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Inhaltsverzeichnis

15. Kapitel

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Mitte August war Effi abgereist, Ende September war sie wieder in Kessin.
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Manchmal in den zwischenliegenden sechs Wochen hatte sie's
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zurückverlangt; als sie aber wieder da war und in den dunklen Flur eintrat,
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auf den nur von der Treppenstiege her ein etwas fahles Licht fiel, wurde ihr
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mit einemmal wieder bang, und sie sagte leise: »Solch fahles, gelbes Licht
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gibt es in Hohen-Cremmen gar nicht.«
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Ja, ein paarmal während ihrer Hohen-Cremmer Tage hatte sie Sehnsucht
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nach dem »verwunschenen Hause« gehabt, alles in allem aber war ihr doch
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das Leben daheim voller Glück und Zufriedenheit gewesen. Mit Hulda
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freilich, die's nicht verwinden konnte, noch immer auf Mann oder Bräutigam
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warten zu müssen, hatte sie sich nicht recht stellen können, desto besser
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dagegen mit den Zwillingen, und mehr als einmal, wenn sie mit ihnen Ball
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oder Krocket gespielt hatte, war ihr's ganz aus dem Sinn gekommen,
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überhaupt verheiratet zu sein. Das waren dann glückliche Viertelstunden
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gewesen. Am liebsten aber hatte sie wie früher auf dem durch die Luft
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fliegenden Schaukelbrett gestanden und in dem Gefühl »jetzt stürz ich«
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etwas eigentümlich Prickelndes, einen Schauer süßer Gefahr empfunden.
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Sprang sie dann schließlich von der Schaukel ab, so begleitete sie die
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beiden Mädchen bis an die Bank vor dem Schulhause und erzählte, wenn
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sie dasaßen, dem alsbald hinzukommenden Jahnke von ihrem Leben in
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Kessin, das halb hanseatisch und halb skandinavisch und jedenfalls sehr
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anders als in Schwantikow und Hohen-Cremmen sei.
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Das waren so die täglichen kleinen Zerstreuungen, an die sich
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gelegentlich auch Fahrten in das sommerliche Luch schlossen, meist im
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Jagdwagen; allem voran aber standen für Effi doch die Plaudereien, die sie
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beinahe jeden Morgen mit der Mama hatte. Sie saßen dann oben in der
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luftigen großen Stube, Roswitha wiegte das Kind und sang in einem
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thüringischen Platt allerlei Wiegenlieder, die niemand recht verstand,
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vielleicht sie selber nicht; Effi und Frau von Briest aber rückten ans offene
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Fenster und sahen, während sie sprachen, auf den Park hinunter, auf die
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Sonnenuhr oder auf die Libellen, die beinahe regungslos über dem Tisch
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standen, oder auch auf den Fliesengang, wo Herr von Briest neben dem
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Treppenvorbau saß und die Zeitungen las. Immer wenn er umschlug, nahm
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er zuvor den Kneifer ab und grüßte zu Frau und Tochter hinauf. Kam dann
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das letzte Blatt an die Reihe, das in der Regel der »Anzeiger fürs
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Havelland« war, so ging Effi hinunter, um sich entweder zu ihm zu setzen
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oder um mit ihm durch Garten und Park zu schlendern. Einmal bei solcher
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Gelegenheit traten sie, von dem Kiesweg her, an ein kleines, zur Seite
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stehendes Denkmal heran, das schon Briests Großvater zur Erinnerung an
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die Schlacht von Waterloo hatte aufrichten lassen, eine verrostete
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Pyramide mit einem gegossenen Blücher in Front und einem dito
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Wellington auf der Rückseite.
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»Hast du nun solche Spaziergänge auch in Kessin«, sagte Briest, »und
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begleitet dich Innstetten auch und erzählt dir allerlei ?«
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»Nein, Papa, solche Spaziergänge habe ich nicht. Das ist ausgeschlossen
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denn wir haben bloß einen kleinen Garten hinter dem Haus, der eigentlich
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kaum ein Garten ist, bloß ein paar Buchsbaumrabatten und Gemüsebeete
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mit drei, vier Obstbäumen drin. Innstetten hat keinen Sinn dafür und denkt
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wohl auch nicht sehr lange mehr in Kessin zu bleiben.«
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»Aber Kind, du mußt doch Bewegung haben und frische Luft, daran bist
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du doch gewöhnt.«
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»Hab ich auch. Unser Haus liegt an einem Wäldchen, das sie die Plantage
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nennen. Und da geh ich denn viel spazieren und Rollo mit mir.«
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»Immer Rollo«, lachte Briest. »Wenn man's nicht anders wüßte, so sollte
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man beinah glauben, Rollo sei dir mehr ans Herz gewachsen als Mann und
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Kind.«
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»Ach, Papa, das wäre ja schrecklich, wenn's auch freilich – soviel muß ich
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zugeben – eine Zeit gegeben hat, wo's ohne Rollo gar nicht gegangen wäre.
