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Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

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Verhaftung – Gespräch mit Frau Grubach – Dann Fräulein Bürstner
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Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas
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Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau
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Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh
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das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals
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geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus
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die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz
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ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet
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und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser
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Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war schlank und doch
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fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das, ähnlich den
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Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und
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einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne daß man sich darüber
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klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. »Wer sind
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Sie?« fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging
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über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen, und
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sagte bloß seinerseits: »Sie haben geläutet?« »Anna soll mir das Frühstück
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bringen«, sagte K. und versuchte, zunächst stillschweigend, durch
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Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich
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war. Aber dieser setzte sich nicht allzulange seinen Blicken aus, sondern
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wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der offenbar
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knapp hinter der Tür stand, zu sagen: »Er will, daß Anna ihm das Frühstück
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bringt.« Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem
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Klang nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren.
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Obwohl der fremde Mann dadurch nichts erfahren haben konnte, was er
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nicht schon früher gewußt hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einer
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Meldung: »Es ist unmöglich.« »Das wäre neu«, sagte K., sprang aus dem
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Bett und zog rasch seine Hosen an. »Ich will doch sehen, was für Leute im
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Nebenzimmer sind und wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber
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verantworten wird.« Es fiel ihm zwar gleich ein, daß er das nicht hätte laut
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sagen müssen und daß er dadurch gewissermaßen ein
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Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber es schien ihm jetzt
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nicht wichtig. Immerhin faßte es der Fremde so auf, denn er sagte: »Wollen
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Sie nicht lieber hierbleiben?« »Ich will weder hierbleiben, noch von Ihnen
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angesprochen werden, solange Sie sich mir nicht vorstellen.« »Es war gut
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gemeint«, sagte der Fremde und öffnete nun freiwillig die Tür. Im
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Nebenzimmer, in das K. langsamer eintrat, als er wollte, sah es auf den
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ersten Blick fast genau so aus wie am Abend vorher. Es war das
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Wohnzimmer der Frau Grubach, vielleicht war in diesem mit Möbeln,
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Decken, Porzellan und Photographien überfüllten Zimmer heute ein wenig
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mehr Raum als sonst, man erkannte das nicht gleich, um so weniger, als
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die Hauptveränderung in der Anwesenheit eines Mannes bestand, der beim
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offenen Fenster mit einem Buch saß, von dem er jetzt aufblickte. »Sie
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hätten in Ihrem Zimmer bleiben sollen! Hat es Ihnen denn Franz nicht
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gesagt?« »Ja, was wollen Sie denn?« sagte K. und sah von der neuen
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Bekanntschaft zu dem mit Franz Benannten, der in der Tür stehengeblieben
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war, und dann wieder zurück. Durch das offene Fenster erblickte man
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wieder die alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu dem jetzt
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gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auch weiterhin alles zu
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sehen. »Ich will doch Frau Grubach –«, sagte K., machte eine Bewegung,
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als reiße er sich von den zwei Männern los, die aber weit von ihm entfernt
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standen, und wollte weitergehen. »Nein«, sagte der Mann beim Fenster,
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warf das Buch auf ein Tischchen und stand auf. »Sie dürfen nicht
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weggehen, Sie sind ja verhaftet.« »Es sieht so aus«, sagte K. »Und warum
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denn?« fragte er dann. »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen.
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Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal
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eingeleitet, und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe über
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meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber
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ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz, und der ist selbst gegen alle
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Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück
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haben wie bei der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie
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zuversichtlich sein.« K. wollte sich setzen, aber nun sah er, daß im ganzen
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Zimmer keine Sitzgelegenheit war, außer dem Sessel beim Fenster. »Sie
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werden noch einsehen, wie wahr das alles ist«, sagte Franz und ging
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gleichzeitig mit dem andern Mann auf ihn zu. Besonders der letztere
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überragte K. bedeutend und klopfte ihm öfters auf die Schulter. Beide
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prüften K.s Nachthemd und sagten, daß er jetzt ein viel schlechteres Hemd
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werde anziehen müssen, daß sie aber dieses Hemd wie auch seine übrige
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Wäsche aufbewahren und, wenn seine Sache günstig ausfallen sollte, ihm
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wieder zurückgeben würden. »Es ist besser, Sie geben die Sachen uns als
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ins Depot«, sagten sie, »denn im Depot kommen öfters Unterschleife vor
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und außerdem verkauft man dort alle Sachen nach einer gewissen Zeit,
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ohne Rücksicht, ob das betreffende Verfahren zu Ende ist oder nicht. Und
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wie lange dauern doch derartige Prozesse, besonders in letzter Zeit! Sie
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bekämen dann schließlich allerdings vom Depot den Erlös, aber dieser
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Erlös ist erstens an sich schon gering, denn beim Verkauf entscheidet nicht
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die Höhe des Angebotes, sondern die Höhe der Bestechung, und weiter
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verringern sich solche Erlöse erfahrungsgemäß, wenn sie von Hand zu
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Hand und von Jahr zu Jahr weitergegeben werden.« K. achtete auf diese
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Reden kaum, das Verfügungsrecht über seine Sachen, das er vielleicht
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noch besaß, schätzte er nicht hoch ein, viel wichtiger war es ihm, Klarheit
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über seine Lage zu bekommen; in Gegenwart dieser Leute konnte er aber
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nicht einmal nachdenken, immer wieder stieß der Bauch des zweiten
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Wächters – es konnten ja nur Wächter sein – förmlich freundschaftlich an
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ihn, sah er aber auf, dann erblickte er ein zu diesem dicken Körper gar nicht
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passendes trockenes, knochiges Gesicht mit starker, seitlich gedrehter
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Nase, das sich über ihn hinweg mit dem anderen Wächter verständigte.
