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Inhaltsverzeichnis

4. Kapitel

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Vetter Dagobert war am Bahnhof, als die Damen ihre Rückreise nach
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Hohen-Cremmen antraten. Es waren glückliche Tage gewesen, vor allem
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auch darin, daß man nicht unter unbequemer und beinahe
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unstandesgemäßer Verwandtschaft gelitten hatte. »Für Tante Therese«, so
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hatte Effi gleich nach der Ankunft gesagt, »müssen wir diesmal inkognito
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bleiben. Es geht nicht, daß sie hier ins Hotel kommt. Entweder Hotel du
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Nord oder Tante Therese; beides zusammen paßt nicht.« Die Mama hatte
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sich schließlich einverstanden damit erklärt, ja, dem Liebling zur
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Besiegelung des Einverständnisses einen Kuß auf die Stirn gegeben.
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Mit Vetter Dagobert war das natürlich etwas ganz anderes gewesen, der
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hatte nicht bloß den Gardepli, der hatte vor allem auch mit Hilfe jener
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eigentümlich guten Laune, wie sie bei den Alexanderoffizieren beinahe
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traditionell geworden, sowohl Mutter wie Tochter von Anfang an anzuregen
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und aufzuheitern gewußt, und diese gute Stimmung dauerte bis zuletzt.
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»Dagobert«, so hieß es noch beim Abschied, »du kommst also zu meinem
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Polterabend, und natürlich mit Cortège. Denn nach den Aufführungen (aber
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kommt mir nicht mit Dienstmann oder Mausefallenhändler) ist Ball. Und du
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mußt bedenken, mein erster großer Ball ist vielleicht auch mein letzter.
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Unter sechs Kameraden – natürlich beste Tänzer – wird gar nicht
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angenommen. Und mit dem Frühzug könnt ihr wieder zurück.« Der Vetter
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versprach alles, und so trennte man sich.
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Gegen Mittag trafen beide Damen an ihrer havelländischen Bahnstation
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ein, mitten im Luch, und fuhren in einer halben Stunde nach
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Hohen-Cremmen hinüber. Briest war sehr froh, Frau und Tochter wieder zu
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Hause zu haben, und stellte Fragen über Fragen, deren Beantwortung er
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meist nicht abwartete. Statt dessen erging er sich in Mitteilung dessen, was
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er inzwischen erlebt. »Ihr habt mir da vorhin von der Nationalgalerie
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gesprochen und von der 'Insel der Seligen' – nun, wir haben hier, während
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ihr fort wart, auch so was gehabt: unser Inspektor Pink und die
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Gärtnersfrau. Natürlich habe ich Pink entlassen müssen, übrigens ungern.
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Es ist sehr fatal, daß solche Geschichten fast immer in die Erntezeit fallen.
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Und Pink war sonst ein ungewöhnlich tüchtiger Mann, hier leider am
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unrechten Fleck. Aber lassen wir das; Wilke wird schon unruhig.«
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Bei Tische hörte Briest besser zu; das gute Einvernehmen mit dem Vetter,
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von dem ihm viel erzählt wurde, hatte seinen Beifall, weniger das Verhalten
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gegen Tante Therese. Man sah aber deutlich, daß er inmitten seiner
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Mißbilligung sich eigentlich darüber freute; denn ein kleiner Schabernack
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entsprach ganz seinem Geschmack, und Tante Therese war wirklich eine
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lächerliche Figur. Er hob sein Glas und stieß mit Frau und Tochter an. Auch
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als nach Tisch einzelne der hübschesten Einkäufe von ihm ausgepackt und
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seiner Beurteilung unterbreitet wurden, verriet er viel Interesse, das selbst
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noch anhielt oder wenigstens nicht ganz hinstarb, als er die Rechnung
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überflog. »Etwas teuer, oder sagen wir lieber sehr teuer; indessen es tut
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nichts. Es hat alles so viel Schick, ich möchte sagen so viel Animierendes,
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daß ich deutlich fühle, wenn du mir solchen Koffer und solche Reisedecke
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zu Weihnachten schenkst, so sind wir zu Ostern auch in Rom und machen
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nach achtzehn Jahren unsere Hochzeitsreise. Was meinst du, Luise?
