8. Kapitel
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Elf war es längst vorüber; aber Gieshübler hatte sich noch immer nicht
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sehen lassen. »Ich kann nicht länger warten «, hatte Geert gesagt, den der
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Dienst abrief. »Wenn Gieshübler noch erscheint, so sei möglichst
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entgegenkommend, dann wird es vorzüglich gehen; er darf nicht verlegen
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werden; ist er befangen, so kann er kein Wort finden oder sagt die
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sonderbarsten Dinge; weißt du ihn aber in Zutrauen und gute Laune zu
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bringen, dann redet er wie ein Buch. Nun, du wirst es schon machen.
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Erwarte mich nicht vor drei; es gibt drüben allerlei zu tun. Und das mit dem
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Saal oben wollen wir noch überlegen; es wird aber wohl am besten sein, wir
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lassen es beim alten.«
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Damit ging Innstetten und ließ seine junge Frau allein. Diese saß, etwas
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zurückgelehnt, in einem lauschigen Winkel am Fenster und stützte sich,
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während sie hinaussah, mit ihrem linken Arm auf ein kleines Seitenbrett,
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das aus dem Zylinderbüro herausgezogen war. Die Straße war die
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Hauptverkehrsstraße nach dem Strand hin, weshalb denn auch in
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Sommerzeit ein reges Leben hier herrschte, jetzt aber, um Mitte November,
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war alles leer und still, und nur ein paar arme Kinder, deren Eltern in
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etlichen ganz am äußersten Rand der »Plantage« gelegenen
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Strohdachhäusern wohnten, klappten in ihren Holzpantinen an dem
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Innstettenschen Hause vorüber. Effi empfand aber nichts von dieser
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Einsamkeit, denn ihre Phantasie war noch immer bei den wunderlichen
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Dingen, die sie, kurz vorher, während ihrer Umschau haltenden Musterung
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im Hause gesehen hatte. Diese Musterung hatte mit der Küche begonnen,
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deren Herd eine moderne Konstruktion aufwies, während an der Decke hin,
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und zwar bis in die Mädchenstube hinein, ein elektrischer Draht lief –
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beides vor kurzem erst hergerichtet. Effi war erfreut gewesen, als ihr
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Innstetten davon erzählt hatte, dann aber waren sie von der Küche wieder
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in den Flur zurück- und von diesem in den Hof hinausgetreten, der in seiner
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ersten Hälfte nicht viel mehr als ein zwischen zwei Seitenflügeln
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hinlaufender ziemlich schmaler Gang war. In diesen Flügeln war alles
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untergebracht, was sonst noch zu Haushalt und Wirtschaftsführung
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gehörte, rechts Mädchenstube, Bedientenstube, Rollkammer, links eine
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zwischen Pferdestall und Wagenremise gelegene, von der Familie Kruse
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bewohnte Kutscherwohnung. Über dieser, in einem Verschlag, waren die
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Hühner einlogiert, und eine Dachklappe über dem Pferdestall bildete den
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Aus- und Einschlupf für die Tauben. All dies hatte sich Effi mit vielem
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Interesse angesehen, aber dies Interesse sah sich doch weit überholt, als
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sie, nach ihrer Rückkehr vom Hof ins Vorderhaus, unter Innstettens
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Führung die nach oben führende Treppe hinaufgestiegen war. Diese war
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schief, baufällig, dunkel; der Flur dagegen, auf den sie mündete, wirkte
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beinah heiter, weil er viel Licht und einen guten landschaftlichen Ausblick
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hatte: nach der einen Seite hin, über die Dächer des Stadtrandes und die
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»Plantage« fort, auf eine hoch auf einer Düne stehende holländische
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Windmühle, nach der anderen Seite hin auf die Kessine, die hier,
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unmittelbar vor ihrer Einmündung, ziemlich breit war und einen stattlichen
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Eindruck machte. Diesem Eindruck konnte man sich unmöglich entziehen,
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und Effi hatte denn auch nicht gesäumt, ihrer Freude lebhaften Ausdruck
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zu geben. »Ja, sehr schön, sehr malerisch«, hatte Innstetten, ,ohne weiter
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darauf einzugehen, geantwortet und dann eine mit ihren Flügeln etwas