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Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher
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Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall
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herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner
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Wohnung zu überfallen? Er neigte stets dazu, alles möglichst leicht zu
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nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben,
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keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte. Hier
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schien ihm das aber nicht richtig, man konnte zwar das Ganze als Spaß
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ansehen, als einen groben Spaß, den ihm aus unbekannten Gründen,
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vielleicht weil heute sein dreißigster Geburtstag war, die Kollegen in der
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Bank veranstaltet hatten, es war natürlich möglich, vielleicht brauchte er
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nur auf irgendeine Weise den Wächtern ins Gesicht zu lachen, und sie
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würden mitlachen, vielleicht waren es Dienstmänner von der Straßenecke,
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sie sahen ihnen nicht unähnlich – trotzdem war er diesmal, förmlich schon
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seit dem ersten Anblick des Wächters Franz, entschlossen, nicht den
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geringsten Vorteil, den er vielleicht gegenüber diesen Leuten besaß, aus
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der Hand zu geben. Darin, daß man später sagen würde, er habe keinen
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Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Gefahr, wohl aber erinnerte er
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sich – ohne daß es sonst seine Gewohnheit gewesen wäre, aus
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Erfahrungen zu lernen – an einige, an sich unbedeutende Fälle, in denen er
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zum Unterschied von seinen Freunden mit Bewußtsein, ohne das geringste
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Gefühl für die möglichen Folgen, sich unvorsichtig benommen hatte und
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dafür durch das Ergebnis gestraft worden war. Es sollte nicht wieder
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geschehen, zumindest nicht diesmal; war es eine Komödie, so wollte er
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mitspielen.
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Noch war er frei. »Erlauben Sie«, sagte er und ging eilig zwischen den
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Wächtern durch in sein Zimmer. »Er scheint vernünftig zu sein«, hörte er
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hinter sich sagen. In seinem Zimmer riß er gleich die Schubladen des
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Schreibtischs auf, es lag dort alles in großer Ordnung, aber gerade die
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Legitimationspapiere, die er suchte, konnte er in der Aufregung nicht gleich
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finden. Schließlich fand er seine Radfahrlegitimation und wollte schon mit
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ihr zu den Wächtern gehen, dann aber schien ihm das Papier zu
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geringfügig und er suchte weiter, bis er den Geburtsschein fand. Als er
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wieder in das Nebenzimmer zurückkam, öffnete sich gerade die
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gegenüberliegende Tür und Frau Grubach wollte dort eintreten. Man sah sie
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nur einen Augenblick, denn kaum hatte sie K. erkannt, als sie offenbar
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verlegen wurde, um Verzeihung bat, verschwand und äußerst vorsichtig die
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Tür schloß. »Kommen Sie doch herein«, hatte K. gerade noch sagen
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können. Nun aber stand er mit seinen Papieren in der Mitte des Zimmers,
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sah noch auf die Tür hin, die sich nicht wieder öffnete, und wurde erst
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durch einen Anruf der Wächter aufgeschreckt, die bei dem Tischchen am
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offenen Fenster saßen und, wie K. jetzt erkannte, sein Frühstück
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verzehrten. »Warum ist sie nicht eingetreten?« fragte er. »Sie darf nicht«,
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sagte der große Wächter. »Sie sind doch verhaftet.« »Wie kann ich denn
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verhaftet sein? Und gar auf diese Weise?« »Nun fangen Sie also wieder
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an«, sagte der Wächter und tauchte ein Butterbrot ins Honigfäßchen.
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»Solche Fragen beantworten wir nicht.« »Sie werden sie beantworten
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müssen«, sagte K. »Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie mir
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jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.« »Du lieber Himmel!«
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sagte der Wächter. »Daß Sie sich in Ihre Lage nicht fügen können und daß
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Sie es darauf angelegt zu haben scheinen, uns, die wir Ihnen jetzt
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wahrscheinlich von allen Ihren Mitmenschen am nächsten stehen, nutzlos
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zu reizen!« »Es ist so, glauben Sie es doch«, sagte Franz, führte die
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Kaffeetasse, die er in der Hand hielt, nicht zum Mund, sondern sah K. mit
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einem langen, wahrscheinlich bedeutungsvollen, aber unverständlichen
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Blick an. K. ließ sich, ohne es zu wollen, in ein Zwiegespräch der Blicke mit
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Franz ein, schlug dann aber doch auf seine Papiere und sagte: »Hier sind
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meine Legitimationspapiere.« »Was kümmern uns denn die?« rief nun
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schon der große Wächter. »Sie führen sich ärger auf als ein Kind. Was
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wollen Sie denn? Wollen Sie Ihren großen, verfluchten Prozeß dadurch zu
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einem raschen Ende bringen, daß Sie mit uns, den Wächtern, über
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Legitimation und Verhaftbefehl diskutieren? Wir sind niedrige Angestellte,
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die sich in einem Legitimationspapier kaum auskennen und die mit Ihrer
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Sache nichts anderes zu tun haben, als daß sie zehn Stunden täglich bei
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Ihnen Wache halten und dafür bezahlt werden. Das ist alles, was wir sind,
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trotzdem aber sind wir fähig, einzusehen, daß die hohen Behörden, in deren
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Dienst wir stehen, ehe sie eine solche Verhaftung verfügen, sich sehr
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genau über die Gründe der Verhaftung und die Person des Verhafteten
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unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum. Unsere Behörde, soweit ich sie
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kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die
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Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der
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Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo
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gäbe es da einen Irrtum?« »Dieses Gesetz kenne ich nicht«, sagte K.