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Wollen wir nachexerzieren? Spät kommt ihr, doch ihr kommt.«
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Frau von Briest machte eine Handbewegung, wie wenn sie sagen wollte:
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»Unverbesserlich«, und überließ ihn im übrigen seiner eigenen
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Beschämung, die aber nicht groß war.
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Ende August war da, der Hochzeitstag (3. Oktober) rückte näher, und
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sowohl im Herrenhause wie in der Pfarre und Schule war man unausgesetzt
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bei den Vorbereitungen zum Polterabend. Jahnke, getreu seiner
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Fritz-Reuter-Passion, hatte sich's als etwas besonders »Sinniges«
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ausgedacht, Bertha und Hertha als Lining und Mining auftreten zu lassen,
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natürlich plattdeutsch, während Hulda das Käthchen von Heilbronn in der
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Holunderbaumszene darstellen sollte, Leutnant Engelbrecht von den
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Husaren als Wetter vom Strahl. Niemeyer, der sich den Vater der Idee
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nennen durfte, hatte keinen Augenblick gesäumt, auch die versäumte
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Nutzanwendung auf Innstetten und Effi hinzuzudichten. Er selbst war mit
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seiner Arbeit zufrieden und hörte, gleich nach der Leseprobe, von allen
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Beteiligten viel Freundliches darüber, freilich mit Ausnahme seines
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Patronatsherrn und alten Freundes Briest, der, als er die Mischung von
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Kleist und Niemeyer mit angehört hatte, lebhaft protestierte, wenn auch
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keineswegs aus literarischen Gründen. »Hoher Herr und immer wieder
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Hoher Herr – was soll das? Das leitet in die Irre, das verschiebt alles.
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Innstetten, unbestritten, ist ein famoses Menschenexemplar, Mann von
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Charakter und Schneid, aber die Briests – verzeih den Berolinismus, Luise-,
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die Briests sind schließlich auch nicht von schlechten Eltern. Wir sind doch
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nun mal eine historische Familie, laß mich hinzufügen Gott sei Dank, und
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die Innstettens sind es nicht; die Innstettens sind bloß alt, meinetwegen
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Uradel, aber was heißt Uradel? Ich will nicht, daß eine Briest oder doch
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mindestens eine Polterabendfigur, in der jeder das Widerspiel unserer Effi
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erkennen muß – ich will nicht, daß eine Briest mittelbar oder unmittelbar in
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einem fort von 'Hoher Herr' spricht. Da müßte denn doch Innstetten
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wenigstens ein verkappter Hohenzoller sein, es gibt ja dergleichen. Das ist
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er aber nicht, und so kann ich nur wiederholen, es verschiebt die
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Situation.«
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Und wirklich, Briest hielt mit besonderer Zähigkeit eine ganze Zeitlang an
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dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten Probe, wo das »Käthchen«,
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schon halb im Kostüm, ein sehr eng anliegendes Sammetmieder trug, ließ
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er sich – der es auch sonst nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ –
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zu der Bemerkung hinreißen, das Käthchen liege sehr gut da, welche
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Wendung einer Waffenstreckung ziemlich gleichkam oder doch zu solcher
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hinüberleitete. Daß alle diese Dinge vor Effi geheimgehalten wurden,
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braucht nicht erst gesagt zu werden. Bei mehr Neugier auf seiten dieser
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letzteren wäre das nun freilich ganz unmöglich gewesen, aber Effi hatte so
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wenig Verlangen, in die Vorbereitungen und geplanten Überraschungen
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einzudringen, daß sie der Mama mit allem Nachdruck erklärte, sie könne es
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abwarten, und Wenn diese dann zweifelte, so schloß Effi mit der
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wiederholten Versicherung: Es wäre wirklich so, die Mama könne es
