Zehntes Kapitel
2
Ende
3
4
Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages – es war gegen
5
neun Uhr abends, die Zeit der Stille auf den Straßen – kamen zwei Herren in
6
K.s Wohnung. In Gehröcken, bleich und fett, mit scheinbar unverrückbaren
7
Zylinderhüten. Nach einer kleinen Förmlichkeit bei der Wohnungstür wegen
8
des ersten Eintretens wiederholte sich die gleiche Förmlichkeit in größerem
9
Umfange vor K.s Tür. Ohne daß ihm der Besuch angekündigt gewesen
10
wäre, saß K., gleichfalls schwarz angezogen, in einem Sessel in der Nähe
11
der Türe und zog langsam neue, scharf sich über die Finger spannende
12
Handschuhe an, in der Haltung, wie man Gäste erwartet. Er stand gleich auf
13
und sah die Herren neugierig an. »Sie sind also für mich bestimmt?« fragte
14
er. Die Herren nickten, einer zeigte mit dem Zylinderhut in der Hand auf den
15
anderen. K. gestand sich ein, daß er einen anderen Besuch erwartet hatte.
16
Er ging zum Fenster und sah noch einmal auf die dunkle Straße. Auch fast
17
alle Fenster auf der anderen Straßenseite waren schon dunkel, in vielen die
18
Vorhänge herabgelassen. In einem beleuchteten Fenster des Stockwerkes
19
spielten kleine Kinder hinter einem Gitter miteinander und tasteten, noch
20
unfähig, sich von ihren Plätzen fortzubewegen, mit den Händchen
21
nacheinander. »Alte, untergeordnete Schauspieler schickt man um mich«,
22
sagte sich K. und sah sich um, um sich nochmals davon zu überzeugen.
23
»Man sucht auf billige Weise mit mir fertig zu werden.« K. wendete sich
24
plötzlich ihnen zu und fragte: »An welchem Theater spielen Sie?«
25
»Theater?« fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den anderen
26
um Rat. Der andere gebärdete sich wie ein Stummer, der mit dem
27
widerspenstigsten Organismus kämpft. »Sie sind nicht darauf vorbereitet,
28
gefragt zu werden«, sagte sich K. und ging seinen Hut holen.
29
Schon auf der Treppe wollten; sich die Herren in K. einhängen, aber K.
30
sagte: »Erst auf der Gasse, ich bin nicht krank.« Gleich aber vor dem Tor
31
hängten sie sich in ihn in einer Weise ein, wie K. noch niemals mit einem
32
Menschen gegangen war. Sie hielten die Schultern eng hinter den seinen,
33
knickten die Arme nicht ein, sondern benützten sie, um K.s Arme in ihrer
34
ganzen Länge zu umschlingen, unten faßten sie K.s Hände mit einem
35
schulmäßig eingeübten, unwiderstehlichen Griff. K. ging straff gestreckt
36
zwischen ihnen, sie bildeten jetzt alle drei eine solche Einheit, daß, wenn
37
man einen von ihnen zerschlagen hätte, alle zerschlagen gewesen wären.
38
Es war eine Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann.
39
Unter den Laternen versuchte K. öfters, so schwer es bei diesem engen
40
Aneinander ausgeführt werden konnte, seine Begleiter deutlicher zu sehen,
41
als es in der Dämmerung seines Zimmers möglich gewesen war. »Vielleicht
42
sind es Tenöre«, dachte er im Anblick ihres schweren Doppelkinns. Er
43
ekelte sich vor der Reinlichkeit ihrer Gesichter. Man sah förmlich noch die
44
säubernde Hand, die in ihre Augenwinkel gefahren, die ihre Oberlippe
45
gerieben, die die Falten am Kinn ausgekratzt hatte.