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Das war damals ... nun, du weißt schon ... Da hat er mich so gut wie
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gerettet, oder ich habe mir's wenigstens eingebildet, und seitdem ist er
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mein guter Freund und mein ganz besonderer Verlaß. Aber er ist doch bloß
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ein Hund. Und erst kommen doch natürlich die Menschen.«
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»Ja, das sagt man immer, aber ich habe da doch so meine Zweifel. Das
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mit der Kreatur, damit hat's doch seine eigene Bewandtnis, und was da das
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Richtige ist, darüber sind die Akten noch nicht geschlossen. Glaube mir,
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Effi, das ist auch ein weites Feld. Wenn ich mir so denke, da verunglückt
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einer auf dem Wasser oder gar auf dem schülbrigen Eis, und solch ein
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Hund, sagen wir, so einer wie dein Rollo, ist dabei, ja, der ruht nicht eher,
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als bis er den Verunglückten wieder an Land hat. Und wenn der
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Verunglückte schon tot ist, dann legt er sich neben den Toten hin und blafft
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und winselt so lange, bis wer kommt, und wenn keiner kommt, dann bleibt
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er bei dem Toten liegen, bis er selber tot ist. Und das tut solch Tier immer.
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Und nun nimm dagegen die Menschheit! Gott, vergib mir die Sünde, aber
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mitunter ist mir's doch, als ob die Kreatur besser wäre als der Mensch.«
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»Aber, Papa, wenn ich das Innstetten wiedererzählte ...«
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»Nein, das tu lieber nicht, Effi ...«
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»Rollo würde mich ja natürlich retten, aber Innstetten würde mich auch
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retten. Er ist ja ein Mann von Ehre.«
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»Das ist er.«
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»Und liebt mich.«
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»Versteht sich, versteht sich. Und wo Liebe ist, da ist auch Gegenliebe.
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Das ist nun mal so. Mich wundert nur, daß er nicht mal Urlaub genommen
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hat und rübergeflitzt ist. Wenn man eine so junge Frau hat ...«
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Effi errötete, weil sie geradeso dachte. Sie mochte es aber nicht
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einräumen. »Innstetten ist so gewissenhaft und will, glaub ich, gut
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angeschrieben sein und hat so seine Pläne für die Zukunft; Kessin ist doch
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bloß eine Station. Und dann am Ende, ich lauf ihm ja nicht fort. Er hat mich
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ja. Wenn man zu zärtlich ist ... und dazu der Unterschied der Jahre ... da
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lächeln die Leute bloß.«
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»Ja, das tun sie, Effi. Aber darauf muß man's ankommen lassen. Übrigens
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sage nichts darüber, auch nicht zu Mama. Es ist so schwer, was man tun
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und lassen soll. Das ist auch ein weites Feld.«
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Gespräche wie diese waren während Effis Besuch im elterlichen Hause
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mehr als einmal geführt worden, hatten aber glücklicherweise nicht lange
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nachgewirkt, und ebenso war auch der etwas melancholische Eindruck
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rasch verflogen, den das erste Wiederbetreten ihres Kessiner Hauses auf
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Effi gemacht hatte. Innstetten zeigte sich voll kleiner Aufmerksamkeiten,
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und als der Tee genommen und alle Stadt- und Liebesgeschichten in
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heiterster Stimmung durchgesprochen waren, hängte sich Effi zärtlich an
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seinen Arm, um drüben ihre Plaudereien mit ihm fortzusetzen und noch
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einige Anekdoten von der Trippelli zu hören, die neuerdings wieder mit
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Gieshübler in einer lebhaften Korrespondenz gestanden hatte, was immer
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gleichbedeutend mit einer neuen Belastung ihres nie ausgeglichenen
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Kontos war. Effi war bei diesem Gespräch sehr ausgelassen, fühlte sich
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ganz als junge Frau und war froh, die nach der Gesindestube hin
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ausquartierte Roswitha auf unbestimmte Zeit los zu sein.