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glauben. Und warum auch nicht? Es sei ja doch alles nur
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Theateraufführung und hübscher und poetischer als »Aschenbrödel«, das
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sie noch am letzten Abend in Berlin gesehen hätte, hübscher und
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poetischer könne es ja doch nicht Sein. Da hätte sie wirklich selber
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mitspielen mögen, wenn auch nur, um dem lächerlichen Pensionslehrer
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einen Kreidestrich auf den Rücken zu machen. »Und wie reizend im letzten
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Akt 'Aschenbrödels Erwachen als Prinzessin' oder wenigstens als Gräfin;
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wirklich, es war ganz wie ein Märchen.« In dieser Weise sprach sie oft, war
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meist ausgelassener als vordem und ärgerte sich bloß über das beständige
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Tuscheln und Geheimtun der Freundinnen. »Ich wollte, sie hätten sich
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weniger wichtig und wären mehr für mich da. Nachher bleiben sie doch
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bloß stecken, und ich muß mich um sie ängstigen und mich schämen, daß
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es meine Freundinnen sind.« So gingen Effis Spottreden, und es war ganz
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unverkennbar, daß sie sich um Polterabend und Hochzeit nicht allzusehr
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kümmerte. Frau von Briest hatte so ihre Gedanken darüber, aber zu Sorgen
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kam es nicht, weil sich Effi, was doch ein gutes Zeichen war, ziemlich viel
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mit ihrer Zukunft beschäftigte und sich, phantasiereich wie sie war,
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viertelstundenlang in Schilderungen ihres Kessiner Lebens erging,
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Schilderungen, in denen sich nebenher und sehr zur Erheiterung der Mama
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eine merkwürdige Vorstellung von Hinterpommern aussprach oder
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vielleicht auch, mit kluger Berechnung, aussprechen sollte. Sie gefiel sich
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nämlich darin, Kessin als einen halbsibirischen Ort aufzufassen, wo Eis
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und Schnee nie recht aufhörten.
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»Heute hat Goschenhofer das letzte geschickt«, sagte Frau von Briest, als
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sie wie gewöhnlich in Front des Seitenflügels mit Effi am Arbeitstisch saß,
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auf dem die Leinen- und Wäschevorräte beständig wuchsen, während der
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Zeitungen, die bloß Platz wegnahmen, immer weniger wurden. »Ich hoffe,
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du hast nun alles, Effi. Wenn du aber noch kleine Wünsche hegst, so mußt
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du sie jetzt aussprechen, womöglich in dieser Stunde noch. Papa hat den
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Raps vorteilhaft verkauft und ist ungewöhnlich guter Laune.«
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»Ungewöhnlich? Er ist immer in guter Laune.«
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»In ungewöhnlich guter Laune«, wiederholte die Mama. »Und sie muß
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genutzt werden. Sprich also. Mehrmals, als wir noch in Berlin waren, war es
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mir, als ob du doch nach dem einen oder anderen noch ein ganz
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besonderes Verlangen gehabt hättest.«
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»Ja, liebe Mama, was soll ich da sagen. Eigentlich habe ich ja alles, was
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man braucht, ich meine, was man hier braucht. Aber da mir's nun mal
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bestimmt ist, so hoch nördlich zu kommen ... ich bemerke, daß ich nichts
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dagegen habe, im Gegenteil, ich freue mich darauf, auf die Nordlichter und
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auf den helleren Glanz der Sterne ... da mir's nun mal so bestimmt ist, so
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hätte ich wohl gern einen Pelz gehabt.«
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»Aber Effi, Kind, das ist doch alles bloß leere Torheit. Du kommst ja nicht
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nach Petersburg oder nach Archangel.«
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»Nein; aber ich bin doch auf dem Wege dahin...«
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»Gewiß, Kind. Auf dem Wege dahin bist du; aber was heißt das? Wenn du
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von hier nach Nauen fährst, bist du auch auf dem Wege nach Rußland. Im
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übrigen, wenn du's wünschst, so sollst du einen Pelz haben. Nur das laß
