5. Aufzug
2
Erzieher: Den Kindern, Herrin, bleibt die Verbannung erspart, und deine
3
Gaben nahm die königliche Braut gern mit eigener Hand entgegen. Von
4
dort haben deine Kinder nichts mehr zu fürchten.
5
Was ist dir? Warum stehst du verstört bei so viel Glück?
6
7
Medeia: Ach, ach!
8
9
Erzieher: Dein Wehruf stimmt nicht recht zu meiner Botschaft.
10
11
Medeia: Weh, abermals weh!
12
13
Erzieher: Brachte ich ahnungslos eine schlimme Botschaft? Täuscht mich
14
die Hoffnung, Frohes zu verkünden?
15
16
Medeia: Du hast gekündet, was zu künden war. Ich tadle dich nicht.
17
18
Erzieher: Warum schlägst du dann die Augen nieder und weinst?
19
20
Medeia: Dazu, Alter, treibt mich bittere Not. Denn die Götter und ich in
21
meinem Haß fügten es so.
22
23
Erzieher: Nur Mut! Gewiß holen dich die Kinder später einmal heim.
24
25
Medeia: Doch vorher hole ich Arme andere heim.
26
27
Erzieher: Du bist ja nicht die einzige, die man von ihren Kindern trennte. Ein
28
Mensch darf das Unglück nicht so schwer nehmen.
29
30
Medeia: So will ich tun. Geh nun ins Haus und sorge für die Kinder, ganz
31
wie jeden Tag! O Kinder, Kinder! Euch gehören jetzt Stadt und Haus, wo ihr
32
wohnen werdet; ihr verlaßt mich Arme, verliert eure Mutter für immer. Ich
33
aber gehe nun verbannt in ein fremdes Land, bevor ich euer froh ward und
34
euch glücklich sah, vor eurer Hochzeit, ehe ich eure Frauen und euer Bett
35
schmückte und die Hochzeitsfackel emporhielt. In welchen Jammer
36
stürzte mich mein Trotz! Vergebens habe ich euch aufgezogen, Kinder,
37
umsonst mich abgemüht, in Arbeit abgehärmt, bittere Schmerzen bei der
38
Geburt erduldet. Gewiß, einst baute ich Arme große Hoffnungen auf euch,
39
daß ihr mich im Alter pflegen und nach meinem Tod schön bestatten
40
würdet, zum Neid für alle Menschen. Jetzt aber ist die süße Hoffnung
41
dahin. Denn euer beraubt werde ich ein leidvolles, schmerzreiches Leben
42
führen. Ihr aber werdet mit euren lieben Augen die Mutter nicht mehr
43
sehen, da ihr in einen anderen Stand getreten seid.
44
Weh, weh! Warum sehen mich eure Augen so an, Kinder? Warum schenkt
45
ihr mir euer letztes Lächeln? Ach! Was soll ich tun? Beim Anblick dieser
46
hellen Kinderaugen schwindet, Frauen, all mein Mut. Ich vermag es nicht.
47
Fort mit den Plänen von vorhin! Ich will die Kinder von hier mitnehmen.
48
Warum soll ich den Vater durch ihr Unglück kränken, doch selber doppelt
49
leiden? Nie und nimmer! Fort mit diesem Plan!
50
Und doch, was fällt mir ein? Will ich zum Gespött werden und meine
51
Feinde straflos lassen? Da heißt es tapfer sein. Wie feig bin ich doch, einer
52
weichlichen Regung in meinem Herzen nachzugeben. Kinder, geht hinein!
53
Wenn es aber einer für unrecht hält, meinem Opfer beizuwohnen, so ist es
54
seine Sache. Meine Hand wird nicht versagen.
55
Weh, weh! Nein doch, Herz, tu es nicht! Elende, laß sie! Schone die Kinder!