46
Als K. das bemerkte, blieb er stehen, infolgedessen blieben auch die
47
andern stehen; sie waren am Rand eines freien, menschenleeren, mit
48
Anlagen geschmückten Platzes. »Warum hat man gerade Sie geschickt!«
49
rief er mehr, als er fragte. Die Herren wußten scheinbar keine Antwort, sie
50
warteten mit dem hängenden, freien Arm, wie Krankenwärter, wenn der
51
Kranke sich ausruhen will. »Ich gehe nicht weiter«, sagte K. versuchsweise.
52
Darauf brauchten die Herren nicht zu antworten, es genügte, daß sie den
53
Griff nicht lockerten und K. von der Stelle wegzuheben versuchten, aber K.
54
widerstand. »Ich werde nicht mehr viel Kraft brauchen, ich werde jetzt alle
55
anwenden«, dachte er. Ihm fielen die Fliegen ein, die mit zerreißenden
56
Beinchen von der Leimrute wegstrebten. »Die Herren werden schwere
57
Arbeit haben.«
58
Da stieg vor ihnen aus einer tiefer gelegenen Gasse auf einer kleinen
59
Treppe Fräulein Bürstner zum Platz empor. Es war nicht ganz sicher, ob sie
60
es war, die Ähnlichkeit war freilich groß. Aber K. lag auch nichts daran, ob
61
es bestimmt Fräulein Bürstner war, bloß die Wertlosigkeit seines
62
Widerstandes kam ihm gleich zum Bewußtsein. Es war nichts Heldenhaftes,
63
wenn er widerstand, wenn er jetzt den Herren Schwierigkeiten bereitete,
64
wenn er jetzt in der Abwehr noch den letzten Schein des Lebens zu
65
genießen versuchte. Er setzte sich in Gang, und von der Freude, die er
66
dadurch den Herren machte, ging noch etwas auf ihn selbst über. Sie
67
duldeten es jetzt, daß er die Wegrichtung bestimmte, und er bestimmte sie
68
nach dem Weg, den das Fräulein vor ihnen nahm, nicht etwa, weil er sie
69
einholen, nicht etwa, weil er sie möglichst lange sehen wollte, sondern nur
70
deshalb, um die Mahnung, die sie für ihn bedeutete, nicht zu vergessen.
71
»Das einzige, was ich jetzt tun kann«, sagte er sich, und das Gleichmaß
72
seiner Schritte und der Schritte der beiden anderen bestätigte seine
73
Gedanken, »das einzige, was ich jetzt tun kann, ist, bis zum Ende den ruhig
74
einteilenden Verstand behalten. Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die
75
Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das
76
war unrichtig. Soll ich nun zeigen, daß nicht einmal der einjährige Prozeß
77
mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen?
78
Soll man mir nachsagen dürfen, daß ich am Anfang des Prozesses ihn
79
beenden wollte und jetzt, an seinem Ende, ihn wieder beginnen will? Ich
80
will nicht, daß man das sagt. Ich bin dafür dankbar, daß man mir auf diesem
81
Weg diese halbstummen, verständnislosen Herren mitgegeben hat und daß
82
man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen.«
83
Das Fräulein war inzwischen in eine Seitengasse eingebogen, aber K.
84
konnte sie schon entbehren und überließ sich seinen Begleitern. Alle drei
85
zogen nun in vollem Einverständnis über eine Brücke im Mondschein, jeder
86
kleinen Bewegung, die K. machte, gaben die Herren jetzt bereitwillig nach,
87
als er ein wenig zum Geländer sich wendete, drehten auch sie sich in
88
ganzer Front dorthin. Das im Mondlicht glänzende und zitternde Wasser
89
teilte sich um eine kleine Insel, auf der, wie zusammengedrängt,
90
Laubmassen von Bäumen und Sträuchern sich aufhäuften. Unter ihnen,
91
jetzt unsichtbar, führten Kieswege mit bequemen Bänken, auf denen K. in
92
manchem Sommer sich gestreckt und gedehnt hatte. »Ich wollte ja gar
93
nicht stehenbleiben«, sagte er zu seinen Begleitern, beschämt durch ihre
94
Bereitwilligkeit. Der eine schien dem anderen hinter K.s Rücken einen
95
sanften Vorwurf wegen des mißverständlichen Stehenbleibens zu machen,
96
dann gingen sie weiter.