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mich im voraus sagen, ich rate dir davon ab. Ein Pelz ist für ältere
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Personen, selbst deine alte Mama ist noch zu jung dafür, und wenn du mit
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deinen siebzehn Jahren in Nerz oder Marder auftrittst, so glauben die
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Kessiner, es sei eine Maskerade.«
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Das war am 2. September, daß sie so sprachen, ein Gespräch, das sich
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wohl fortgesetzt hätte, wenn nicht gerade Sedantag gewesen wäre. So aber
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wurden sie durch Trommel- und Pfeifenklang unterbrochen, und Effi, die
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schon vorher von dem beabsichtigten Aufzuge gehört, aber es wieder
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vergessen hatte, stürzte mit einem Male von dem gemeinschaftlichen
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Arbeitstisch fort und an Rondell und Teich vorüber auf einen kleinen, an die
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Kirchhofsmauer angebauten Balkon zu, zu dem sechs Stufen, nicht viel
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breiter als Leitersprossen, hinaufführten. Im Nu war sie oben, und richtig,
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da kam auch schon die ganze Schuljugend heran, Jahnke gravitätisch am
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rechten Flügel, während ein kleiner Tambourmajor, weit voran, an der
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Spitze des Zuges marschierte, mit einem Gesichtsausdruck, als ob ihm
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obläge, die Schlacht bei Sedan noch einmal zu schlagen. Effi winkte mit
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dem Taschentuch, und der Begrüßte versäumte nicht, mit seinem blanken
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Kugelstock zu salutieren.
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Eine Woche später saßen Mutter und Tochter wieder am alten Fleck, auch
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wieder mit ihrer Arbeit beschäftigt. Es war ein wunderschöner Tag; der in
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einem zierlichen Beet um die Sonnenuhr herum stehende Heliotrop blühte
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noch, und die leise Brise, die ging, trug den Duft davon zu ihnen herüber.
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»Ach, wie wohl ich mich fühle«, sagte Effi, »so wohl und so glücklich; ich
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kann mir den Himmel nicht schöner denken. Und am Ende, wer weiß, ob sie
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im Himmel so wundervollen Heliotrop haben.«
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»Aber Effi, so darfst du nicht sprechen; das hast du von deinem Vater,
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dem nichts heilig ist und der neulich sogar sagte, Niemeyer sähe aus wie
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Lot. Unerhört. Und was soll es nur heißen? Erstlich weiß er nicht, wie Lot
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ausgesehen hat, und zweitens ist es eine grenzenlose Rücksichtslosigkeit
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gegen Hulda. Ein Glück, daß Niemeyer nur die einzige Tochter hat, dadurch
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fällt es eigentlich in sich zusammen. In einem freilich hat er nur zu recht
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gehabt, in all und jedem, was er über 'Lots Frau', unsere gute Frau Pastorin,
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sagte, die uns denn auch wirklich wieder mit ihrer Torheit und Anmaßung
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den ganzen Sedantag ruinierte. Wobei mir übrigens einfällt, daß wir, als
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Jahnke mit der Schule vorbeikam, in unserem Gespräch unterbrochen
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wurden – wenigstens kann ich mir nicht denken, daß der Pelz, von dem du
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damals sprachst, dein einziger Wunsch gewesen sein sollte. Laß mich also
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wissen, Schatz, was du noch weiter auf dem Herzen hast.«
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Nichts, Mama. «
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»Wirklich nichts?«
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»Nein, wirklich nichts; ganz im Ernst ... Wenn es aber doch am Ende was
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sein sollte ...«
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»Nun ...«
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»... so müßte es ein japanischer Bettschirm sein, schwarz und goldene
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Vögel darauf, alle mit einem langen Kranichschnabel ... Und dann vielleicht
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noch eine Ampel für unser Schlafzimmer, mit rotem Schein.«
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Frau von Briest schwieg.
