Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben LF
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

Dritter Auftritt

2
Iphigenie. Thoas.
3
4
Iphigenie: Du forderst mich! Was bringt dich zu uns her?
5
6
Thoas: Du schiebst das Opfer auf; sag an, warum?
7
8
Iphigenie: Ich hab an Arkas alles klar erzählt.
9
10
Thoas: Von dir möcht ich es weiter noch vernehmen.
11
12
Iphigenie: Die Göttin gibt dir Frist zur Überlegung.
13
14
Thoas: Sie scheint dir selbst gelegen, diese Frist.
15
16
Iphigenie: Wenn dir das Herz zum grausamen Entschluß
17
Verhärtet ist, so solltest du nicht kommen!
18
Ein König, der Unmenschliches verlangt,
19
Findt Diener gnug, die gegen Gnad und Lohn
20
Den halben Fluch der Tat begierig fassen;
21
Doch seine Gegenwart bleibt unbefleckt.
22
Er sinnt den Tod in einer schweren Wolke,
23
Und seine Boten bringen flammendes
24
Verderben auf des Armen Haupt hinab;
25
Er aber schwebt durch seine Höhen ruhig,
26
Ein unerreichter Gott, im Sturme fort.
27
28
Thoas: Die heil'ge Lippe tönt ein wildes Lied.
29
30
Iphigenie: Nicht Priesterin! nur Agamemnons Tochter.
31
Der Unbekannten Wort verehrtest du,
32
Der Fürstin willst du rasch gebieten? Nein!
33
Von Jugend auf hab ich gelernt gehorchen,
34
Erst meinen Eltern und dann einer Gottheit,
35
Und folgsam fühlt ich immer meine Seele
36
Am schönsten frei; allein dem harten Worte,
37
Dem rauhen Ausspruch eines Mannes mich
38
Zu fügen, lernt ich weder dort noch hier.
39
40
Thoas: Ein alt Gesetz, nicht ich, gebietet dir.
41
42
Iphigenie: Wir fassen ein Gesetz begierig an,
43
Das unsrer Leidenschaft zur Waffe dient.
44
Ein andres spricht zu mir, ein älteres,
45
Mich dir zu widersetzen: das Gebot,
46
Dem jeder Fremde heilig ist.
47
48
Thoas: Es scheinen die Gefangnen dir sehr nah
49
Am Herzen, denn vor Anteil und Bewegung
50
Vergissest du der Klugheit erstes Wort,
51
Daß man den Mächtigen nicht reizen soll.
52
53
Iphigenie: Red oder schweig ich, immer kannst du wissen,
54
Was mir im Herzen ist und immer bleibt.
55
Löst die Erinnerung des gleichen Schicksals
56
Nicht ein verschloßnes Herz zum Mitleid auf?
57
Wie mehr denn meins! In ihnen seh ich mich.
58
Ich habe vorm Altare selbst gezittert,
59
Und feierlich umgab der frühe Tod
60
Die Knieende; das Messer zuckte schon,
61
Den lebenvollen Busen zu durchbohren;
62
Mein Innerstes entsetzte wirbelnd sich,
63
Mein Auge brach, und – ich fand mich gerettet.
64
Sind wir, was Götter gnädig uns gewährt,
65
Unglücklichen nicht zu erstatten schuldig?
66
Du weißt es, kennst mich, und du willst mich zwingen!
67
68
Thoas: Gehorche deinem Dienste, nicht dem Herrn!
69
70
Iphigenie: Laß ab! Beschönige nicht die Gewalt,
71
Die sich der Schwachheit eines Weibes freut.
72
Ich bin so frei geboren als ein Mann.
73
Stünd Agamemnons Sohn dir gegenüber
74
Und du verlangtest, was sich nicht gebührt,
75
So hat auch er ein Schwert und einen Arm,
76
Die Rechte seines Busens zu verteid'gen.
77
Ich habe nichts als Worte, und es ziemt
78
Dem edlen Mann, der Frauen Wort zu achten.
