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Inhaltsverzeichnis

Zweiter Abschnitt

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Am folgenden Morgen saßen Florio und Fortunato unter den hohen, von
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der Morgensonne durchfunkelten Bäumen vor der Herberge miteinander
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beim Frühstücke. Florio sah blässer als gewöhnlich und angenehm
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überwacht aus. – «Der Morgen», sagte Fortunato lustig, «ist ein recht
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kerngesunder, wildschöner Gesell, wie er so von den höchsten Bergen in
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die schlafende Welt hinunterjauchzt und von den Blumen und Bäumen die
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Tränen schüttelt und wogt und lärmt und singt. Der macht eben nicht
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sonderlich viel aus den sanften Empfindungen, sondern greift kühl an alle
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Glieder und lacht einem lange ins Gesicht, wenn man so preßhaft und noch
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ganz wie in Mondschein getaucht vor ihn hinaustritt.» – Florio schämte sich
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nun, dem Sänger, wie er sich anfangs vorgenommen, etwas von dem
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schönen Venusbilde zu sagen, und schwieg betreten still. Sein Spaziergang
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in der Nacht war aber von dem Diener an der Haustür bemerkt und
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wahrscheinlich verraten worden, und Fortunato fuhr lachend fort: «Nun,
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wenn Ihrs nicht glaubt, versucht es nur einmal und stellt Euch jetzt hierher
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und sagt zum Exempel: O schöne, holde Seele, o Mondschein, du
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Blütenstaub zärtlicher Herzen usw., ob das nicht recht zum Lachen wäre!
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Und doch wette ich, habt Ihr diese Nacht dergleichen oft gesagt und gewiß
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ordentlich ernsthaft dabei ausgesehen.»
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Florio hatte sich Fortunato ehedem immer so still und sanftmütig
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vorgestellt, nun verwundete ihn recht innerlichst die kecke Lustigkeit des
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geliebten Sängers. Er sagte hastig, und die Tränen traten ihm dabei in die
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seelenvollen Augen: «Ihr sprecht da sicherlich anders, als Euch selber
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zumute ist, und das solltet Ihr nimmermehr tun. Aber ich lasse mich von
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Euch nicht irremachen, es gibt noch sanfte und hohe Empfindungen, die
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wohl schamhaft sind, aber sich nicht zu schämen brauchen, und ein stilles
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Glück, das sich vor dem lauten Tag verschließt und nur dem
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Sternenhimmel den Heiligen Kelch öffnet wie eine Blume, in der ein Engel
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wohnt.» Fortunato sah den Jüngling verwundert an, dann rief er aus: «Nun
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wahrhaftig, Ihr seid recht ordentlich verliebt!»
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Man hatte unterdes Fortunato, der spazierenreiten wollte, sein Pferd
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vorgeführt. Freundlich streichelte er den gebogenen Hals des zierlich
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aufgeputzten Rößleins, das mit fröhlicher Ungeduld den Rasen stampfte.
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Dann wandte er sich noch einmal zu Florio und reichte ihm gutmütig
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lächelnd die Hand. «Es tut mir doch leid», sagte er, «es gibt gar zu viele
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sanfte, gute, besonders verliebte junge Leute, die ordentlich versessen
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sind auf Unglücklichsein. Laßt das, die Melancholie, den Mondschein und
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alle den Plunder; und gehts auch manchmal wirklich schlimm, nur frisch
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heraus in Gottes freien Morgen und da draußen sich recht abgeschüttelt, im
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Gebet aus Herzensgrund – und es müßte wahrlich mit dem Bösen zugehen,
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wenn Ihr nicht so recht durch und durch fröhlich und stark werdet!» – Und
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hiermit schwang er sich schnell auf sein Pferd und ritt zwischen den
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Weinbergen und blühenden Gärten in das farbige, schallende Land hinein,
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selber so bunt und freudig anzuschauen wie der Morgen vor ihm.
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Florio sah ihm lange nach, bis die Glanzeswogen über dem fernen Meere
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zusammenschlugen. Dann ging er hastig unter den Bäumen auf und nieder.