56
Dort werden sie mit dir leben und dich beglücken. Doch bei den
57
Rachegeistern drunten im Hades, nie und nimmer darf ich meine Kinder
58
dem Übermut der Feinde preisgeben. Das steht nun einmal fest, ist
59
unvermeidlich. Jetzt sitzt der Kranz schon auf dem Haupt, die königliche
60
Braut stirbt hin in ihrem Kleid, das ist gewiß. Wohlan, so gehe ich jetzt den
61
leidvollsten Weg, und diese Kleinen schicke ich auf einen noch
62
leidvolleren.
63
Ich will die Kinder noch einmal anreden. Liebe Kinder! Gebt, gebt der
64
Mutter euer Händchen, damit sie es drücken kann! O liebe Hand, o lieber
65
Mund, ihr edlen Züge, Antlitz meiner Kinder! Seid glücklich – aber drüben!
66
Denn hier hat euch der Vater alles Glück geraubt. O süßes Umfangen,
67
weiche Wange, süßer Kinderatem! Geht, geht! Ich kann euch nicht mehr
68
ansehen, das Leid überwältigt mich. Nun erkenne ich, welche Untat ich
69
begehen will. Doch stärker als die Einsicht ist die Leidenschaft, die
70
Menschen größtes Unglück bringt.
71
72
Chor: Schon oft wagte ich mich an tiefere Betrachtungen und kühnere
73
Fragen, als dem weiblichen Geschlecht ziemt. Doch auch in uns lebt der
74
Trieb zur Bildung, verbunden dem Drang nach Wissen, wenn auch nicht in
75
allen Frauen. Unter vielen findet sich vielleicht eine, die den Musen[1] nicht
76
abhold ist.
77
Und so sage ich, daß Menschen, die die Ehe nicht kennen und keine Kinder
78
zeugten, weit glücklicher sind als alle, die Kinder haben. Kinderlose, die nie
79
erfuhren, ob Kinder den Menschen Wonne oder Qual bringen, bleiben von
80
vielen Nöten verschont. Wer aber in seinem Haus ein süßes Volk von
81
Kindern hat, der muß, wie ich sehe, die ganze Zeit sich in Sorgen verzehren,
82
zuerst, wie er die Kinder gut aufzieht, dann, wie er ihnen ein Vermögen
83
hinterläßt. Und nach all dem ist es noch ungewiß, ob man sich für
84
schlechte oder gute Kinder abmüht. Nun aber will das Leid offen nennen,
85
das allen Sterblichen das äußerste ist. Denn hat man wirklich genug
86
Vermögen erworben und sind die Kinder herangereift und tüchtig
87
geworden, dann rafft sie, will es das Unglück, der Tod hin, zum Hades[2]. Was
88
also frommt es, wenn Götter den Menschen zum übrigen Leid noch den
89
quälenden Schmerz um die Kinder aufbürden?
90
91
Medeia: Schon lange warte ich voll Ungeduld, ihr Lieben, wie die Sache
92
dort ausgeht. Da sehe ich endlich einen von Iasons Dienern kommen. Sein
93
keuchender Atem zeigt, daß er ein unerhörtes Unglück melden wird.
94
95
Bote: Du hast eine schreckliche, frevelhafte Tat begangen, Medeia! Fliehe,
96
fliehe, laß weder Schiff noch Wagen unbenutzt!
97
98
Medeia: Was triebe mich denn zu so eiliger Flucht?
99
100
Bote: Soeben sind die königliche Braut und ihr Vater Kreon durch deine
101
Gifte umgekommen.
102
103
Medeia: Du bringst die schönste Botschaft; von nun an zähle ich dich unter
104
meine Wohltäter und Freunde.
105
106
Bote: Was sagst du? Weib, bist du noch bei Sinnen und nicht ganz
107
verrückt? Du hast die königliche Familie ruchlos vernichtet, freust dich
108
noch, es zu hören, und hast keine Furcht?