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»Nun siehst du, Mama, du schweigst und siehst aus, als ob ich etwas
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besonders Unpassendes gesagt hätte.«
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»Nein, Effi, nichts Unpassendes. Und vor deiner Mutter nun schon gewiß
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nicht. Denn ich kenne dich ja. Du bist eine phantastische kleine Person,
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malst dir mit Vorliebe Zukunftsbilder aus, und je farbenreicher sie sind,
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desto schöner und begehrlicher erscheinen sie dir. Ich sah das so recht, als
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wir die Reisesachen kauften. Und nun denkst du dir's ganz wundervoll,
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einen Bettschirm mit allerhand fabelhaftem Getier zu haben, alles im
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Halblicht einer roten Ampel. Es kommt dir vor wie ein Märchen, und du
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möchtest eine Prinzessin sein.«
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Effi nahm die Hand der Mama und küßte sie. »Ja, Mama, so bin ich.«
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»Ja, so bist du. Ich weiß es wohl. Aber meine liebe Effi, wir müssen
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vorsichtig im Leben sein, und zumal wir Frauen. Und wenn du nun nach
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Kessin kommst, einem kleinen Ort, wo nachts kaum eine Laterne brennt, so
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lacht man über dergleichen. Und wenn man bloß lachte. Die, die dir
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ungewogen sind, und solche gibt es immer, sprechen von schlechter
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Erziehung, und manche sagen auch wohl noch Schlimmeres.«
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»Also nichts Japanisches und auch keine Ampel. Aber ich bekenne dir,
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ich hatte es mir so schön und poetisch gedacht, alles in einem roten
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Schimmer zu sehen.«
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Frau von Briest war bewegt. Sie stand auf und küßte Effi. »Du bist ein
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Kind. Schön und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist
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anders, und oft ist es gut, daß es statt Licht und Schimmer ein Dunkel
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gibt.«
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Effi schien antworten zu wollen, aber in diesem Augenblick kam Wilke
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und brachte Briefe. Der eine war aus Kessin von Innstetten. »Ach, von
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Geert«, sagte Effi, und während sie den Brief beiseite steckte, fuhr sie in
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ruhigem Ton fort:
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»Aber das wirst du doch gestatten, daß ich den Flügel schräg in die Stube
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stelle. Daran liegt mir mehr als an einem Kamin, den mir Geert versprochen
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hat. Und das Bild von dir, das stell ich dann auf eine Staffelei; ganz ohne
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dich kann ich nicht sein. Ach, wie werd ich mich nach euch sehnen,
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vielleicht auf der Reise schon und dann in Kessin ganz gewiß. Es soll ja
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keine Garnison haben, nicht einmal einen Stabsarzt, und ein Glück, daß es
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wenigstens ein Badeort ist. Vetter Briest, und daran will ich mich
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aufrichten, dessen Mutter und Schwester immer nach Warnemünde gehen
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– nun, ich sehe doch wirklich nicht ein, warum der die lieben Verwandten
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nicht auch einmal nach Kessin hin dirigieren sollte. Dirigieren, das klingt
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ohnehin so nach Generalstab, worauf er, glaub ich, ambiert. Und dann
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kommt er natürlich mit und wohnt bei uns. Übrigens haben die Kessiner,
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wie mir neulich erst wer erzählt hat, ein ziemlich großes Dampfschiff, das
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zweimal die Woche nach Schweden hinüberfährt. Und auf dem Schiff ist
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dann Ball (sie haben da natürlich auch Musik), und er tanzt sehr gut ...«
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»Wer?«
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»Nun, Dagobert.«
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»Ich dachte, du meintest Innstetten. Aber jedenfalls ist es an der Zeit,
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endlich zu wissen, was er schreibt ... Du hast ja den Brief noch in der
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Tasche.«
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»Richtig. Den hätt ich fast vergessen.« Und sie öffnete den Brief und
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überflog ihn.
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»Nun, Effi, kein Wort? Du strahlst nicht und lachst nicht einmal, und er
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schreibt doch immer so heiter und unterhaltlich und gar nicht väterlich
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weise.«
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»Das würde ich mir auch verbitten. Er hat sein Alter, und ich habe meine
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Jugend. Und ich würde ihm mit den Fingern drohen und ihm sagen: 'Geert,
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überlege, was besser ist.'«
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Und dann würde er dir antworten: 'Was du hast, Effi, das ist das Bessere.'