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Ein tiefes, unbestimmtes Verlangen war von den Erscheinungen der Nacht
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in seiner Seele zurückgeblieben. Dagegen hatte ihn Fortunato durch seine
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Reden seltsam verstört und verwirrt. Er wußte nun selbst nicht mehr, was
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er wollte, gleich einem Nachtwandler, der plötzlich bei seinem Namen
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gerufen wird. Sinnend blieb er oftmals vor der wunderreichen Aussicht in
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das Land hinab stehen, als wollte er das freudig kräftige Walten da draußen
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um Auskunft fragen. Aber der Morgen spielte nur einzelne Zauberlichter wie
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durch die Bäume über ihm in sein träumerisch funkelndes Herz hinein, das
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noch in anderer Macht stand. Denn drinnen zogen die Sterne noch
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immerfort ihre magischen Kreise, zwischen denen das wunderschöne
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Marmorbild mit neuer, unwiderstehlicher Gewalt heraufsah.
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So beschloß er denn endlich, den Weiher wieder aufzusuchen, und
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schlug rasch denselben Pfad ein, den er in der Nacht gewandelt.
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Wie sah aber dort nun alles so anders aus! Fröhliche Menschen
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durchirrten geschäftig die Weinberge, Gärten und Alleen, Kinder spielten
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ruhig auf dem sonnigen Rasen vor den Hütten, die ihn in der Nacht unter
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den traumhaften Bäumen oft gleich eingeschlafenen Sphinxen erschreckt
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hatten, der Mond stand fern und verblaßt am klaren Himmel, unzählige
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Vögel sangen lustig im Walde durcheinander. Er konnte gar nicht begreifen,
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wie ihn damals hier so seltsame Furcht überfallen konnte.
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Bald bemerkte er indes, daß er in Gedanken den rechten Weg verfehlt. Er
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betrachtete aufmerksam alle Plätze und ging zweifelhaft bald zurück, bald
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wieder vorwärts, aber vergeblich; je emsiger er suchte, je unbekannter und
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ganz anders kam ihm alles vor.
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Lange war er so umhergeirrt. Die Vögel schwiegen schon, der Kreis der
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Hügel wurde nach und nach immer stiller, die Strahlen der Mittagssonne
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schillerten sengend über der ganzen Gegend draußen, die wie unter einem
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Schleier von Schwüle zu schlummern und zu träumen schien. Da kam er
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unerwartet an ein Tor von Eisengittern, zwischen dessen zierlich
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vergoldeten Stäben hindurch man in einen weiten, prächtigen Lustgarten
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hineingehen konnte. Ein Strom von Kühle und Duft wehte den Ermüdeten
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erquickend daraus an. Das Tor war nicht verschlossen, er öffnete es leise
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und trat hinein.
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Hohe Buchenhallen empfingen ihn da mit ihren feierlichen Schatten,
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zwischen denen goldene Vögel wie abgewehte Blüten hin und wieder
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flatterten, während große, seltsame Blumen, wie sie Florio niemals
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gesehen, traumhaft mit ihren gelben und roten Glocken in dem leisen
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Winde hin und her schwankten. Unzählige Springbrunnen plätscherten, mit
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vergoldeten Kugeln spielend, einförmig in der großen Einsamkeit.
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Zwischen den Bäumen hindurch sah man in der Ferne einen prächtigen
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Palast mit hohen, schlanken Säulen hereinschimmern. Kein Mensch war
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ringsum zu sehen, tiefe Stille herrschte überall. Nur hin und wieder
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erwachte manchmal eine Nachtigall und sang wie im Schlummer fast
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schluchzend. Florio betrachtete verwundert Bäume, Brunnen und Blumen,
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denn es war ihm, als sei das alles lange versunken, und über ihm ginge der
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Strom der Tage mit leichten, klaren Wellen, und unten läge nur der Garten
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gebunden und verzaubert und träumte von dem vergangenen Leben.
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Er war noch nicht weit vorgedrungen, als er Lautenklänge vernahm, bald
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stärker, bald wieder in dem Rauschen der Springbrunnen leise verhallend.