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»Desto schlimmer für Sie«, sagte der Wächter. »Es besteht wohl auch nur
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in Ihren Köpfen«, sagte K., er wollte sich irgendwie in die Gedanken der
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Wächter einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich dort
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einbürgern. Aber der Wächter sagte nur abweisend: »Sie werden es zu
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fühlen bekommen.« Franz mischte sich ein und sagte: »Sieh, Willem, er gibt
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zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu
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sein.« »Du hast ganz recht, aber ihm kann man nichts begreiflich machen«,
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sagte der andere. K. antwortete nichts mehr; muß ich, dachte er, durch das
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Geschwätz dieser niedrigsten Organe – sie geben selbst zu, es zu sein –
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mich noch mehr verwirren lassen? Sie reden doch jedenfalls von Dingen,
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die sie gar nicht verstehen. Ihre Sicherheit ist nur durch ihre Dummheit
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möglich. Ein paar Worte, die ich mit einem mir ebenbürtigen Menschen
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sprechen werde, werden alles unvergleichlich klarer machen als die
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längsten Reden mit diesen. Er ging einige Male in dem freien Raum des
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Zimmers auf und ab, drüben sah er die alte Frau, die einen noch viel älteren
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Greis zum Fenster gezerrt hatte, den sie umschlungen hielt. K. mußte
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dieser Schaustellung ein Ende machen: »Führen Sie mich zu Ihrem
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Vorgesetzten«, sagte er. »Wenn er es wünscht; nicht früher«, sagte der
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Wächter, der Willem genannt worden war. »Und nun rate ich Ihnen«, fügte
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er hinzu, »in Ihr Zimmer zu gehen, sich ruhig zu verhalten und darauf zu
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warten, was über Sie verfügt werden wird. Wir raten Ihnen, zerstreuen Sie
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sich nicht durch nutzlose Gedanken, sondern sammeln Sie sich, es werden
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große Anforderungen an Sie gestellt werden. Sie haben uns nicht so
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behandelt, wie es unser Entgegenkommen verdient hätte, Sie haben
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vergessen, daß wir, mögen wir auch sein was immer, zumindest jetzt Ihnen
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gegenüber freie Männer sind, das ist kein kleines Übergewicht. Trotzdem
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sind wir bereit, falls Sie Geld haben, Ihnen ein kleines Frühstück aus dem
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Kaffeehaus drüben zu bringen.«
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Ohne auf dieses Angebot zu antworten, stand K. ein Weilchen lang still.
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Vielleicht würden ihn die beiden, wenn er die Tür des folgenden Zimmers
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oder gar die Tür des Vorzimmers öffnete, gar nicht zu hindern wagen,
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vielleicht wäre es die einfachste Lösung des Ganzen, daß er es auf die
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Spitze trieb. Aber vielleicht würden sie ihn doch packen und, war er einmal
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niedergeworfen, so war auch alle Überlegenheit verloren, die er jetzt ihnen
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gegenüber in gewisser Hinsicht doch wahrte. Deshalb zog er die Sicherheit
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der Lösung vor, wie sie der natürliche Verlauf bringen mußte, und ging in
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sein Zimmer zurück, ohne daß von seiner Seite oder von Seite der Wächter
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ein weiteres Wort gefallen wäre.
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Er warf sich auf sein Bett und nahm vom Waschtisch einen schönen Apfel,
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den er sich gestern abend für das Frühstück vorbereitet hatte. Jetzt war er
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sein einziges Frühstück und jedenfalls, wie er sich beim ersten großen
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Bissen versicherte, viel besser, als das Frühstück aus dem schmutzigen
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Nachtcafé gewesen wäre, das er durch die Gnade der Wächter hätte
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bekommen können. Er fühlte sich wohl und zuversichtlich, in der Bank
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versäumte er zwar heute vormittag seinen Dienst, aber das war bei der
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verhältnismäßig hohen Stellung, die er dort einnahm, leicht entschuldigt.