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schief hängende Doppeltür geöffnet, die nach rechts hin in den
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sogenannten Saal führte. Dieser lief durch die ganze Etage; Vorder- und
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Hinterfenster standen offen, und die mehr erwähnten langen Gardinen
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bewegten sich in dem starken Luftzug hin und her. In der Mitte der einen
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Längswand sprang ein Kamin vor mit einer großen Steinplatte, während an
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der Wand gegenüber ein paar blecherne Leuchter hingen, jeder mit zwei
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Lichtöffnungen, ganz so wie unten im Flur, aber alles stumpf und
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ungepflegt. Effi war einigermaßen enttäuscht, sprach es auch aus und
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erklärte, statt des öden und ärmlichen Saals doch lieber die Zimmer an der
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gegenübergelegenen Flurseite sehen zu wollen. »Da ist nun eigentlich
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vollends nichts«, hatte Innstetten geantwortet, aber doch die Türen
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geöffnet. Es befanden sich hier vier einfenstrige Zimmer, alle gelb getüncht,
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gerade wie der Saal und ebenfalls ganz leer. Nur in einem standen drei
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Binsenstühle, die durchgesessen waren, und an die Lehne des einen war
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ein kleines, nur einen halber Finger langes Bildchen geklebt, das einen
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Chinesen darstellte, blauer Rock mit gelben Pluderhosen und einen flachen
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Hut auf dem Kopf. Effi sah es und sagte: »Was soll der Chinese?«
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Innstetten selbst schien von dem Bildchen überrascht und versicherte, daß
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er es nicht wisse. »Das hat Christel angeklebt oder Johanna. Spielerei. Du
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kannst sehen, es ist aus einer Fibel herausgeschnitten.« Effi fand es auch
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und war nur verwundert, daß Innstetten alles so ernsthaft nahm, als ob es
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doch etwas sei. Dann hatte sie noch einmal einen Blick in den Saal getan
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und sich dabei dahin geäußert, wie es doch eigentlich schade sei, daß das
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alles leerstehe. »Wir haben unten ja nur drei Zimmer, und wenn uns wer
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besucht, so wissen wir nicht aus noch ein. Meinst du nicht, daß man aus
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dem Saal zwei hübsche Fremdenzimmer machen könnte? Das wäre so was
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für die Mama; nach hinten heraus könnte sie schlafen und hätte den Blick
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auf den Fluß und die beiden Molen, und vorn hätte sie die Stadt und die
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holländische Windmühle. In Hohen-Cremmen haben wir noch immer bloß
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eine Bockmühle. Nun sage, was meinst du dazu? Nächsten Mai wird doch
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die Mama wohl kommen.«
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Innstetten war mit allem einverstanden gewesen und hatte nur zum
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Schluß gesagt: »Alles ganz gut. Aber es ist doch am Ende besser, wir
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logieren die Mama drüben ein, auf dem Landratsamt; die ganze erste Etage
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steht da leer, geradeso wie hier, und sie ist da noch mehr für sich.«
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Das war so das Resultat des ersten Umgangs im Hause gewesen; dann
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hatte Effi drüben ihre Toilette gemacht, nicht ganz so schnell, wie
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Innstetten angenommen, und nun saß sie in ihres Gatten Zimmer und
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beschäftigte sich in ihren Gedanken abwechselnd mit dem kleinen
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Chinesen oben und mit Gieshübler, der noch immer nicht kam. Vor einer
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Viertelstunde war freilich ein kleiner, schiefschultriger und fast schon so
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gut wie verwachsener Herr in einem kurzen eleganten Pelzrock und einem
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hohen, sehr glatt gebürsteten Zylinder an der anderen Seite der Straße
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vorbeigegangen und hatte nach ihrem Fenster hinübergesehen. Aber das
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konnte Gieshübler wohl nicht gewesen sein! Nein, dieser schiefschultrige
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Herr, der zugleich etwas so Distinguiertes hatte, das mußte der Herr
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Gerichtspräsident gewesen sein, und sie entsann sich auch wirklich, in
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einer Gesellschaft bei Tante Therese mal einen solchen gesehen zu haben,
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bis ihr mit einem Male einfiel, daß Kessin bloß einen Amtsrichter habe.