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Lauschend blieb er stehen, die Töne kamen immer näher und näher, da trat
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plötzlich in dem stillen Bogengange eine hohe, schlanke Dame von
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wundersamer Schönheit zwischen den Bäumen hervor, langsam wandelnd
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und ohne aufzublicken. Sie trug eine prächtige, mit goldenem Bildwerke
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gezierte Laute im Arme, auf der sie, wie in tiefe Gedanken versunken,
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einzelne Akkorde griff. Ihr langes goldenes Haar fiel in reichen Locken über
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die fast bloßen, blendendweißen Achseln bis auf den Rücken hinab; die
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langen, weiten Ärmel, wie vom Blütenschnee gewoben, wurden von
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zierlichen goldenen Spangen gehalten; den schönen Leib umschloß ein
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himmelblaues Gewand, ringsum an den Enden mit buntglühenden,
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wunderbar ineinander verschlungenen Blumen gestickt. Ein heller
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Sonnenblick durch eine Öffnung des Bogenganges schweifte soeben
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scharf beleuchtend über die blühende Gestalt. Florio fuhr innerlich
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zusammen – es waren unverkennbar die Züge, die Gestalt des schönen
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Venusbildes, das er heute nacht am Weiher gesehen. – Sie aber sang, ohne
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den Fremden zu bemerken:
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Was weckst du, Frühling, mich von neuem
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wieder?
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Daß all die alten Wünsche auferstehen,
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Geht übers Land ein wunderbares Wehen;
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Das schauert mir so lieblich durch die Glieder.
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Die schöne Mutter grüßen tausend Lieder,
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Die, wieder jung, im Brautkranz süß zu sehen;
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Der Wald will sprechen, rauschend Ströme gehen,
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Najaden tauchen singend auf und nieder.
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Die Rose seh ich gehn aus grüner Klause,
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Und, wie so buhlerisch die Lüfte fächeln,
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Errötend in die laue Luft sich dehnen.
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So mich auch ruft ihr aus dem stillen Hause –
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Und schmerzlich nun muß ich im Frühling lächeln,
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Versinkend zwischen Duft und Klang vor Sehnen.
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So singend wandelte sie fort, bald in dem Grünen verschwindend, bald
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wieder erscheinend, immer ferner und ferner, bis sie sich endlich in der
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Gegend des Palastes ganz verlor. Nun war es auf einmal wieder still, nur die
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Bäume und Wasserkünste rauschten wie vorher. Florio stand in blühende
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Träume versunken, es war ihm, als hätte er die schöne Lautenspielerin
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schon lange gekannt und nur in der Zerstreuung des Lebens wieder
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vergessen und verloren, als ginge sie nun vor Wehmut zwischen dem
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Quellenrauschen unter und riefe ihn unaufhörlich, ihr zu folgen. –
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Tiefbewegt eilte er weiter in den Garten hinein auf die Gegend zu, wo sie
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verschwunden war. Da kam er unter uralten Bäumen an ein verfallenes
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Mauerwerk, an dem noch hin und wieder schöne Bildereien halb kenntlich
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waren. Unter der Mauer auf zerschlagenen Marmorsteinen und
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Säulenknäufen, zwischen denen hohes Gras und Blumen üppig
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hervorschossen, lag ein schlafender Mann ausgestreckt. Erstaunt erkannte
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Florio den Ritter Donati. Aber seine Mienen schienen im Schlafe sonderbar
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verändert, er sah fast wie ein Toter aus. Ein heimlicher Schauer überlief
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Florio bei diesem Anblicke. Er rüttelte den Schlafenden heftig. Donati
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schlug langsam die Augen auf, und sein erster Blick war so fremd, stier
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und wild, daß sich Florio ordentlich vor ihm entsetzte. Dabei murmelte er
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noch zwischen Schlaf und Wachen einige dunkle Worte, die Florio nicht
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verstand. Als er sich endlich völlig ermuntert hatte, sprang er rasch auf und
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sah Florio, wie es schien, mit großem Erstaunen an. «Wo bin ich», rief
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dieser hastig, «wer ist die edle Herrin, die in diesem schönen Garten
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wohnt?» – «Wie seid Ihr», fragte dagegen Donati sehr ernst, «in diesen
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Garten gekommen?» Florio erzählte kurz den Hergang, worüber der Ritter
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in ein tiefes Nachdenken versank. Der Jüngling wiederholte darauf
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dringend seine vorigen Fragen, und Donati sagte zerstreut: «Die Dame ist
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eine Verwandte von mir, reich und gewaltig, ihr Besitztum ist weit im Lande
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verbreitet – ihr findet sie bald da, bald dort – auch in der Stadt Lucca ist sie
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zuweilen.» – Florio fielen die hingeworfenen Worte seltsam aufs Herz, denn
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es wurde ihm nur immer deutlicher, was ihn vorher nur vorübergehend
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angeflogen, nämlich, daß er die Dame schon einmal in früherer Jugend
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irgendwo gesehen, doch konnte er sich durchaus nicht klar besinnen. – Sie
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waren unterdes rasch fortgehend unvermerkt an das vergoldete Gittertor
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des Gartens gekommen. Es war nicht dasselbe, durch welches Florio
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vorhin eingetreten. Verwundert sah er sich in der unbekannten Gegend um;
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weit über die Felder weg lagen die Türme der Stadt im heiteren
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Sonnenglanze. Am Gitter stand Donatis Pferd angebunden und scharrte
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schnaubend den Boden.
