schon umgedreht hatte, um die Wohnungstür wieder zu versperren,
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es hatte ein puppenförmig gerundetes Gesicht, nicht nur die bleichen
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Wangen und das Kinn verliefen rund, auch die Schläfen und die
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Stirnränder. »Josef!« rief der Onkel wieder, und das Mädchen fragte er: »Es
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ist das Herzleiden?« »Ich glaube wohl«, sagte das Mädchen, es hatte Zeit
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gefunden, mit der Kerze voranzugehen und die Zimmertür zu öffnen. In
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einem Winkel des Zimmers, wohin das Kerzenlicht noch nicht drang, erhob
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sich im Bett ein Gesicht mit langem Bart. »Leni, wer kommt denn?« fragte
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der Advokat, der, durch die Kerze geblendet, die Gäste nicht erkannte.
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»Albert, dein alter Freund ist es«, sagte der Onkel. »Ach, Albert«, sagte der
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Advokat und ließ sich auf die Kissen zurückfallen, als bedürfe es diesem
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Besuch gegenüber keiner Verstellung. »Steht es wirklich so schlecht?«
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fragte der Onkel und setzte sich auf den Bettrand. »Ich glaube es nicht. Es
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ist ein Anfall deines Herzleidens und wird vorübergehen wie die früheren.«
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»Möglich«, sagte der Advokat leise, »es ist aber ärger, als es jemals
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gewesen ist. Ich atme schwer, schlafe gar nicht und verliere täglich an
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Kraft.« »So«, sagte der Onkel und drückte den Panamahut mit seiner
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großen Hand fest aufs Knie. »Das sind schlechte Nachrichten. Hast du
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übrigens die richtige Pflege? Es ist auch so traurig hier, so dunkel. Es ist
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schon lange her, seit ich zum letztenmal hier war, damals schien es mir
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freundlicher. Auch dein kleines Fräulein hier scheint nicht sehr lustig, oder
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sie verstellt sich.« Das Mädchen stand noch immer mit der Kerze nahe bei
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der Tür; soweit ihr unbestimmter Blick erkennen ließ, sah sie eher K. an als
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den Onkel, selbst als dieser jetzt von ihr sprach. K. lehnte an einem Sessel,
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den er in die Nähe des Mädchens geschoben hatte. »Wenn man so krank ist
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wie ich«, sagte der Advokat, »muß man Ruhe haben. Mir ist es nicht
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traurig.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Und Leni pflegt mich
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gut, sie ist brav.« Den Onkel konnte das aber nicht überzeugen, er war
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sichtlich gegen die Pflegerin voreingenommen, und wenn er auch dem
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Kranken nichts entgegnete, so verfolgte er doch die Pflegerin mit strengen
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Blicken, als sie jetzt zum Bett hinging, die Kerze auf das Nachttischchen
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stellte, sich über den Kranken hinbeugte und beim Ordnen der Kissen mit
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ihm flüsterte. Er vergaß fast die Rücksicht auf den Kranken, stand auf, ging
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hinter der Pflegerin hin und her, und K. hätte es nicht gewundert, wenn er
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sie hinten an den Röcken erfaßt und vom Bett fortgezogen hätte. K. selbst
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sah allem ruhig zu, die Krankheit des Advokaten war ihm sogar nicht ganz
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unwillkommen, dem Eifer, den der Onkel für seine Sache entwickelt hatte,
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hatte er sich nicht entgegenstellen können, die Ablenkung, die dieser Eifer
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jetzt ohne sein Zutun erfuhr, nahm er gerne hin. Da sagte der Onkel,
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vielleicht nur in der Absicht, die Pflegerin zu beleidigen: »Fräulein, bitte,
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lassen Sie uns ein Weilchen allein, ich habe mit meinem Freund eine
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persönliche Angelegenheit zu besprechen.« Die Pflegerin, die noch weit
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über den Kranken hingebeugt war und gerade das Leintuch an der Wand
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glättete, wendete nur den Kopf und sagte sehr ruhig, was einen
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auffallenden Unterschied zu den vor Wut stockenden und dann wieder
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überfließenden Reden des Onkels bildete: »Sie sehen, der Herr ist so krank,
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er kann keine Angelegenheiten besprechen.« Sie hatte die Worte des
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Onkels wahrscheinlich nur aus Bequemlichkeit wiederholt, immerhin
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konnte es selbst von einem Unbeteiligten als spöttisch aufgefaßt werden,
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der Onkel aber fuhr natürlich wie ein Gestochener auf. »Du Verdammte«,
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sagte er im ersten Gurgeln der Aufregung noch ziemlich unverständlich, K.