109
110
Medeia: Ich könnte deinen Worten manches entgegenhalten. Doch hab' es
111
nicht so eilig, Lieber, und erzähle mir! Wie starben sie? Denn du machst mir
112
doppelt Freude, wenn sie recht jämmerlich zugrunde gingen.
113
114
Bote: Als deine beiden Söhne mit ihrem Vater kamen und das
115
Hochzeitshaus betraten, freuten wir Diener uns alle, denn wir litten unter
116
deiner Not. Sogleich durchflog den ganzen Palast das Gerücht, du und dein
117
Gemahl hätten den früheren Zwist beigelegt. Der eine küßte die Hände der
118
Knaben, der andere ihr blondes Haar. Ich selbst folgte in meiner Freude
119
den Kindern ins Frauengemach. Die Herrin, der wir jetzt an deiner Statt
120
huldigen, warf Iason liebevolle Blicke zu und sah dann erst deine beiden
121
Kinder. Sie verhüllte ihre Augen und wandte das erblaßte Antlitz ab, empört
122
über das Erscheinen der Knaben. Dein Gatte aber suchte Zorn und Groll
123
der jungen Frau zu besänftigen, indem er sprach: „Du wirst doch gegen
124
deine Verwandten keinen Haß hegen; laß ab zu zürnen, wende dein
125
Gesicht wieder her und halte die Freunde des Gemahls auch für die deinen!
126
Nimm die Gaben an und bitte deinen Vater, den Kindern mir zuliebe die
127
Verbannung zu erlassen!“
128
Als sie nun den Schmuck sah, konnte sie nicht widerstehen und sagte
129
ihrem Gatten alles zu. Und noch war der Vater mit den Kindern kaum ein
130
Stück vom Haus entfernt, nahm sie die bunten Gewänder, legte sie an,
131
drückte den goldenen Kranz auf ihre Locken und ordnete vor dem blanken
132
Spiegel ihr Haar, indem sie ihrem Spiegelbild zulächelte. Dann stand sie
133
vom Sessel auf, schritt auf ihren schneeweißen Füßen anmutig durchs
134
Zimmer, und im Übermaß der Freude über das Geschenk sah sie immer
135
wieder nach ihren angehobenen Fersen. Doch was dann kam, war ein
136
fürchterliches Schauspiel. Sie wechselt die Farbe, taumelt, an allen
137
Gliedern zitternd, zurück und kann eben noch in den Sessel fallen, ehe sie
138
zu Boden stürzt. Eine alte Dienerin, die glauben mochte, die Raserei des
139
Pan[3] oder eines anderen Gottes habe sie befallen, jubelte auf, bis sie sah,
140
wie ihr weißer Schaum vor den Mund trat, wie sie die Augen verdrehte und
141
alles Blut zurückwich. Da stieß sie einen anders klingenden Gebetsruf aus,
142
ein lautes Wehgeheul. Sogleich stürzte eine Dienerin ins Gemach des
143
Vaters, eine andere zum Bräutigam, um das Unglück der Jungfrau zu
144
melden. Das ganze Haus hallte von wildem Hin- und Widerlaufen.
145
Schon hätte ein rüstiger Geher, rasch ausschreitend, das Ende einer
146
Strecke von sechs Plethren[4] erreicht, als die Arme, die bisher stumm mit
147
geschlossenen Augen dalag, mit einem gräßlichen Schrei auffuhr. Stürmte
148
doch zweifacher Schmerz auf sie ein. Der goldene Kranz nämlich, der um
149
ihr Haupt lag, sprühte einen entsetzlichen Strom alles verzehrenden Feuers
150
aus. Und das duftige Kleid, das Geschenk deiner Kinder, zerfraß den zarten
151
Leib der Unglücklichen. In Flammen gehüllt fährt sie vom Sessel auf, will
152
fliehen und wirft Haupt und Haar hin und her, um das Gebinde
153
wegzuschleudern. Doch das goldene Band saß fest, hielt die Flechten
154
zusammen, und wenn sie ihr Haar schüttelte, loderte das Feuer nur noch
155
stärker auf. Sie stürzt zu Boden, besiegt vom Schmerz und selbst dem
156
Vater kaum noch kenntlich. Die Augen und das schöne Antlitz waren ganz
157
entstellt, Blut mit Feuer vermischt tropfte vom Scheitel herab, das Fleisch
158
schmolz unter den unsichtbaren Bissen des Giftes von den Knochen wie
159
Fichtenharz; es war ein schrecklicher Anblick. Und keiner wagte es, den
160
Leichnam zu berühren, denn ihr Schicksal hatte uns gewarnt.