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Denn er ist nicht nur ein Mann der feinsten Formen, er ist auch gerecht und
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verständig und weiß recht gut, was Jugend bedeutet. Er sagt sich das
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immer und stimmt sich auf das Jugendliche hin, und wenn er in der Ehe so
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bleibt, so werdet ihr eine Musterehe führen.«
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»Ja, das glaube ich auch, Mama. Aber kannst du dir vorstellen, und ich
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schäme mich fast, es zu sagen, ich bin nicht so sehr für das, was man eine
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Musterehe nennt.«
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»Das sieht dir ähnlich. Und nun sage mir, wofür bist du denn eigentlich?«
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»Ich bin... nun, ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für
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Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein
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können, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein Papperlapapp ist (was ich
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aber nicht glaube), nun, dann bin ich für Reichtum und ein vornehmes
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Haus, ein ganz vornehmes, wo Prinz Friedrich Karl zur Jagd kommt, auf
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Elchwild oder Auerhahn, oder wo der alte Kaiser vorfährt und für jede
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Dame, auch für die jungen, ein gnädiges Wort hat. Und wenn wir dann in
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Berlin sind, dann bin ich für Hofball und Galaoper, immer dicht neben der
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großen Mittelloge.«
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»Sagst du das so bloß aus Übermut und Laune?«
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»Nein, Mama, das ist mein völliger Ernst. Liebe kommt zuerst, aber gleich
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hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung – ja,
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Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder weinen
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muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.«
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»Wie bist du da nur mit uns fertig geworden?«
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»Ach, Mama, wie du nur so was sagen kannst. Freilich, wenn im Winter
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die liebe Verwandtschaft vorgefahren kommt und sechs Stunden bleibt
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oder wohl auch noch länger, und Tante Gundel und Tante Olga mich
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mustern und mich naseweis finden – und Tante Gundel hat es mir auch mal
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gesagt –, ja, da macht sich's mitunter nicht sehr hübsch, das muß ich
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zugeben. Aber sonst bin ich hier immer glücklich gewesen, so glücklich. .
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Und während sie das sagte, warf sie sich heftig weinend vor der Mama
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auf die Knie und küßte ihre beiden Hände.
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»Steh auf, Effi. Das sind so Stimmungen, die über einen kommen, wenn
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man so jung ist wie du und vor der Hochzeit steht und vor dem
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Ungewissen. Aber nun lies mir den Brief vor, wenn er nicht was ganz
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Besonderes enthält oder vielleicht Geheimnisse.«
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»Geheimnisse«, lachte Effi und sprang in plötzlich veränderter Stimmung
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wieder auf. »Geheimnisse! Ja, er nimmt immer einen Anlauf, aber das
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meiste könnte ich auf dem Schulzenamt anschlagen lassen, da, wo immer
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die landrätlichen Verordnungen stehen. Nun, Geert ist ja auch Landrat.«
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»Lies, lies.«
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»Liebe Effi! ... So fängt es nämlich immer an, und manchmal nennt er
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mich auch seine 'kleine Eva'.«
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»Lies, lies ... Du sollst ja lesen.«
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»Also: Liebe Effi! Je näher wir unsrem Hochzeitstage kommen, je
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sparsamer werden Deine Briefe. Wenn die Post kommt, suche ich immer
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zuerst nach Deiner Handschrift, aber wie Du weißt (und ich hab es ja auch
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nicht anders gewollt), in der Regel vergeblich. Im Hause sind jetzt die
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Handwerker, die die Zimmer, freilich nur wenige, für Dein Kommen
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herrichten sollen. Das Beste wird wohl erst geschehen, wenn wir auf der
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Reise sind. Tapezierer Madelung, der alles liefert, ist ein Original, von dem
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ich Dir mit nächstem erzähle, vor allem aber, wie glücklich ich bin über
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Dich, über meine süße kleine Effi. Mir brennt hier der Boden unter den
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Füßen, und dabei wird es in unserer guten Stadt immer stiller und
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einsamer. Der letzte Badegast ist gestern abgereist; er badete zuletzt bei
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neun Grad, und die Badewärter waren immer froh, wenn er wieder heil
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heraus war. Denn sie fürchteten einen Schlaganfall, was dann das Bad in
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Mißkredit bringt, als ob die Wellen hier schlimmer wären als woanders. Ich
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juble, wenn ich denke, daß ich in vier Wochen schon mit Dir von der
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Piazzetta aus nach dem Lido fahre oder nach Murano hin, wo sie
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Glasperlen machen und schönen Schmuck. Und der schönste sei für Dich.