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erschrak, obwohl er etwas Ähnliches erwartet hatte, und lief auf den Onkel
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zu, mit der bestimmten Absicht, ihm mit beiden Händen den Mund zu
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schließen. Glücklicherweise erhob sich aber hinter dem Mädchen der
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Kranke, der Onkel machte ein finsteres Gesicht, als schlucke er etwas
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Abscheuliches hinunter, und sagte dann ruhiger: »Wir haben natürlich auch
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noch den Verstand nicht verloren; wäre das, was ich verlange, nicht
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möglich, würde ich es nicht verlangen. Bitte, gehen Sie jetzt!« Die Pflegerin
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stand aufgerichtet am Bett, dem Onkel voll zugewendet, mit der einen Hand
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streichelte sie, wie K. zu bemerken glaubte, die Hand des Advokaten. »Du
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kannst vor Leni alles sagen«, sagte der Kranke, zweifellos im Ton einer
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dringenden Bitte. »Es betrifft mich nicht«, sagte der Onkel, »es ist nicht
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mein Geheimnis.« Und er drehte sich um, als gedenke er in keine
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Verhandlungen mehr einzugehen, gebe aber noch eine kleine Bedenkzeit.
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»Wen betrifft es denn?« fragte der Advokat mit erlöschender Stimme und
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legte sich wieder zurück. »Meinen Neffen«, sagte der Onkel, »ich habe ihn
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auch mitgebracht.« Und er stellte vor: »Prokurist Josef K.« »Oh«, sagte der
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Kranke viel lebhafter und streckte K. die Hand entgegen, »verzeihen Sie, ich
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habe Sie gar nicht bemerkt. Geh, Leni«, sagte er dann zu der Pflegerin, die
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sich auch gar nicht mehr wehrte, und reichte ihr die Hand, als gelte es
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einen Abschied für lange Zeit. »Du bist also«, sagte er endlich zum Onkel,
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der, auch versöhnt, nähergetreten war, »nicht gekommen, mir einen
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Krankenbesuch zu machen, sondern du kommst in Geschäften.« Es war,
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als hätte die Vorstellung eines Krankenbesuches den Advokaten bisher
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gelähmt, so gekräftigt sah er jetzt aus, blieb ständig auf einem Ellbogen
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aufgestützt, was ziemlich anstrengend sein mußte, und zog immer wieder
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an einem Bartstrahn in der Mitte seines Bartes. »Du siehst schon viel
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gesünder aus«, sagte der Onkel, »seit diese Hexe draußen ist.« Er
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unterbrach sich, flüsterte: »Ich wette, daß sie horcht!« und er sprang zur
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Tür. Aber hinter der Tür war niemand, der Onkel kam zurück, nicht
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enttäuscht, denn ihr Nichthorchen erschien ihm als eine noch größere
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Bosheit, wohl aber verbittert: »Du verkennst sie«, sagte der Advokat, ohne
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die Pflegerin weiter in Schutz zu nehmen; vielleicht wollte er damit
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ausdrücken, daß sie nicht schutzbedürftig sei. Aber in viel
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teilnehmenderem Tone fuhr er fort: »Was die Angelegenheit deines Herrn
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Neffen betrifft, so würde ich mich allerdings glücklich schätzen, wenn
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meine Kraft für diese äußerst schwierige Aufgabe ausreichen könnte; ich
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fürchte sehr, daß sie nicht ausreichen wird, jedenfalls will ich nichts
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unversucht lassen; wenn ich nicht ausreiche, könnte man ja noch
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jemanden anderen beiziehen. Um aufrichtig zu sein, interessiert mich die
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Sache zu sehr, als daß ich es über mich bringen könnte, auf jede
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Beteiligung zu verzichten. Hält es mein Herz nicht aus, so wird es doch
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wenigstens hier eine würdige Gelegenheit finden, gänzlich zu versagen.« K.