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Sollte er die wirkliche Entschuldigung anführen? Er gedachte es zu tun,
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Würde man ihm nicht glauben, was in diesem Fall begreiflich war, so
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konnte er Frau Grubach als Zeugin führen oder auch die beiden Alten von
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drüben, die wohl jetzt auf dem Marsch zum gegenüberliegenden Fenster
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waren. Es wunderte K., wenigstens aus dem Gedankengang der Wächter
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wunderte es ihn, daß sie ihn in das Zimmer getrieben und ihn hier allein
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gelassen hatten, wo er doch zehnfache Möglichkeit hatte, sich
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umzubringen. Gleichzeitig allerdings fragte er sich, diesmal aus seinem
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Gedankengang, was für einen Grund er haben könnte, es zu tun. Etwa weil
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die zwei nebenan saßen und sein Frühstück abgefangen hatten? Es wäre
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so sinnlos gewesen, sich umzubringen, daß er, selbst wenn er es hätte tun
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wollen, infolge der Sinnlosigkeit dazu nicht imstande gewesen wäre. Wäre
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die geistige Beschränktheit der Wächter nicht so auffallend gewesen, so
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hätte man annehmen können, daß auch sie, infolge der gleichen
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Überzeugung, keine Gefahr darin gesehen hätten, ihn allein zu lassen. Sie
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mochten jetzt, wenn sie wollten, zusehen, wie er zu einem
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Wandschränkchen ging, in dem er einen guten Schnaps aufbewahrte, wie
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er ein Gläschen zuerst zum Ersatz des Frühstücks leerte und wie er ein
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zweites Gläschen dazu bestimmte, sich Mut zu machen, das letztere nur
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aus Vorsicht für den unwahrscheinlichen Fall, daß es nötig sein sollte.
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Da erschreckte ihn ein Zuruf aus dem Nebenzimmer derartig, daß er mit den
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Zähnen ans Glas schlug. »Der Aufseher ruft Sie!« hieß es. Es war nur das
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Schreien, das ihn erschreckte, dieses kurze, abgehackte, militärische
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Schreien, das er dem Wächter Franz gar nicht zugetraut hätte. Der Befehl
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selbst war ihm sehr willkommen. »Endlich!« rief er zurück, versperrte den
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Wandschrank und eilte sofort ins Nebenzimmer. Dort standen die zwei
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Wächter und jagten ihn, als wäre das selbstverständlich, wieder in sein
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Zimmer zurück. »Was fällt Euch ein?« riefen sie. »Im Hemd wollt Ihr vor den
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Aufseher? Er läßt Euch durchprügeln und uns mit!« »Laßt mich, zum
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Teufel!« rief K., der schon bis zu seinem Kleiderkasten zurückgedrängt war,
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»wenn man mich im Bett überfällt, kann man nicht erwarten, mich im
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Festanzug zu finden.« »Es hilft nichts«, sagten die Wächter, die immer,
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wenn K. schrie, ganz ruhig, ja fast traurig wurden und ihn dadurch
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verwirrten oder gewissermaßen zur Besinnung brachten. »Lächerliche
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Zeremonien!« brummte er noch, hob aber schon einen Rock vom Stuhl und
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hielt ihn ein Weilchen mit beiden Händen, als unterbreite er ihn dem Urteil
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der Wächter. Sie schüttelten die Köpfe. »Es muß ein schwarzer Rock sein«,
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sagten sie. K. warf daraufhin den Rock zu Boden und sagte – er wußte
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selbst nicht, in welchem Sinne er es sagte –: »Es ist doch noch nicht die
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Hauptverhandlung.« Die Wächter lächelten, blieben aber bei ihrem: »Es
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muß ein schwarzer Rock sein.« »Wenn ich dadurch die Sache
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beschleunige, soll es mir recht sein«, sagte K., öffnete selbst den
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Kleiderkasten, suchte lange unter den vielen Kleidern, wählte sein bestes
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schwarzes Kleid, ein Jackettkleid, das durch seine Taille unter den
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Bekannten fast Aufsehen gemacht hatte, zog nun auch ein anderes Hemd
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hervor und begann, sich sorgfältig anzuziehen. Im geheimen glaubte er,
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eine Beschleunigung des Ganzen damit erreicht zu haben, daß die Wächter
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vergessen hatten, ihn zum Bad zu zwingen. Er beobachtete sie, ob sie sich
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vielleicht daran doch erinnern würden, aber das fiel ihnen natürlich gar
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nicht ein, dagegen vergaß Willem nicht, Franz mit der Meldung, daß sich K.
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anziehe, zum Aufseher zu schicken.
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Als er vollständig angezogen war, mußte er knapp vor Willem durch das
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leere Nebenzimmer in das folgende Zimmer gehen, dessen Tür mit beiden
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Flügeln bereits geöffnet war. Dieses Zimmer wurde, wie K. genau wußte,
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seit kurzer Zeit von einem Fräulein Bürstner, einer Schreibmaschinistin,
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bewohnt, die sehr früh in die Arbeit zu gehen pflegte, spät nach Hause kam
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und mit der K. nicht viel mehr als die Grußworte gewechselt hatte. Jetzt war
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das Nachttischchen von ihrem Bett als Verhandlungstisch in die Mitte des
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Zimmers gerückt, und der Aufseher saß hinter ihm. Er hatte die Beine
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übereinandergeschlagen und einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhles
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gelegt.