79
80
Thoas: Ich acht es mehr als eines Bruders Schwert.
81
82
Iphigenie: Das Los der Waffen wechselt hin und her:
83
Kein kluger Streiter hält den Feind gering.
84
Auch ohne Hülfe gegen Trutz und Härte
85
Hat die Natur den Schwachen nicht gelassen.
86
Sie gab zur List ihm Freude, lehrt' ihn Künste:
87
Bald weicht er aus, verspätet und umgeht.
88
Ja, der Gewaltige verdient, daß man sie übt.
89
90
Thoas: Die Vorsicht stellt der List sich klug entgegen.
91
92
Iphigenie: Und eine reine Seele braucht sie nicht.
93
94
Thoas: Sprich unbehutsam nicht dein eigen Urteil!
95
96
Iphigenie: O sähest du, wie meine Seele kämpft,
97
Ein bös Geschick, das sie ergreifen will,
98
Im ersten Anfall mutig abzutreiben!
99
So steh ich denn hier wehrlos gegen dich?
100
Die schöne Bitte, den anmut'gen Zweig,
101
In einer Frauen Hand gewaltiger
102
Als Schwert und Waffe, stößest du zurück:
103
Was bleibt mir nun, mein Innres zu verteid'gen?
104
Ruf ich die Göttin um ein Wunder an?
105
Ist keine Kraft in meiner Seele Tiefen?
106
107
Thoas: Es scheint, der beiden Fremden Schicksal macht
108
Unmäßig dich besorgt. Wer sind sie, sprich,
109
Für die dein Geist gewaltig sich erhebt?
110
111
Iphigenie: Sie sind – sie scheinen – für Griechen halt ich sie.
112
113
Thoas: Landsleute sind es? und sie haben wohl
114
Der Rückkehr schönes Bild in dir erneut?
115
116
Iphigenie (nach einigem Stillschweigen):
117
Hat denn zur unerhörten Tat der Mann
118
Allein das Recht? Drückt denn Unmögliches
119
Nur er an die gewalt'ge Heldenbrust?
120
Was nennt man groß? Was hebt die Seele schaudernd
121
Dem immer wiederholenden Erzähler,
122
Als was mit unwahrscheinlichem Erfolg
123
Der Mutigste begann? Der in der Nacht
124
Allein das Heer des Feindes überschleicht,
125
Wie unversehen eine Flamme wütend
126
Die Schlafenden, Erwachenden ergreift,
127
Zuletzt, gedrängt von den Ermunterten,
128
Auf Feindes Pferden doch mit Beute kehrt,
129
Wird der allein gepriesen? der allein,
130
Der, einen sichern Weg verachtend, kühn
131
Gebirg und Wälder durchzustreifen geht,
132
Daß er von Räubern eine Gegend säubre?
133
Ist uns nichts übrig? Muß ein zartes Weib
134
Sich ihres angebornen Rechts entäußern,
135
Wild gegen Wilde sein, wie Amazonen
136
Das Recht des Schwerts euch rauben und mit Blute
137
Die Unterdrückung rächen? Auf und ab
138
Steigt in der Brust ein kühnes Unternehmen:
139
Ich werde großem Vorwurf nicht entgehn
140
Noch schwerem Übel, wenn es mir mißlingt;
141
Allein euch leg ich's auf die Kniee! Wenn
142
Ihr wahrhaft seid, wie ihr gepriesen werdet,
143
So zeigt's durch euern Beistand und verherrlicht
144
Durch mich die Wahrheit! – Ja, vernimm, o König,
145
Es wird ein heimlicher Betrug geschmiedet:
146
Vergebens fragst du den Gefangnen nach;
147
Sie sind hinweg und suchen ihre Freunde,
148
Die mit dem Schiff am Ufer warten, auf.
149
Der ältste, den das Übel hier ergriffen
150
Und nun verlassen hat – es ist Orest,
151
Mein Bruder, und der andre sein Vertrauter,
152
Sein Jugendfreund, mit Namen Pylades.