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glaubte, kein Wort dieser ganzen Rede zu verstehen, er sah den Onkel an,
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um dort eine Erklärung zu finden, aber dieser saß, mit der Kerze in der
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Hand, auf dem Nachttischchen, von dem bereits eine Arzneiflasche auf den
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Teppich gerollt war, nickte zu allem, was der Advokat sagte, war mit allem
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einverstanden und sah hie und da auf K. mit der Aufforderung zu gleichem
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Einverständnis hin. Hatte vielleicht der Onkel schon früher dem Advokaten
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von dem Prozeß erzählt? Aber das war unmöglich, alles, was
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vorhergegangen war, sprach dagegen. »Ich verstehe nicht –«, sagte er
360
deshalb. »Ja, habe vielleicht ich Sie mißverstanden?« fragte der Advokat
361
ebenso erstaunt und verlegen wie K. »Ich war vielleicht voreilig. Worüber
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wollten Sie denn mit mir sprechen? Ich dachte, es handle sich um Ihren
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Prozeß?« »Natürlich«, sagte der Onkel und fragte dann K.: »Was willst du
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denn?« »Ja, aber woher wissen Sie denn etwas über mich und meinen
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Prozeß?« fragte K. »Ach so«, sagte der Advokat lächelnd, »ich bin doch
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Advokat, ich verkehre in Gerichtskreisen, man spricht über verschiedene
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Prozesse, und auffallendere, besonders wenn es den Neffen eines
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Freundes betrifft, behält man im Gedächtnis. Das ist doch nichts
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Merkwürdiges.« »Was willst du denn?« fragte der Onkel K. nochmals. »Du
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bist so unruhig.« »Sie verkehren in diesen Gerichtskreisen?« fragte K.
371
»Ja«, sagte der Advokat. »Du fragst wie ein Kind«, sagte der Onkel. »Mit
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wem sollte ich denn verkehren, wenn nicht mit Leuten meines Faches?«
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fügte der Advokat hinzu. Es klang so unwiderleglich, daß K. gar nicht
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antwortete. »Sie arbeiten doch bei dem Gericht im Justizpalast, und nicht
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bei dem auf dem Dachboden«, hatte er sagen wollen, konnte sich aber nicht
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überwinden, es wirklich zu sagen. »Sie müssen doch bedenken«, fuhr der
377
Advokat fort, in einem Tone, als erkläre er etwas Selbstverständliches
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überflüssigerweise und nebenbei, »Sie müssen doch bedenken, daß ich
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aus einem solchen Verkehr auch große Vorteile für meine Klientel ziehe,
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und zwar in vielfacher Hinsicht, man darf nicht einmal immer davon reden.
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Natürlich bin ich jetzt infolge meiner Krankheit ein wenig behindert, aber
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ich bekomme trotzdem Besuch von guten Freunden vom Gericht und
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erfahre doch einiges. Erfahre vielleicht mehr als manche, die in bester
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Gesundheit den ganzen Tag bei Gericht verbringen. So habe ich zum
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Beispiel gerade jetzt einen lieben Besuch.« Und er zeigte in eine dunkle
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Zimmerecke. »Wo denn?« fragte K. in der ersten Überraschung fast grob.