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Schüchtern äußerte nun Florio den Wunsch, die schöne Herrin des
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Gartens künftig einmal wiederzusehen. Donati, der bis dahin noch immer in
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sich versunken war, schien sich erst hier plötzlich zu besinnen. «Die
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Dame», sagte er mit der gewohnten umsichtigen Höflichkeit, «wird sich
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freuen, Euch kennenzulernen. Heute jedoch würden wir sie stören, und
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auch mich rufen dringende Geschäfte nach Hause. Vielleicht kann ich Euch
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morgen abholen.» Und hierauf nahm er in wohlgesetzten Reden Abschied
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von dem Jüngling, bestieg sein Roß und war bald zwischen den Hügeln
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verschwunden.
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Florio sah ihm lange nach, dann eilte er wie ein Trunkener der Stadt zu.
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Dort hielt die Schwüle noch alle lebendigen Wesen in den Häusern, hinter
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den dunkelkühlen Jalousien. Alle Gassen und Plätze waren leer, Fortunato
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auch noch nicht zurückgekehrt. Dem Glücklichen wurde es hier zu enge in
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trauriger Einsamkeit. Er bestieg schnell sein Pferd und ritt noch einmal ins
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Freie hinaus.
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«Morgen, morgen!» schallte es in einem fort durch seine Seele. Ihm war
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es unbeschreiblich wohl. Das schöne Marmorbild war ja lebend geworden
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und von seinem Steine in den Frühling hinuntergestiegen, der stille Weiher
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plötzlich verwandelt zur unermeßlichen Landschaft, die Sterne darin zu
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Blumen und der ganze Frühling ein Bild der Schönen. – Und so
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durchschweifte er lange die schönen Täler um Lucca, den prächtigen
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Landhäusern, Kaskaden und Grotten wechselnd vorüber, bis die Wellen
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des Abendrotes über dem Fröhlichen zusammenschlugen.
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Die Sterne standen schon klar am Himmel, als er langsam durch die
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stillen Gassen nach seiner Herberge zog. Auf einem der einsamen Plätze
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stand ein großes, schönes Haus, vom Monde hell erleuchtet. Ein Fenster
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war oben geöffnet, an dem er zwischen künstlich gezogenen Blumen
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hindurch zwei weibliche Gestalten bemerkte, die in ein lebhaftes Gespräch
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vertieft schienen. Mit Verwunderung hörte er mehreremal deutlich seinen
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Namen nennen. Auch glaubte er in den einzelnen abgerissenen Worten,
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welche die Luft herüberwehte, die Stimme der wunderbaren Sängerin
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wieder zu erkennen. Doch konnte er vor den im Mondesglanze zitternden
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Blättern und Blüten nichts genau unterscheiden. Er hielt an, um mehr zu
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vernehmen. Da bemerkten ihn die beiden Damen, und es wurde auf einmal
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still droben.
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Unbefriedigt ritt Florio weiter, aber wie er soeben um die Straßenecke
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bog, sah er, daß sich die eine von den Damen, noch einmal ihm
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nachblickend, zwischen den Blumen hinauslehnte und dann schnell das
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Fenster schloß.

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