153
Apoll schickt sie von Delphi diesem Ufer
154
Mit göttlichen Befehlen zu, das Bild
155
Dianens wegzurauben und zu ihm
156
Die Schwester hinzubringen, und dafür
157
Verspricht er dem von Furien Verfolgten,
158
Des Mutterblutes Schuldigen, Befreiung.
159
Uns beide hab ich nun, die Überbliebnen
160
Von Tantals Haus, in deine Hand gelegt:
161
Verdirb uns – wenn du darfst.
162
163
Thoas: Du glaubst, es höre
164
Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme
165
Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus,
166
Der Grieche, nicht vernahm?
167
168
Iphigenie: Es hört sie jeder,
169
Geboren unter jedem Himmel, dem
170
Des Lebens Quelle durch den Busen rein
171
Und ungehindert fließt. – Was sinnst du mir,
172
O König, schweigend in der tiefen Seele?
173
Ist es Verderben? so töte mich zuerst!
174
Denn nun empfind ich, da uns keine Rettung
175
Mehr übrigbleibt, die gräßliche Gefahr,
176
Worein ich die Geliebten übereilt
177
Vorsätzlich stürzte. Weh! Ich werde sie
178
Gebunden vor mir sehn! Mit welchen Blicken
179
Kann ich von meinem Bruder Abschied nehmen,
180
Den ich ermorde? Nimmer kann ich ihm
181
Mehr in die vielgeliebten Augen schaun!
182
183
Thoas: So haben die Betrüger künstlich dichtend
184
Der lang Verschloßnen, ihre Wünsche leicht
185
Und willig Glaubenden ein solch Gespinst
186
Ums Haupt geworfen!
187
188
Iphigenie: Nein! o König, nein!
189
Ich könnte hintergangen werden; diese
190
Sind treu und wahr. Wirst du sie anders finden,
191
So laß sie fallen und verstoße mich,
192
Verbanne mich zur Strafe meiner Torheit
193
An einer Klippeninsel traurig Ufer.
194
Ist aber dieser Mann der lang erflehte
195
Geliebte Bruder, so entlaß uns, sei
196
Auch den Geschwistern wie der Schwester freundlich!
197
Mein Vater fiel durch seiner Frauen Schuld
198
Und sie durch ihren Sohn. Die letzte Hoffnung
199
Von Atreus' Stamme ruht auf ihm allein.
200
Laß mich mit reinem Herzen, reiner Hand
201
Hinübergehn und unser Haus entsühnen.
202
Du hältst mir Wort! – Wenn zu den Meinen je
203
Mir Rückkehr zubereitet wäre, schwurst
204
Du, mich zu lassen; und sie ist es nun.
205
Ein König sagt nicht, wie gemeine Menschen,
206
Verlegen zu, daß er den Bittenden
207
Auf einen Augenblick entferne; noch
208
Verspricht er auf den Fall, den er nicht hofft:
209
Dann fühlt er erst die Höhe seiner Würde,
210
Wenn er den Harrenden beglücken kann.
211
212
Thoas: Unwillig, wie sich Feuer gegen Wasser
213
Im Kampfe wehrt und gischend seinen Feind
214
Zu tilgen sucht, so wehret sich der Zorn
215
In meinem Busen gegen deine Worte.
216
217
Iphigenie: O laß die Gnade wie das heil'ge Licht
218
Der stillen Opferflamme mir, umkränzt
219
Von Lobgesang und Dank und Freude, lodern.
220
221
Thoas: Wie oft besänftigte mich diese Stimme!
222
223
Iphigenie: O reiche mir die Hand zum Friedenszeichen!
224
225
Thoas: Du forderst viel in einer kurzen Zeit.
226
227
Iphigenie: Um Guts zu tun, braucht's keiner Überlegung.
228
229
Thoas: Sehr viel! denn auch dem Guten folgt das Übel.
230
231
Iphigenie: Der Zweifel ist's, der Gutes böse macht.
232
Bedenke nicht; gewähre, wie du's fühlst.

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?