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Er sah unsicher herum; das Licht der kleinen Kerze drang bis zur
388
gegenüberliegenden Wand bei weitem nicht. Und wirklich begann sich dort
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in der Ecke etwas zu rühren. Im Licht der Kerze, die der Onkel jetzt
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hochhielt, sah man dort, bei einem kleinen Tischchen, einen älteren Herrn
391
sitzen. Er hatte wohl gar nicht geatmet, das er so lange unbemerkt
392
geblieben war. Jetzt stand er umständlich auf, offenbar unzufrieden damit,
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daß man auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Es war, als wolle er mit den
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Händen, die er wie kurze Flügel bewegte, alle Vorstellungen und
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Begrüßungen abwehren, als wolle er auf keinen Fall die anderen durch
396
seine Anwesenheit stören und als bitte er dringend wieder um die
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Versetzung ins Dunkel und um das Vergessen seiner Anwesenheit. Das
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konnte man ihm nun aber nicht mehr zugestehen. »Ihr habt uns nämlich
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überrascht«, sagte der Advokat zur Erklärung und winkte dabei dem Herrn
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aufmunternd zu, näherzukommen, was dieser langsam, zögernd
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herumblickend und doch mit einer gewissen Würde tat, »der Herr
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Kanzleidirektor – ach so, Verzeihung, ich habe nicht vorgestellt – hier mein
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Freund Albert K., hier sein Neffe, Prokurist Josef K., und hier der Herr
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Kanzleidirektor – der Herr Kanzleidirektor also war so freundlich, mich zu
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besuchen. Den Wert eines solchen Besuches kann eigentlich nur der
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Eingeweihte würdigen, welcher weiß, wie der Herr Kanzleidirektor mit
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Arbeit überhäuft ist. Nun, er kam aber trotzdem, wir unterhielten uns
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friedlich, soweit meine Schwäche es erlaubte, wir hatten zwar Leni nicht
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verboten, Besuche einzulassen, denn es waren keine zu erwarten, aber
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unsere Meinung war doch, daß wir allein bleiben sollten, dann aber kamen
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deine Fausthiebe, Albert, der Herr Kanzleidirektor rückte mit Sessel und
412
Tisch in den Winkel, nun aber zeigt sich, daß wir möglicherweise, das heißt,
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wenn der Wunsch danach besteht, eine gemeinsame Angelegenheit zu
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besprechen haben und sehr gut wieder zusammenrücken können. – Herr
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Kanzleidirektor«, sagte er mit Kopfneigen und unterwürfigem Lächeln und
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zeigte auf einen Lehnstuhl in der Nähe des Bettes. »Ich kann leider nur
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noch ein paar Minuten bleiben«, sagte der Kanzleidirektor freundlich, setzte
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sich breit in den Lehnstuhl und sah auf die Uhr, »die Geschäfte rufen mich.
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Jedenfalls will ich nicht die Gelegenheit vorübergehen lassen, einen Freund
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meines Freundes kennenzulernen.« Er neigte den Kopf leicht gegen den
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Onkel, der von der neuen Bekanntschaft sehr befriedigt schien, aber infolge
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seiner Natur Gefühle der Ergebenheit nicht ausdrücken konnte und die
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Worte des Kanzleidirektors mit verlegenem, aber lautem Lachen begleitete.
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Ein häßlicher Anblick! K. konnte ruhig alles beobachten, denn um ihn
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kümmerte sich niemand, der Kanzleidirektor nahm, wie es seine
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Gewohnheit schien, da er nun schon einmal hervorgezogen war, die
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Herrschaft über das Gespräch an sich, der Advokat, dessen erste
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Schwäche vielleicht nur dazu hatte dienen sollen, den neuen Besuch zu
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vertreiben, hörte aufmerksam, die Hand am Ohre zu, der Onkel als
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Kerzenträger – er balancierte die Kerze auf seinem Schenkel, der Advokat
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sah öfter besorgt hin – war bald frei von Verlegenheit und nur noch
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entzückt, sowohl von der Art der Rede des Kanzleidirektors als auch von
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den sanften, wellenförmigen Handbewegungen, mit denen er sie begleitete.
434
K., der am Bettpfosten lehnte, wurde vom Kanzleidirektor vielleicht sogar
435
mit Absicht vollständig vernachlässigt und diente den alten Herren nur als
436
Zuhörer. Übrigens wußte er kaum, wovon die Rede war und dachte bald an
437
die Pflegerin und an die schlechte Behandlung, die sie vom Onkel erfahren
438
hatte, bald daran, ob er den Kanzleidirektor nicht schon einmal gesehen
439
hatte, vielleicht sogar in der Versammlung bei seiner ersten Untersuchung.