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Während sie diesen Betrachtungen noch nachging, wurde der
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Gegenstand derselben, der augenscheinlich erst eine Morgen- oder
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vielleicht auch eine Ermutigungspromenade um die Plantage herum
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gemacht hatte, wieder sichtbar, und eine Minute später erschien Friedrich,
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um Apotheker Gieshübler anzumelden.
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»Ich lasse sehr bitten.«
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Der armen jungen Frau schlug das Herz, weil es das erste Mal war, daß
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sie sich als Hausfrau und noch dazu als erste Frau der Stadt zu zeigen
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hatte.
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Friedrich half Gieshübler den Pelzrock ablegen und öffnete dann wieder
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die Tür.
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Effi reichte dem verlegen Eintretenden die Hand, die dieser mit einem
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gewissen Ungestüm küßte. Die junge Frau schien sofort einen großen
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Eindruck auf ihn gemacht zu haben.
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»Mein Mann hat mir bereits gesagt ... Aber ich empfange Sie hier in
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meines Mannes Zimmer ... er ist drüben auf dem Amt und kann jeden
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Augenblick zurück sein ... Darf ich Sie bitten, bei mir eintreten zu wollen?«
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Gieshübler folgte der voranschreitenden Effi ins Nebenzimmer, wo diese
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auf einen der Fauteuils wies, während sie sich selbst ins Sofa setzte. »Daß
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ich Ihnen sagen könnte, welche Freude Sie mir gestern durch die schönen
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Blumen und Ihre Karte gemacht haben. Ich hörte sofort auf, mich hier als
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eine Fremde zu fühlen, und als ich dies Innstetten aussprach, sagte er mir,
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wir würden überhaupt gute Freunde sein.«
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»Sagte er so? Der gute Herr Landrat. Ja, der Herr Landrat und Sie, meine
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gnädigste Frau, da sind, das bitte ich sagen zu dürfen, zwei liebe Menschen
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zueinander gekommen. Denn wie Ihr Herr Gemahl ist, das weiß ich, und wie
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Sie sind, meine gnädigste Frau, das sehe ich.«
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»Wenn Sie nur nicht mit zu freundlichen Augen sehen. Ich bin so sehr
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jung. Und Jugend ...«
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»Ach, meine gnädigste Frau, sagen Sie nichts gegen die Jugend. Die
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Jugend, auch in ihren Fehlern ist sie noch schön und liebenswürdig, und
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das Alter, auch in seinen Tugenden taugt es nicht viel. Persönlich kann ich
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in dieser Frage freilich nicht mitsprechen, vom Alter wohl, aber von der
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Jugend nicht, denn ich bin eigentlich nie jung gewesen. Personen meines
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Schlages sind nie jung. Ich darf wohl sagen, das ist das traurigste von der
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Sache. Man hat keinen rechten Mut, man hat kein Vertrauen zu sich selbst,
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man wagt kaum, eine Dame zum Tanz aufzufordern, weil man ihr eine
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Verlegenheit ersparen will, und so gehen die Jahre hin, und man wird alt,
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und das Leben war arm und leer.«
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Effi gab ihm die Hand. »Ach, Sie dürfen so was nicht sagen. Wir Frauen
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sind gar nicht so schlecht.«
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»O nein, gewiß nicht ...«
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»Und wenn ich mir so zurückrufe«, fuhr Effi fort, »was ich alles erlebt
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habe ... viel ist es nicht, denn ich bin wenig herausgekommen und habe fast
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immer auf dem Lande gelebt ... aber wenn ich es mir zurückrufe, so finde
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ich doch, daß wir immer das lieben, was liebenswert ist. Und dann sehe ich