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In einer Ecke des Zimmers standen drei junge Leute und sahen die
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Photographien des Fräulein Bürstner an, die in einer an der Wand
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aufgehängten Matte steckten. An der Klinke des offenen Fensters hing eine
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weiße Bluse. Im gegenüberliegenden Fenster lagen wieder die zwei Alten,
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doch hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn hinter ihnen, sie weit
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überragend, stand ein Mann mit einem auf der Brust offenen Hemd, der
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seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte und drehte. »Josef K.?«
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fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.s zerstreute Blicke auf sich zu
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lenken. K. nickte. »Sie sind durch die Vorgänge des heutigen Morgens wohl
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sehr überrascht?« fragte der Aufseher und verschob dabei mit beiden
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Händen die wenigen Gegenstände, die auf dem Nachttischchen lagen, die
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Kerze mit Zündhölzchen, ein Buch und ein Nadelkissen, als seien es
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Gegenstände, die er zur Verhandlung benötige. »Gewiß«, sagte K., und das
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Wohlgefühl, endlich einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehen und
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über seine Angelegenheit mit ihm sprechen zu können, ergriff ihn. »Gewiß,
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ich bin überrascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht.« »Nicht sehr
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überrascht?« fragte der Aufseher und stellte nun die Kerze in die Mitte des
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Tischchens, während er die anderen Sachen um sie gruppierte. »Sie
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mißverstehen mich vielleicht«, beeilte sich K. zu bemerken. »Ich meine« –
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hier unterbrach sich K. und sah sich nach einem Sessel um. »Ich kann mich
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doch setzen?« fragte er. »Es ist nicht üblich«, antwortete der Aufseher. »Ich
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meine«, sagte nun K. ohne weitere Pause, »ich bin allerdings sehr
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überrascht, aber man ist, wenn man dreißig Jahre auf der Welt ist und sich
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allein hat durchschlagen müssen, wie es mir beschieden war, gegen
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Überraschungen abgehärtet und nimmt sie nicht zu schwer. Besonders die
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heutige nicht.« »Warum besonders die heutige nicht?« »Ich will nicht
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sagen, daß ich das Ganze für einen Spaß ansehe, dafür scheinen mir die
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Veranstaltungen, die gemacht wurden, doch zu umfangreich. Es müßten
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alle Mitglieder der Pension daran beteiligt sein und auch Sie alle, das ginge
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über die Grenzen eines Spaßes. Ich will also nicht sagen, daß es ein Spaß
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ist.« »Ganz richtig«, sagte der Aufseher und sah nach, wieviel
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Zündhölzchen in der Zündhölzchenschachtel waren. »Andererseits aber«,
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fuhr K. fort und wandte sich hierbei an alle und hätte gern sogar die drei bei
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den Photographien sich zugewendet, »andererseits aber kann die Sache
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auch nicht viel Wichtigkeit haben. Ich folgere das daraus, daß ich angeklagt
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bin, aber nicht die geringste Schuld auffinden kann, wegen deren man mich
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anklagen könnte. Aber auch das ist nebensächlich, die Hauptfrage ist, von
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wem bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren? Sind Sie
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Beamte? Keiner hat eine Uniform, wenn man nicht Ihr Kleid« – hier wandte
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er sich an Franz – »eine Uniform nennen will, aber es ist doch eher ein
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Reiseanzug. In diesen Fragen verlange ich Klarheit, und ich bin überzeugt,
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daß wir nach dieser Klarstellung voneinander den herzlichsten Abschied
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werden nehmen können.« Der Aufseher schlug die Zündhölzchenschachtel
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auf den Tisch nieder. »Sie befinden sich in einem großen Irrtum«, sagte er.
313
»Diese Herren hier und ich sind für Ihre Angelegenheit vollständig
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nebensächlich, ja wir wissen sogar von ihr fast nichts. Wir könnten die
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regelrechtesten Uniformen tragen, und Ihre Sache würde um nichts
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schlechter stehen. Ich kann Ihnen auch durchaus nicht sagen, daß Sie
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angeklagt sind oder vielmehr, ich weiß nicht, ob Sie es sind. Sie sind
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verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht. Vielleicht haben die Wächter
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etwas anderes geschwätzt, dann ist es eben nur Geschwätz gewesen.