440
Wenn er sich auch vielleicht täuschte, so hätte sich doch der
441
Kanzleidirektor den Versammlungsteilnehmern in der ersten Reihe, den
442
alten Herren mit den schütteren Bärten, vorzüglich eingefügt.
443
Da ließ ein Lärm aus dem Vorzimmer, wie von zerbrechendem Porzellan,
444
alle aufhorchen. »Ich will nachsehen, was geschehen ist«, sagte K. und
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ging langsam hinaus, als gebe er den anderen noch Gelegenheit, ihn
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zurückzuhalten. Kaum war er ins Vorzimmer getreten und wollte sich im
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Dunkel zurechtfinden, als sich auf die Hand, mit der er die Tür noch
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festhielt, eine kleine Hand legte, viel kleiner als K.s Hand, und die Tür leise
449
schloß. Es war die Pflegerin, die hier gewartet hatte. »Es ist nichts
450
geschehen«, flüsterte sie, »ich habe nur einen Teller gegen die Mauer
451
geworfen, um Sie herauszuholen.« In seiner Befangenheit sagte K: »Ich
452
habe auch an Sie gedacht.« »Desto besser«, sagte die Pflegerin, »kommen
453
Sie.« Nach ein paar Schritten kamen sie zu einer Tür aus mattem Glas,
454
welche die Pflegerin vor K. öffnete. »Treten Sie doch ein«, sagte sie. Es war
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jedenfalls das Arbeitszimmer des Advokaten; soweit man im Mondlicht
456
sehen konnte, das jetzt nur einen kleinen, viereckigen Teil des Fußbodens
457
an jedem der drei großen Fenster erhellte, war es mit schweren, alten
458
Möbelstücken ausgestattet. »Hierher«, sagte die Pflegerin und zeigte auf
459
eine dunkle Truhe mit holzgeschnitzter Lehne. Noch als er sich gesetzt
460
hatte, sah sich K. im Zimmer um, es war ein hohes, großes Zimmer, die
461
Kundschaft des Armenadvokaten mußte sich hier verloren vorkommen. K.
462
glaubte, die kleinen Schritte zu sehen, mit denen die Besucher zu dem
463
gewaltigen Schreibtisch vorrückten. Dann aber vergaß er dies und hatte nur
464
noch Augen für die Pflegerin, die ganz nahe neben ihm saß und ihn fast an
465
die Seitenlehne drückte. »Ich dachte«, sagte sie, »Sie würden von selbst zu
466
mir herauskommen, ohne daß ich Sie erst rufen müßte. Es war doch
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merkwürdig. Zuerst sahen Sie mich gleich beim Eintritt ununterbrochen an
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und dann ließen Sie mich warten. Nennen Sie mich übrigens Leni«, fügte
469
sie noch rasch und unvermittelt zu, als solle kein Augenblick dieser
470
Aussprache versäumt werden. »Gern«, sagte K. »Was aber die
471
Merkwürdigkeit betrifft, Leni, so ist sie leicht zu erklären. Erstens mußte ich
472
doch das Geschwätz der alten Herren anhören und konnte nicht grundlos
473
weglaufen, zweitens aber bin ich nicht frech, sondern eher schüchtern, und
474
auch Sie, Leni, sahen wahrhaftig nicht so aus, als ob Sie in einem Sprung
475
zu gewinnen wären.« »Das ist es nicht«, sagte Leni, legte den Arm über die
476
Lehne und sah K. an, »aber ich gefiel Ihnen nicht und gefalle Ihnen auch
477
wahrscheinlich jetzt nicht.« »Gefallen wäre ja nicht viel«, sagte K.
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ausweichend. »Oh!« sagte sie lächelnd und gewann durch K.s Bemerkung
479
und diesen kleinen Ausruf eine gewisse Überlegenheit. Deshalb schwieg K.
480
ein Weilchen. Da er sich an das Dunkel im Zimmer schon gewöhnt hatte,
481
konnte er verschiedene Einzelheiten der Einrichtung unterscheiden.