97
Sie kamen durch einige ansteigende Gassen, in denen hie und da
98
Polizisten standen oder gingen; bald in der Ferne, bald in nächster Nähe.
99
Einer mit buschigem Schnurrbart, die Hand am Griff des Säbels, trat wie mit
100
Absicht nahe an die nicht ganz unverdächtige Gruppe. Die Herren stockten,
101
der Polizeimann schien schon den Mund zu öffnen, da zog K. mit Macht die
102
Herren vorwärts. Öfters drehte er sich vorsichtig um, ob der Polizeimann
103
nicht folge; als sie aber eine Ecke zwischen sich und dem Polizeimann
104
hatten, fing K. zu laufen an, die Herren mußten trotz großer Atemnot auch
105
mit laufen.
106
So kamen sie rasch aus der Stadt hinaus, die sich in dieser Richtung fast
107
ohne Übergang an die Felder anschloß. Ein kleiner Steinbruch, verlassen
108
und öde, lag in der Nähe eines noch ganz städtischen Hauses. Hier
109
machten die Herren halt, sei es, daß dieser Ort von allem Anfang an ihr Ziel
110
gewesen war, sei es, daß sie zu erschöpft waren, um noch weiter zu laufen.
111
Jetzt ließen sie K. los, der stumm wartete, nahmen die Zylinderhüte ab und
112
wischten sich, während sie sich im Steinbruch umsahen, mit den
113
Taschentüchern den Schweiß von der Stirn. Überall lag der Mondschein mit
114
seiner Natürlichkeit und Ruhe, die keinem anderen Licht gegeben ist.
115
Nach Austausch einiger Höflichkeiten hinsichtlich dessen, wer die
116
nächsten Aufgaben auszuführen habe – die Herren schienen die Aufträge
117
ungeteilt bekommen zu haben -, ging der eine zu K. und zog ihm den Rock,
118
die Weste und schließlich das Hemd aus. K. fröstelte unwillkürlich, worauf
119
ihm der Herr einen leichten, beruhigenden Schlag auf den Rücken gab.
120
Dann legte er die Sachen sorgfältig zusammen, wie Dinge, die man noch
121
gebrauchen wird, wenn auch nicht in allernächster Zeit. Um K. nicht ohne
122
Bewegung der immerhin kühlen Nachtluft auszusetzen, nahm er ihn unter
123
den Arm und ging mit ihm ein wenig auf und ab, während der andere Herr
124
den Steinbruch nach irgendeiner passenden Stelle absuchte. Als er sie
125
gefunden hatte, winkte er, und der andere Herr geleitete K. hin. Es war nahe
126
der Bruchwand, es lag dort ein losgebrochener Stein. Die Herren setzten K.
127
auf die Erde nieder, lehnten ihn an den Stein und betteten seinen Kopf
128
obenauf. Trotz aller Anstrengung, die sie sich gaben, und trotz allem
129
Entgegenkommen, das ihnen K. bewies, blieb seine Haltung eine sehr
130
gezwungene und unglaubwürdige. Der eine Herr bat daher den anderen,
131
ihm für ein Weilchen das Hinlegen K.s allein zu überlassen, aber auch
132
dadurch wurde es nicht besser. Schließlich ließen sie K. in einer Lage, die
133
nicht einmal die beste von den bereits erreichten Lagen war. Dann öffnete
134
der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die an einem
135
um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes, dünnes, beiderseitig
136
geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Licht.
137
Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K.
138
hinweg das Messer dem anderen, dieser reichte es wieder über K. zurück.
139
K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es
140
von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich
141
einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und
142
sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den
143
Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für diesen letzten Fehler trug
144
der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte. Seine Blicke
145
fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden
146
Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters
147
dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe,
148
beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter
149
aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm?
150
Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch
151
Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche.
152
Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will,
153
widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war
154
das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und
155
spreizte alle Finger.
156
Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der
157
andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit
158
brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht,
159
Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie
160
ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.