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Wenn ich nun aber auch Ihre Fragen nicht beantworte, so kann ich Ihnen
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doch raten, denken Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen
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geschehen wird, denken Sie lieber mehr an sich. Und machen Sie keinen
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solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld, es stört den nicht gerade
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schlechten Eindruck, den Sie im übrigen machen. Auch sollten Sie
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überhaupt im Reden zurückhaltender sein, fast alles, was Sie vorhin gesagt
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haben, hätte man auch, wenn Sie nur ein paar Worte gesagt hätten, Ihrem
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Verhalten entnehmen können, außerdem war es nichts für Sie übermäßig
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Günstiges.«
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K. starrte den Aufseher an. Schulmäßige Lehren bekam er hier von einem
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vielleicht jüngeren Menschen? Für seine Offenheit wurde er mit einer Rüge
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bestraft? Und über den Grund seiner Verhaftung und über deren
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Auftraggeber erfuhr er nichts? Er geriet in eine gewisse Aufregung, ging
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auf und ab, woran ihn niemand hinderte, schob seine Manschetten zurück,
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befühlte die Brust, strich sein Haar zurecht, kam an den drei Herren
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vorüber, sagte: »Es ist ja sinnlos«, worauf sich diese zu ihm umdrehten und
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ihn entgegenkommend, aber ernst ansahen und machte endlich wieder vor
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dem Tisch des Aufsehers halt. »Der Staatsanwalt Hasterer ist mein guter
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Freund«, sagte er, »kann ich ihm telephonieren?« »Gewiß«, sagte der
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Aufseher, »aber ich weiß nicht, welchen Sinn das haben sollte, es müßte
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denn sein, daß Sie irgendeine private Angelegenheit mit ihm zu besprechen
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haben.« »Welchen Sinn?« rief K., mehr bestürzt als geärgert. »Wer sind Sie
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denn? Sie wollen einen Sinn und führen dieses Sinnloseste auf, das es
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gibt? Ist es nicht zum Steinerweichen? Die Herren haben mich zuerst
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überfallen, und jetzt sitzen oder stehen sie hier herum und lassen mich vor
345
Ihnen die Hohe Schule reiten. Welchen Sinn es hätte, an einen Staatsanwalt
346
zu telephonieren, wenn ich angeblich verhaftet bin? Gut, ich werde nicht
347
telephonieren.« »Aber doch«, sagte der Aufseher und streckte die Hand
348
zum Vorzimmer aus, wo das Telephon war, »bitte, telephonieren Sie doch.«
349
»Nein, ich will nicht mehr«, sagte K. und ging zum Fenster. Drüben war
350
noch die Gesellschaft beim Fenster und schien nur jetzt dadurch, daß K.
351
ans Fenster herangetreten war, in der Ruhe des Zuschauens ein wenig
352
gestört. Die Alten wollten sich erheben, aber der Mann hinter ihnen
353
beruhigte sie. »Dort sind auch solche Zuschauer«, rief K. ganz laut dem
354
Aufseher zu und zeigte mit dem Zeigefinger hinaus. »Weg von dort«, rief er
355
dann hinüber. Die drei wichen auch sofort ein paar Schritte zurück, die
356
beiden Alten sogar noch hinter den Mann, der sie mit seinem breiten
357
Körper deckte und, nach seinen Mundbewegungen zu schließen, irgend
358
etwas auf die Entfernung hin Unverständliches sagte. Ganz aber
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verschwanden sie nicht, sondern schienen auf den Augenblick zu warten,
360
in dem sie sich unbemerkt wieder dem Fenster nähern könnten.
361
»Zudringliche, rücksichtslose Leute!« sagte K., als er sich ins Zimmer
362
zurückwendete. Der Aufseher stimmte ihm möglicherweise zu, wie K. mit
363
einem Seitenblick zu erkennen glaubte. Aber es war ebensogut möglich,
364
daß er gar nicht zugehört hatte, denn er hatte eine Hand fest auf den Tisch
365
gedrückt und schien die Finger ihrer Länge nach zu vergleichen. Die zwei
366
Wächter saßen auf einem mit einer Schmuckdecke verhüllten Koffer und
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rieben ihre Knie. Die drei jungen Leute hatten die Hände in die Hüften
368
gelegt und sahen ziellos herum. Es war still wie in irgendeinem
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vergessenen Büro. »Nun, meine Herren«, rief K., es schien ihm einen
370
Augenblick lang, als trage er alle auf seinen Schultern, »Ihrem Aussehen
371
nach zu schließen, dürfte meine Angelegenheit beendet sein. Ich bin der
372
Ansicht, daß es am besten ist, über die Berechtigung oder
373
Nichtberechtigung Ihres Vorgehens nicht mehr nachzudenken und der
374
Sache durch einen gegenseitigen Händedruck einen versöhnlichen
375
Abschluß zu geben. Wenn auch Sie meiner Ansicht sind, dann bitte –« und
376
er trat an den Tisch des Aufsehers hin und reichte ihm die Hand. Der
377
Aufseher hob die Augen, nagte an den Lippen und sah auf K.s
378
ausgestreckte Hand; noch immer glaubte K., der Aufseher werde
379
einschlagen. Dieser aber stand auf, nahm einen harten, runden Hut, der auf
380
Fräulein Bürstners Bett lag, und setzte sich ihn vorsichtig mit beiden
381
Händen auf, wie man es bei der Anprobe neuer Hüte tut. »Wie einfach Ihnen
382
alles scheint!« sagte er dabei zu K., »wir sollten der Sache einen
383
versöhnlichen Abschluß geben, meinten Sie? Nein, nein, das geht wirklich
384
nicht. Womit ich andererseits durchaus nicht sagen will, daß Sie
385
verzweifeln sollen. Nein, warum denn? Sie sind nur verhaftet, nichts weiter.