482
Besonders fiel ihm ein großes Bild auf, das rechts von der Tür hing, er
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beugte sich vor, um es besser zu sehen. Es stellte einen Mann im
484
Richtertalar dar; er saß auf einem hohen Thronsessel, dessen Vergoldung
485
vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das Ungewöhnliche war, daß dieser
486
Richter nicht in Ruhe und Würde dort saß, sondern den linken Arm fest an
487
Rücken- und Seitenlehne drückte, den rechten Arm aber völlig frei hatte
488
und nur mit der Hand die Seitenlehne umfaßte, als wolle er im nächsten
489
Augenblick mit einer heftigen und vielleicht empörten Wendung
490
aufspringen, um etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil zu
491
verkünden. Der Angeklagte war wohl zu Füßen der Treppe zu denken, deren
492
oberste, mit einem gelben Teppich bedeckte Stufen noch auf dem Bilde zu
493
sehen waren. »Vielleicht ist das mein Richter«, sagte K. und zeigte mit
494
einem Finger auf das Bild. »Ich kenne ihn«, sagte Leni und sah auch zum
495
Bilde auf, »er kommt öfters hierher. Das Bild stammt aus seiner Jugend, er
496
kann aber niemals dem Bilde auch nur ähnlich gewesen sein, denn er ist
497
fast winzig klein. Trotzdem hat er sich auf dem Bild so in die Länge ziehen
498
lassen, denn er ist unsinnig eitel, wie alle hier. Aber auch ich bin eitel und
499
sehr unzufrieden damit, daß ich Ihnen gar nicht gefalle.« Auf die letzte
500
Bemerkung antwortete K. nur damit, daß er Leni umfaßte und an sich zog,
501
sie lehnte still den Kopf an seine Schulter. Zu dem Übrigen aber sagte er:
502
»Was für einen Rang hat er?« »Er ist Untersuchungsrichter«, sagte sie,
503
ergriff K.s Hand, mit der er sie umfaßt hielt, und spielte mit seinen Fingern.
504
»Wieder nur Untersuchungsrichter«, sagte K. enttäuscht, »die hohen
505
Beamten verstecken sich. Aber er sitzt doch auf einem Thronsessel.« »Das
506
ist alles Erfindung«, sagte Leni, das Gesicht über K.s Hand gebeugt, »in
507
Wirklichkeit sitzt er auf einem Küchensessel, auf dem eine alte Pferdedecke
508
zusammengelegt ist. Aber müssen Sie denn immerfort an Ihren Prozeß
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denken?« fügte sie langsam hinzu. »Nein, durchaus nicht«, sagte K., »ich
510
denke wahrscheinlich sogar zu wenig an ihn.« »Das ist nicht der Fehler,
511
den Sie machen«, sagte Leni, »Sie sind zu unnachgiebig, so habe ich es
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gehört.« »Wer hat das gesagt?« fragte K., er fühlte ihren Körper an seiner
513
Brust und sah auf ihr reiches, dunkles, fest gedrehtes Haar hinab. »Ich
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würde zuviel verraten, wenn ich das sagte«, antwortete Leni. »Fragen Sie,
515
bitte, nicht nach Namen, stellen Sie aber Ihren Fehler ab, seien Sie nicht
516
mehr so unnachgiebig, gegen dieses Gericht kann man sich ja nicht
517
wehren, man muß das Geständnis machen. Machen Sie doch bei nächster
518
Gelegenheit das Geständnis. Erst dann ist die Möglichkeit zu entschlüpfen
519
gegeben, erst dann. Jedoch selbst das ist ohne fremde Hilfe nicht möglich,
520
wegen dieser Hilfe aber müssen Sie sich nicht ängstigen, die will ich Ihnen
521
selbst leisten.« »Sie verstehen viel von diesem Gericht und von den
522
Betrügereien, die hier nötig sind«, sagte K. und hob sie, da sie sich allzu
523
stark an ihn drängte, auf seinen Schoß. »So ist es gut«, sagte sie und
524
richtete sich auf seinem Schoß ein, indem sie den Rock glättete und die
525
Bluse zurechtzog. Dann hing sie sich mit beiden Händen an seinen Hals,
526
lehnte sich zurück und sah ihn lange an. »Und wenn ich das Geständnis
527
nicht mache, dann können Sie mir nicht helfen?« fragte K. versuchsweise.