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Am anderen Morgen sagte sie: »Das Wetter ist schön und mild, und ich
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hoffe, die Veranda nach der Plantage hinaus ist noch in gutem Stande, und
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wir können uns ins Freie setzen und da das Frühstück nehmen. In unsere
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Zimmer kommen wir ohnehin noch früh genug, und der Kessiner Winter ist
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wirklich um vier Wochen zu lang.«
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Innstetten war sehr einverstanden. Die Veranda, von der Effi gesprochen
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und die vielleicht richtiger ein Zelt genannt worden wäre, war schon im
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Sommer hergerichtet worden, drei, vier Wochen vor Effis Abreise nach
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Hohen-Cremmen, und bestand aus einem großen, gedielten Podium, vorn
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offen, mit einer mächtigen Markise zu Häupten, während links und rechts
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breite Leinwandvorhänge waren, die sich mit Hilfe von Ringen an einer
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Eisenstange hin und her schieben ließen. Es war ein reizender Platz, den
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ganzen Sommer über von allen Badegästen, die hier vorüber mußten,
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bewundert.
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Effi hatte sich in einen Schaukelstuhl gelehnt und sagte, während sie das
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Kaffeebrett von der Seite her ihrem Manne zuschob: »Geert, du könntest
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heute den liebenswürdigen Wirt machen; ich für mein Teil find es so schön
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in diesem Schaukelstuhl, daß ich nicht aufstehen mag. Also strenge dich
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an, und wenn du dich recht freust, mich wieder hier zu haben, so werd ich
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mich auch zu revanchieren wissen.« Und dabei zupfte sie die weiße
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Damastdecke zurecht und legte ihre Hand darauf, die Innstetten nahm und
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küßte.
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»Wie bist du nur eigentlich ohne mich fertig geworden?«
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»Schlecht genug, Effi.«
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»Das sagst du so hin und machst ein betrübtes Gesicht, und ist doch
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eigentlich alles nicht wahr.«
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»Aber Effi ...
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»Was ich dir beweisen will. Denn wenn du ein bißchen Sehnsucht nach
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deinem Kinde gehabt hättest – von mir selber will ich nicht sprechen, was
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ist man am Ende solchem hohen Herrn, der so lange Jahre Junggeselle war
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und es nicht eilig hatte ...«
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»Nun?«
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»Ja, Geert, wenn du nur ein bißchen Sehnsucht gehabt hättest, so hättest
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du mich nicht sechs Wochen mutterwindallein in Hohen-Cremmen sitzen
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lassen wie eine Witwe, und nichts da als Niemeyer und Jahnke und mal die
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Schwantikower. Und von den Rathenowern ist niemand gekommen, als ob
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sie sich vor mir gefürchtet hätten oder als ob ich zu alt geworden sei.«
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»Ach, Effi, wie du nur sprichst. Weißt du, daß du eine kleine Kokette
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bist?«
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»Gott sei Dank, daß du das sagst. Das ist für euch das Beste, was man
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sein kann. Und du bist nichts anderes als die anderen, wenn du auch so
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feierlich und ehrsam tust. Ich weiß es recht gut, Geert ... Eigentlich bist du
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...«
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»Nun, was?«
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»Nun, ich will es lieber nicht sagen. Aber ich kenne dich recht gut; du bist
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eigentlich, wie der Schwantikower Onkel mal sagte, ein
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Zärtlichkeitsmensch und unterm Liebesstern geboren, und Onkel Belling
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hatte ganz recht, als er das sagte. Du willst es bloß nicht zeigen und
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denkst, es schickt sich nicht und verdirbt einem die Karriere. Hab ich's
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getroffen?«
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Innstetten lachte. »Ein bißchen getroffen hast du's. Weißt du was, Effi, du
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kommst mir ganz anders vor. Bis Anniechen da war, warst du ein Kind.