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Viele Grüße den Eltern und den zärtlichsten Kuß Dir von Deinem Geert.«
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Effi faltete den Brief wieder zusammen, um ihn in das Kuvert zu stecken.
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»Das ist ein sehr hübscher Brief«, sagte Frau von Briest, »und daß er in
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allem das richtige Maß hält, das ist ein Vorzug mehr.«
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»Ja, das rechte Maß, das hält er.«
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»Meine liebe Effi, laß mich eine Frage tun; wünschtest du, daß der Brief
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nicht das richtige Maß hielte, wünschtest du, daß er zärtlicher wäre,
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vielleicht überschwenglich zärtlich?«
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Nein, nein, Mama. Wahr und wahrhaftig nicht, das wünsche ich nicht. Da
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ist es doch besser so.«
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»Da ist es doch besser so. Wie das nun wieder klingt. Du bist so
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sonderbar. Und daß du vorhin weintest. Hast du was auf deinem Herzen?
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Noch ist es Zeit. Liebst du Geert nicht?«
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Warum soll ich ihn nicht lieben? Ich liebe Hulda, und ich liebe Bertha, und
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ich liebe Hertha. Und ich liebe auch den alten Niemeyer. Und daß ich euch
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liebe, davon spreche ich gar nicht erst. Ich liebe alle, die's gut mit mir
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meinen und gütig gegen mich sind und mich verwöhnen. Und Geert wird
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mich auch wohl verwöhnen. Natürlich auf seine Art. Er will mir ja schon
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Schmuck schenken in Venedig. Er hat keine Ahnung davon, daß ich mir
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nichts aus Schmuck mache. Ich klettere lieber, und ich schaukle mich
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lieber, und am liebsten immer in der Furcht, daß es irgendwo reißen oder
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brechen und ich niederstürzen könnte. Den Kopf wird es ja nicht gleich
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kosten. «
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»Und liebst du vielleicht auch deinen Vetter Briest?«
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Ja, sehr. Der erheitert mich immer.«
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»Und hättest du Vetter Briest heiraten mögen?«
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»Heiraten? Um Gottes willen nicht. Er ist ja noch ein halber Junge. Geert
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ist ein Mann, ein schöner Mann, ein Mann, mit dem ich Staat machen kann
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und aus dem was wird in der Welt. Wo denkst du hin, Mama.«
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»Nun, das ist recht, Effi, das freut mich. Aber du hast noch was auf der
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Seele.«
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»Vielleicht.«
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»Nun, sprich.«
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»Sieh, Mama, daß er älter ist als ich, das schadet nichts, das ist vielleicht
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recht gut: Er ist ja doch nicht alt und ist gesund und frisch und so
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soldatisch und so schneidig. Und ich könnte beinah sagen, ich wäre ganz
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und gar für ihn, wenn er nur ... ja, wenn er nur ein bißchen anders wäre.«
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»Wie denn, Effi?«
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»Ja, wie. Nun, du darfst mich nicht auslachen. Es ist etwas, was ich erst
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ganz vor kurzem aufgehorcht habe, drüben im Pastorhause. Wir sprachen
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da von Innstetten, und mit einem Male zog der alte Niemeyer seine Stirn in
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Falten, aber in Respekts- und Bewunderungsfalten, und sagte: 'Ja, der
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Baron! Das ist ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien.'«
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»Das ist er auch, Effi.«
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»Gewiß. Und ich glaube, Niemeyer sagte nachher sogar, er sei auch ein
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Mann von Grundsätzen. Und das ist, glaub ich, noch etwas mehr. Ach, und
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ich... ich habe keine. Sieh, Mama, da liegt etwas, was mich quält und
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ängstigt. Er ist so lieb und gut gegen mich und so nachsichtig, aber. .. ich
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fürchte mich vor ihm.«

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