528
Ich werbe Helferinnen, dachte er fast verwundert, zuerst Fräulein Bürstner,
529
dann die Frau des Gerichtsdieners und endlich diese kleine Pflegerin, die
530
ein unbegreifliches Bedürfnis nach mir zu haben scheint. Wie sie auf
531
meinem Schoß sitzt, als sei es ihr einzig richtiger Platz! »Nein«, antwortete
532
Leni und schüttelte langsam den Kopf, »dann kann ich Ihnen nicht helfen.
533
Aber Sie wollen ja meine Hilfe gar nicht, es liegt Ihnen nichts daran, Sie
534
sind eigensinnig und lassen sich nicht überzeugen.« »Haben Sie eine
535
Geliebte?« fragte sie nach einem Weilchen. »Nein«, sagte K. »O doch«,
536
sagte sie. »Ja, wirklich«, sagte K., »denken Sie nur, ich habe sie verleugnet
537
und trage doch sogar ihre Photographie bei mir.« Auf ihre Bitten zeigte er
538
ihr eine Photographie Elsas, zusammengekrümmt auf seinem Schoß,
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studierte sie das Bild. Es war eine Momentphotographie, Elsa war nach
540
einem Wirbeltanz aufgenommen, wie sie ihn in dem Weinlokal gern tanzte,
541
ihr Rock flog noch im Faltenwurf der Drehung um sie her, die Hände hatte
542
sie auf die festen Hüften gelegt und sah mit straffem Hals lachend zur
543
Seite; wem ihr Lachen galt, konnte man aus dem Bild nicht erkennen. »Sie
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ist stark geschnürt«, sagte Leni und zeigte auf die Stelle, wo dies ihrer
545
Meinung nach zu sehen war. »Sie gefällt mir nicht, sie ist unbeholfen und
546
roh. Vielleicht ist sie aber Ihnen gegenüber sanft und freundlich, darauf
547
könnte man nach dem Bilde schließen. So große, starke Mädchen wissen
548
oft nichts anderes, als sanft und freundlich zu sein. Würde sie sich aber für
549
Sie opfern können?« »Nein«, sagte K., »sie ist weder sanft und freundlich,
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noch würde sie sich für mich opfern können. Auch habe ich bisher weder
551
das eine noch das andere von ihr verlangt. Ja, ich habe noch nicht einmal
552
das Bild so genau angesehen wie Sie.« »Es liegt Ihnen also gar nicht viel an
553
ihr«, sagte Leni, »sie ist also gar nicht Ihre Geliebte.« »Doch«, sagte K. »Ich
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nehme mein Wort nicht zurück.« »Mag sie also jetzt Ihre Geliebte sein«,
555
sagte Leni, »Sie würden sie aber nicht sehr vermissen, wenn Sie sie
556
verlören oder für jemand anderen, zum Beispiel für mich, eintauschten.«
557
»Gewiß«, sagte K. lächelnd, »das wäre denkbar, aber sie hat einen großen
558
Vorteil Ihnen gegenüber, sie weiß nichts von meinem Prozeß, und selbst
559
wenn sie etwas davon wüßte, würde sie nicht daran denken. Sie würde
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mich nicht zur Nachgiebigkeit zu überreden suchen.« »Das ist kein Vorteil«,
561
sagte Leni. »Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere ich nicht den
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Mut. Hat sie irgendeinen körperlichen Fehler?« »Einen körperlichen
563
Fehler?« fragte K. »Ja«, sagte Leni, »ich habe nämlich einen solchen
564
kleinen Fehler, sehen Sie.« Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer
565
rechten Hand auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast
566
bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger reichte. K. merkte im Dunkel
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nicht gleich, was sie ihm zeigen wollte, sie führte deshalb seine Hand hin,
568
damit er es abtaste. »Was für ein Naturspiel«, sagte K. und fügte, als er die
569
ganze Hand überblickt hatte, hinzu: »Was für eine hübsche Kralle!« Mit
570
einer Art Stolz sah Leni zu, wie K. staunend immer wieder ihre zwei Finger
571
auseinanderzog und zusammenlegte, bis er sie schließlich flüchtig küßte