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Aber mit einemmal ...«
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»Nun?«
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»Mit einemmal bist du wie vertauscht. Aber es steht dir, du gefällst mir
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sehr, Effi. Weißt du was?«
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»Nun?«
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»Du hast was Verführerisches.«
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»Ach, mein einziger Geert, das ist ja herrlich, was du da sagst; nun wird
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mir erst recht wohl ums Herz ... Gib mir noch eine halbe Tasse ... Weißt du
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denn, daß ich mir das immer gewünscht habe? Wir müssen verführerisch
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sein, sonst sind wir gar nichts ...«
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»Hast du das aus dir?«
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»Ich könnt es wohl auch aus mir haben. Aber ich hab es von Niemeyer ...«
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»Von Niemeyer! O du himmlischer Vater, ist das ein Pastor. Nein, solche
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gibt es hier nicht. Aber wie kam denn der dazu? Das ist ja, als ob es
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irgendein Don Juan oder Herzensbrecher gesprochen hätte.«
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»Ja, wer weiß«, lachte Effi ... »Aber kommt da nicht Crampas? Und vom
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Strand her. Er wird doch nicht gebadet haben? Am 27. September ...«
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»Er macht öfter solche Sachen. Reine Renommisterei.«
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Derweilen war Crampas bis in nächste Nähe gekommen und grüßte.
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»Guten Morgen«, rief Innstetten ihm zu. »Nur näher, nur näher. «
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Crampas trat heran. Er war in Zivil und küßte der in ihrem Schaukelstuhl
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sich weiter wiegenden Effi die Hand. »Entschuldigen Sie mich, Major, daß
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ich so schlecht die Honneurs des Hauses mache; aber die Veranda ist kein
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Haus, und zehn Uhr früh ist eigentlich gar keine Zeit. Da wird man formlos
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oder, wenn Sie wollen, intim. Und nun setzen Sie sich, und geben Sie
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Rechenschaft von Ihrem Tun. Denn an Ihrem Haar (ich wünschte Ihnen, daß
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es mehr wäre) sieht man deutlich, daß Sie gebadet haben.«
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Er nickte.
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»Unverantwortlich«, sagte Innstetten, halb ernst-, halb scherzhaft. »Da
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haben Sie nun selber vor vier Wochen die Geschichte mit dem Bankier
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Heinersdorf erlebt, der auch dachte, das Meer und der grandiose
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Wellenschlag würden ihn um seiner Million willen respektieren. Aber die
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Götter sind eifersüchtig untereinander, und Neptun stellte sich ohne
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weiteres gegen Pluto oder doch wenigstens gegen Heinersdorf. «
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Crampas lachte.
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»Ja, eine Million Mark! Lieber Innstetten, wenn ich die hätte, da hätt ich es
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am Ende nicht gewagt; denn so schön das Wetter ist, das Wasser hatte nur
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neun Grad. Aber unsereins mit seiner Million Unterbilanz, gestatten Sie mir
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diese kleine Renommage, unsereins kann sich so was ohne Furcht vor der
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Götter Eifersucht erlauben. Und dann muß einen das Sprichwort trösten:
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Wer für den Strick geboren ist, kann im Wasser nicht umkommen.'«
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»Aber, Major, Sie werden sich doch nicht etwas so Urprosaisches, ich
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möchte beinah sagen, an den Hals reden wollen. Allerdings glauben
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manche, daß ... ich meine das, wovon Sie eben gesprochen haben ... daß
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ihn jeder mehr oder weniger verdiene. Trotzdem, Major ... für einen Major
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...«
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»Ist es keine herkömmliche Todesart. Zugegeben, meine Gnädigste. Nicht
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herkömmlich und in meinem Fall auch nicht einmal sehr wahrscheinlich –
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also alles bloß Zitat oder noch richtiger façon de parler. Und doch steckt
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etwas Aufrichtiggemeintes dahinter, wenn ich da eben sagte, die See werde
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mir nichts anhaben. Es steht mir nämlich fest, daß ich einen richtigen und
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hoffentlich ehrlichen Soldatentod sterben werde. Zunächst bloß
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Zigeunerprophezeiung, aber mit Resonanz im eigenen Gewissen.«
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Innstetten lachte. »Das wird seine Schwierigkeiten haben, Crampas, wenn
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Sie nicht vorhaben, beim Großtürken oder unterm chinesischen Drachen
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Dienst zu nehmen. Da schlägt man sich jetzt herum. Hier ist die Geschichte,
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glauben Sie mir, auf dreißig Jahre vorbei, und wer seinen Soldatentod
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sterben will ...«
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»Der muß sich erst bei Bismarck einen Krieg bestellen. Weiß ich alles,
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Innstetten. Aber das ist doch für Sie eine Kleinigkeit. Jetzt haben wir Ende
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September; in zehn Wochen spätestens ist der Fürst wieder in Varzin, und
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da er ein liking für Sie hat – mit der volkstümlicheren Wendung will ich
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zurückhalten, um nicht direkt vor Ihren Pistolenlauf zu kommen –, so
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werden Sie einem alten Kameraden von Vionville her doch wohl ein bißchen
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Krieg besorgen können. Der Fürst ist auch nur ein Mensch, und Zureden
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hilft.«
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Effi hatte während dieses Gesprächs einige Brotkügelchen gedreht,
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würfelte damit und legte sie zu Figuren zusammen, um so anzuzeigen, daß
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ihr ein Wechsel des Themas wünschenswert wäre. Trotzdem schien
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Innstetten auf Crampas scherzhafte Bemerkungen antworten zu wollen,
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was denn Effi bestimmte, lieber direkt einzugreifen. »Ich sehe nicht ein,
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Major, warum wir uns mit Ihrer Todesart beschäftigen sollen; das Leben ist
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uns näher und zunächst auch eine viel ernstere Sache.«
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Crampas nickte.