386
Das hatte ich Ihnen mitzuteilen, habe es getan und habe auch gesehen, wie
387
Sie es aufgenommen haben. Damit ist es für heute genug und wir können
388
uns verabschieden, allerdings nur vorläufig. Sie werden wohl jetzt in die
389
Bank gehen wollen?« »In die Bank?« fragte K., »ich dachte, ich wäre
390
verhaftet.« K. fragte mit einem gewissen Trotz, denn obwohl sein
391
Handschlag nicht angenommen worden war, fühlte er sich, insbesondere
392
seitdem der Aufseher aufgestanden war., immer unabhängiger von allen
393
diesen Leuten. Er spielte mit ihnen. Er hatte die Absicht, falls sie weggehen
394
sollten, bis zum Haustor nachzulaufen und ihnen seine Verhaftung
395
anzubieten. Darum wiederholte er auch: »Wie kann ich denn in die Bank
396
gehen, da ich verhaftet bin?« »Ach so«, sagte der Aufseher, der schon bei
397
der Tür war, »Sie haben mich mißverstanden. Sie sind verhaftet, gewiß,
398
aber das soll Sie nicht hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in
399
Ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein.« »Dann ist das
400
Verhaftetsein nicht sehr schlimm«, sagte K. und ging nahe an den Aufseher
401
heran. »Ich meinte es niemals anders«, sagte dieser. »Es scheint aber dann
402
nicht einmal die Mitteilung der Verhaftung sehr notwendig gewesen zu
403
sein«, sagte K. und ging noch näher. Auch die anderen hatten sich
404
genähert. Alle waren jetzt auf einem engen Raum bei der Tür versammelt.
405
»Es war meine Pflicht«, sagte der Aufseher. »Eine dumme Pflicht«, sagte K.
406
unnachgiebig. »Mag sein«, antwortete der Aufseher, »aber wir wollen mit
407
solchen Reden nicht unsere Zeit verlieren. Ich hatte angenommen, daß Sie
408
in die Bank gehen wollen. Da Sie auf alle Worte aufpassen, füge ich hinzu:
409
ich zwinge Sie nicht, in die Bank zu gehen, ich hatte nur angenommen, daß
410
Sie es wollen. Und um Ihnen das zu erleichtern und Ihre Ankunft in der
411
Bank möglichst unauffällig zu machen, habe ich diese drei Herren, Ihre
412
Kollegen, hier zu Ihrer Verfügung gestellt.« »Wie?« rief K. und staunte die
413
drei an. Diese so uncharakteristischen, blutarmen, jungen Leute, die er
414
immer noch nur als Gruppe bei den Photographien in der Erinnerung hatte,
415
waren tatsächlich Beamte aus seiner Bank, nicht Kollegen, das war zu viel
416
gesagt und bewies eine Lücke in der Allwissenheit des Aufsehers, aber
417
untergeordnete Beamte aus der Bank waren es allerdings. Wie hatte K. das
418
übersehen können? Wie hatte er doch hingenommen sein müssen von dem
419
Aufseher und den Wächtern, um diese drei nicht zu erkennen! Den steifen,
420
die Hände schwingenden Rabensteiner, den blonden Kullich mit den
421
tiefliegenden Augen und Kaminer mit dem unausstehlichen, durch eine
422
chronische Muskelzerrung bewirkten Lächeln. »Guten Morgen«, sagte K.
423
nach einem Weilchen und reichte den sich korrekt verbeugenden Herren
424
die Hand. »Ich habe Sie gar nicht erkannt. Nun werden wir also an die
425
Arbeit gehen, nicht?« Die Herren nickten lachend und eifrig, als hätten sie
426
die ganze Zeit über darauf gewartet, nur als K. seinen Hut vermißte, der in
427
seinem Zimmer liegengeblieben war, liefen sie sämtlich hintereinander, ihn
428
holen, was immerhin auf eine gewisse Verlegenheit schließen ließ. K. stand
429
still und sah ihnen durch die zwei offenen Türen nach, der letzte war
430
natürlich der gleichgültige Rabensteiner, der bloß einen eleganten Trab
431
angeschlagen hatte. Kaminer überreichte den Hut, und K. mußte sich, wie
432
dies übrigens auch öfters in der Bank nötig war, ausdrücklich sagen, daß
433
Kaminers Lächeln nicht Absicht war, ja daß er überhaupt absichtlich nicht
434
lächeln konnte. Im Vorzimmer öffnete dann Frau Grubach, die gar nicht
435
sehr schuldbewußt aussah, der ganzen Gesellschaft die Wohnungstür, und
436
K. sah, wie so oft, auf ihr Schürzenband nieder, das so unnötig tief in ihren
437
mächtigen Leib einschnitt. Unten entschloß sich K., die Uhr in der Hand, ein
438
Automobil zu nehmen, um die schon halbstündige Verspätung nicht
439
unnötig zu vergrößern. Kaminer lief zur Ecke, um den Wagen zu holen, die
440
zwei anderen versuchten offensichtlich, K. zu zerstreuen, als plötzlich
441
Kullich auf das gegenüberliegende Haustor zeigte, in dem eben der große
442
Mann mit dem blonden Spitzbart erschien und, im ersten Augenblick ein
443
wenig verlegen darüber, daß er sich jetzt in seiner ganzen Größe zeigte, zur
444
Wand zurücktrat und sich anlehnte. Die Alten waren wohl noch auf der
445
Treppe. K. ärgerte sich über Kullich, daß dieser auf den Mann aufmerksam
446
machte, den er selbst schon früher gesehen, ja den er sogar erwartet hatte.