161
Nur der arme Vater, der jäh ins Gemach gelaufen kam, wirft sich
162
nichtsahnend auf die Leiche. Sogleich bricht er in Jammerrufe aus,
163
umschlingt den Körper, küßt ihn mit den Worten: „O unseliges Kind!
164
Welcher Gott hat dich so schändlich gemordet? Wer entriß dich dem alten
165
Mann am Rand des Grabes? Weh mir, Kind, könnt' ich doch mit dir
166
sterben!“ Als er nach solchem Klagen und Jammern den greisen Leib
167
aufrichten wollte, hing er an dem dünnen Gewand fest wie Epheu an den
168
Lorbeerzweigen. Es war ein schreckliches Ringen. Er wollte seine Knie
169
erheben, sie aber hielt ihn fest, und zog er mit Gewalt, riß er sich das welke
170
Fleisch von den Knochen. Endlich erlosch die Kraft, der Arme starb, von
171
Qualen überwältigt. Tot liegen nun vereint die Tochter und der greise Vater,
172
ein Unglück, das zu Tränen rührt.
173
Von deinem Schicksal will ich nicht sprechen. Du wirst dem Strafgericht
174
selbst zu entgehen wissen. Doch nicht erst heute erscheint mir das
175
Menschenleben wie ein Schatten, und ohne Zögern sage ich, daß Leute,
176
die für klug gelten und den großen Denker spielen, den Vorwurf größter
177
Torheit verdienen. Denn kein Sterblicher war je glücklich. Selbst wenn
178
Reichtum herbeiströmt, ist der eine vielleicht beglückter als der andere,
179
glücklich ist er nicht.
180
181
Chor: Es scheint, daß das Schicksal an diesem Tag mit Recht viel Leid über
182
Iason verhängt. O arme Tochter Kreons, die du wegen der Heirat mit ihm
183
ins Haus des Todes eingingst, wie erbarmt uns dein Unglück!
184
185
Medeia: Ihr lieben Frauen! Ich bin entschlossen, meine Söhne möglichst
186
schnell zu töten und dann aus diesem Lande fortzueilen, um nicht durch
187
Zaudern meine Kinder einer fremden, feindseligen Hand zum Mord zu
188
überlassen. Sterben müssen sie, da bleibt kein Ausweg, und da es sein
189
muß, töte ich sie selbst, die sie gebar. Wohlan! Wappne dich, mein Herz!
190
Was zauderst du, das Schreckliche zu vollbringen, da du es ja mußt? Auf,
191
arme Hand, pack das Schwert, pack es, auf zum traurigsten Kampf deines
192
Lebens! Sei nicht feig und vergiß, daß sie deine Kinder, dein Liebstes sind
193
und du sie gebarst. Vergiß für diesen kurzen Tag die Kinder und beweine
194
sie später! Denn, mußt du sie auch töten, sind sie dir doch lieb – o ich
195
unglückseliges Weib!
[1] Musen: Musen sind die Schutzgöttinnen der Küste.
[2] Hades: Hades ist der Gott der Unterwelt und bezeichnet gleichermaßen die Unterwelt.
[3] Pan: Anspielung auf den panischen Schrecken, der durch den Hirtengott Pan hervorgerufen wird.
[4] Plethren: altgriechisches Längenmaß (ein Plethron entspricht etwa 30,83 Meter)