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doch auch gleich, daß Sie anders sind als andere, dafür haben wir Frauen
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ein scharfes Auge. Vielleicht ist es auch der Name, der in Ihrem Falle
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mitwirkt. Das war immer eine Lieblingsbehauptung unseres alten Pastors
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Niemeyer; der Name, so liebte er zu sagen, besonders der Taufname, habe
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was geheimnisvoll Bestimmendes, und Alonzo Gieshübler, so mein ich,
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schließt eine ganz neue Welt vor einem auf, ja, fast möcht ich sagen dürfen,
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Alonzo ist ein romantischer Name, ein Preziosaname.«
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Gieshübler lächelte mit einem ganz ungemeinen Behagen und fand den
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Mut, seinen für seine Verhältnisse viel zu hohen Zylinder, den er bis dahin
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in der Hand gedreht hatte, beiseite zu stellen. »Ja, meine gnädigste Frau, da
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treffen Sie's.«
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»Oh, ich verstehe. Ich habe von den Konsuln gehört, deren Kessin so
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viele haben soll, und in dem Hause des spanischen Konsuls hat Ihr Herr
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Vater mutmaßlich die Tochter eines seemännischen Kapitanos
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kennengelernt, wie ich annehme, irgendeine schöne Andalusierin.
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Andalusierinnen sind immer schön.«
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»Ganz wie Sie vermuten, meine Gnädigste. Und meine Mutter war wirklich
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eine schöne Frau, so schlecht es mir persönlich zusteht, die
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Beweisführung zu übernehmen. Aber als Ihr Herr Gemahl vor drei Jahren
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hierherkam, lebte sie noch und hatte noch ganz die Feueraugen. Er wird es
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mir bestätigen. Ich persönlich bin mehr ins Gieshüblersche geschlagen,
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Leute von wenig Exterieur, aber sonst leidlich im Stande. Wir sitzen hier
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schon in der vierten Generation, volle hundert Jahre, und wenn es einen
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Apothekeradel gäbe...«
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So würden Sie ihn beanspruchen dürfen. Und ich meinerseits nehme ihn
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für bewiesen an und sogar für bewiesen ohne jede Einschränkung. Uns aus
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den alten Familien wird das am leichtesten, weil wir, so wenigstens bin ich
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von meinem Vater und auch von meiner Mutter her erzogen, jede gute
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Gesinnung, sie komme, woher sie wolle, mit Freudigkeit gelten lassen. Ich
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bin eine geborene Briest und stamme von dem Briest ab, der am Tag vor
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der Fehrbelliner Schlacht den Überfall von Rathenow ausführte, wovon Sie
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vielleicht einmal gehört haben...«
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»O gewiß, meine Gnädigste, das ist ja meine Spezialität.«
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Eine Briest also. Und mein Vater, da reichen keine hundert Male, daß er zu
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mir gesagt hat: Effi (so heiße ich nämlich), Effi hier sitzt es, bloß hier, und
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als Froben das Pferd tauschte, da war er von Adel, und als Luther sagte,
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hier stehe ich', da war er erst recht von Adel. Und ich denke, Herr
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Gieshübler, Innstetten hatte ganz recht, als er mir versicherte, wir wurden
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gute Freundschaft halten.« Gieshübler hätte nun am liebsten gleich eine
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Liebeserklärung gemacht und gebeten, daß er als Cid oder irgend sonst ein
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Campeador für sie kämpfen und sterben könne. Da dies alles aber nicht
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ging und sein Herz es nicht mehr aushalten konnte, so stand er auf, suchte
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nach seinem Hut, den er auch glücklicherweise gleich fand, und zog sich,
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nach wiederholtem Handkuß, rasch zurück, ohne weiter ein Wort gesagt zu
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haben.