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»Das ist recht, daß Sie mir recht geben. Wie soll man hier leben? Das ist
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vorläufig die Frage, das ist wichtiger als alles andere. Gieshübler hat mir
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darüber geschrieben, und wenn es nicht indiskret und eitel wäre, denn es
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steht noch allerlei nebenher darin, so zeigte ich Ihnen den Brief ...
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Innstetten braucht ihn nicht zu lesen, der hat keinen Sinn für dergleichen ...
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beiläufig eine Handschrift wie gestochen und Ausdrucksformen, als wäre
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unser Freund statt am Kessiner Alten Markt an einem altfranzösischen Hofe
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erzogen worden. Und daß er verwachsen ist und weiße Jabots trägt wie
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kein anderer Mensch mehr – ich weiß nur nicht, wo er die Plätterin
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hernimmt –, das paßt alles so vorzüglich. Nun, also Gieshübler hat mir von
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Plänen für die Ressourcenabende geschrieben und von einem
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Entrepreneur namens Crampas. Sehen Sie, Major, das gefällt mir besser als
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der Soldatentod oder gar der andere.«
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»Mir persönlich nicht minder. Und es muß ein Prachtwinter werden, wenn
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wir uns der Unterstützung der gnädigen Frau versichert halten dürften. Die
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Trippelli kommt.«
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»Die Trippelli? Dann bin ich überflüssig.«
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»Mitnichten, gnädigste Frau. Die Trippelli kann nicht von Sonntag bis
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wieder Sonntag singen, es wäre zuviel für sie und für uns; Abwechslung ist
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des Lebens Reiz, eine Wahrheit, die freilich jede glückliche Ehe zu
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widerlegen scheint.«
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»Wenn es glückliche Ehen gibt, die meinige ausgenommen ...«, und sie
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reichte Innstetten die Hand.
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»Abwechslung also«, fuhr Crampas fort. »Und diese für uns und unsere
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Ressource zu gewinnen, deren Vizevorstand zu sein ich zur Zeit die Ehre
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habe, dazu braucht es aller bewährten Kräfte. Wenn wir uns zusammentun,
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so müssen wir das ganze Nest auf den Kopf stellen. Die Theaterstücke sind
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schon ausgesucht: 'Krieg im Frieden', 'Monsieur Herkules', 'Jugendliebe'
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von Wildbrandt, vielleicht auch 'Euphrosyne' von Gensichen. Sie die
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Euphrosyne, ich der alte Goethe. Sie sollen staunen, wie gut ich den
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Dichterfürsten tragiere ... wenn 'tragieren' das richtige Wort ist.«
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»Kein Zweifel. Hab ich doch inzwischen aus dem Brief meines
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alchimistischen Geheimkorrespondenten erfahren, daß Sie neben vielem
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anderen gelegentlich auch Dichter sind. Anfangs habe ich mich gewundert.
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...«
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»Denn Sie haben es mir nicht angesehen.«
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»Nein. Aber seit ich weiß, daß Sie bei neun Grad baden, bin ich anderen
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Sinnes geworden ... neun Grad Ostsee, das geht über den kastalischen
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Quell ...«
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»Dessen Temperatur unbekannt ist.«
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»Nicht für mich; wenigstens wird mich niemand widerlegen. Aber nun
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muß ich aufstehen. Da kommt ja Roswitha mit Lütt-Annie.«
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Und sie erhob sich rasch und ging auf Roswitha zu, nahm ihr das Kind
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aus dem Arm und hielt es stolz und glücklich in die Höhe.

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