572
und losließ. »Oh!« rief sie aber sofort, »Sie haben mich geküßt!« Eilig, mit
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offenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinen Schoß. K. sah fast
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bestürzt zu ihr auf, jetzt, da sie ihm so nahe war, ging ein bitterer,
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aufreizender Geruch wie von Pfeffer von ihr aus, sie nahm seinen Kopf an
576
sich, beugte sich über ihn hinweg und biß und küßte seinen Hals, biß selbst
577
in seine Haare. »Sie haben mich eingetauscht!« rief sie von Zeit zu Zeit,
578
»sehen Sie, nun haben Sie mich eingetauscht!« Da glitt ihr Knie aus, mit
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einem kleinen Schrei fiel sie fast auf den Teppich, K. umfaßte sie, um sie
580
noch zu halten, und wurde zu ihr hinabgezogen. »Jetzt gehörst du mir«,
581
sagte sie. »Hier hast du den Hausschlüssel, komm, wann du willst«, waren
582
ihre letzten Worte, und ein zielloser Kuß traf ihn noch im Weggehen auf den
583
Rücken. Als er aus dem Haustor trat, fiel ein leichter Regen, er wollte in die
584
Mitte der Straße gehen, um vielleicht Leni noch beim Fenster erblicken zu
585
können, da stürzte aus einem Automobil, das vor dem Hause wartete und
586
das K. in seiner Zerstreutheit gar nicht bemerkt hatte, der Onkel, faßte ihn
587
bei den Armen und stieß ihn gegen das Haustor, als wolle er ihn dort
588
festnageln. »Junge«, rief er, »wie konntest du nur das tun! Du hast deiner
589
Sache, die auf gutem Wege war, schrecklich geschadet. Verkriechst dich
590
mit einem kleinen, schmutzigen Ding, das überdies offensichtlich die
591
Geliebte des Advokaten ist, und bleibst stundenlang weg. Suchst nicht
592
einmal einen Vorwand, verheimlichst nichts, nein, bist ganz offen, läufst zu
593
ihr und bleibst bei ihr. Und unterdessen sitzen wir beisammen, der Onkel,
594
der sich für dich abmüht, der Advokat, der für dich gewonnen werden soll,
595
der Kanzleidirektor vor allem, dieser große Herr, der deine Sache in ihrem
596
jetzigen Stadium geradezu beherrscht. Wir wollen beraten, wie dir zu helfen
597
wäre, ich muß den Advokaten vorsichtig behandeln, dieser wieder den
598
Kanzleidirektor, und du hättest doch allen Grund, mich wenigstens zu
599
unterstützen. Statt dessen bleibst du fort. Schließlich läßt es sich nicht
600
verheimlichen, nun, es sind höfliche, gewandte Männer, sie sprechen nicht
601
davon, sie schonen mich, schließlich können aber auch sie sich nicht mehr
602
überwinden, und da sie von der Sache nicht reden können, verstummen
603
sie. Wir sind minutenlang schweigend dagesessen und haben gehorcht, ob
604
du nicht doch endlich kämest. Alles vergebens. Endlich steht der
605
Kanzleidirektor, der viel länger geblieben ist, als er ursprünglich wollte, auf,
606
verabschiedet sich, bedauert mich sichtlich, ohne mir helfen zu können,
607
wartet in unbegreiflicher Liebenswürdigkeit noch eine Zeitlang in der Tür,
608
dann geht er. Ich war natürlich glücklich, daß er weg war, mir war schon die
609
Luft zum Atmen ausgegangen. Auf den kranken Advokaten hat alles noch
610
stärker eingewirkt, er konnte, der gute Mann, gar nicht sprechen, als ich
611
mich von ihm verabschiedete. Du hast wahrscheinlich zu seinem
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vollständigen Zusammenbrechen beigetragen und beschleunigst so den
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Tod eines Mannes, auf den du angewiesen bist. Und mich, deinen Onkel,
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läßt du hier im Regen – fühle nur, ich bin ganz durchnäßt – stundenlang
615
warten und mich in Sorgen abquälen.«