447
»Schauen Sie nicht hin!« stieß er hervor, ohne zu bemerken, wie auffallend
448
eine solche Redeweise gegenüber selbständigen Männern war. Es war aber
449
auch keine Erklärung nötig, denn gerade kam das Automobil, man setzte
450
sich und fuhr los. Da erinnerte sich K., daß er das Weggehen des Aufsehers
451
und der Wächter gar nicht bemerkt hatte, der Aufseher hatte ihm die drei
452
Beamten verdeckt und nun wieder die Beamten den Aufseher. Viel
453
Geistesgegenwart bewies das nicht, und K. nahm sich vor, sich in dieser
454
Hinsicht genauer zu beobachten. Doch drehte er sich noch unwillkürlich
455
um und beugte sich über das Hinterdeck des Automobils vor, um
456
möglicherweise den Aufseher und die Wächter noch zu sehen. Aber gleich
457
wendete er sich wieder zurück und lehnte sich bequem in die Wagenecke,
458
ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, jemanden zu suchen.
459
Obwohl es nicht den Anschein hatte, hätte er gerade jetzt Zuspruch nötig
460
gehabt, aber nun schienen die Herren ermüdet, Rabensteiner sah rechts
461
aus dem Wagen, Kullich links, und nur Kaminer stand mit seinem Grinsen
462
zur Verfügung, über das einen Spaß zu machen leider die Menschlichkeit
463
verbot.
464
In diesem Frühjahr pflegte K. die Abende in der Weise zu verbringen, daß er
465
nach der Arbeit, wenn dies noch möglich war – er saß meistens bis neun
466
Uhr im Büro -, einen kleinen Spaziergang allein oder mit Beamten machte
467
und dann in eine Bierstube ging, wo er an einem Stammtisch mit meist
468
älteren Herren gewöhnlich bis elf Uhr beisammensaß. Es gab aber auch
469
Ausnahmen von dieser Einteilung, wenn K. zum Beispiel vom Bankdirektor,
470
der seine Arbeitskraft und Vertrauenswürdigkeit sehr schätzte, zu einer
471
Autofahrt oder zu einem Abendessen in seiner Villa eingeladen wurde.
472
Außerdem ging K. einmal in der Woche zu einem Mädchen namens Elsa,
473
die während der Nacht bis in den späten Morgen als Kellnerin in einer
474
Weinstube bediente und während des Tages nur vom Bett aus Besuche
475
empfing.
476
An diesem Abend aber – der Tag war unter angestrengter Arbeit und vielen
477
ehrenden und freundschaftlichen Geburtstagswünschen schnell verlaufen
478
– wollte K. sofort nach Hause gehen. In allen kleinen Pausen der
479
Tagesarbeit hatte er daran gedacht; ohne genau zu wissen, was er meinte,
480
schien es ihm, als ob durch die Vorfälle des Morgens eine große
481
Unordnung in der ganzen Wohnung der Frau Grubach verursacht worden
482
sei und daß gerade er nötig sei, um die Ordnung wiederherzustellen. War
483
aber einmal diese Ordnung hergestellt, dann war jede Spur jener Vorfälle
484
ausgelöscht und alles nahm seinen alten Gang wieder auf. Insbesondere
485
von den drei Beamten war nichts zu befürchten, sie waren wieder in die
486
große Beamtenschaft der Bank versenkt, es war keine Veränderung an
487
ihnen zu bemerken. K. hatte sie öfters einzeln und gemeinsam in sein Büro
488
berufen, zu keinem andern Zweck, als um sie zu beobachten; immer hatte
489
er sie befriedigt entlassen können.
490
Als er um halb zehn Uhr abends vor dem Hause, in dem er wohnte, ankam,
491
traf er im Haustor einen jungen Burschen, der dort breitbeinig stand und
492
eine Pfeife rauchte. »Wer sind Sie?« fragte K. sofort und brachte sein
493
Gesicht nahe an den Burschen, man sah nicht viel im Halbdunkel des Flurs.
494
»Ich bin der Sohn des Hausmeisters, gnädiger Herr«, antwortete der
495
Bursche, nahm die Pfeife aus dem Mund und trat zur Seite. »Der Sohn des
496
Hausmeisters?« fragte K. und klopfte mit seinem Stock ungeduldig den
497
Boden. »Wünscht der gnädige Herr etwas? Soll ich den Vater holen?«
498
»Nein, nein«, sagte K., in seiner Stimme lag etwas Verzeihendes, als habe
499
der Bursche etwas Böses ausgeführt, er aber verzeihe ihm. »Es ist gut«,
500
sagte er dann und ging weiter, aber ehe er die Treppe hinaufstieg, drehte er
501
sich noch einmal um.
502
Er hätte geradewegs in sein Zimmer gehen können, aber da er mit Frau
503
Grubach sprechen wollte, klopfte er gleich an ihre Tür an. Sie saß mit einem
504
Strickstrumpf am Tisch, auf dem noch ein Haufen alter Strümpfe lag. K.
505
entschuldigte sich zerstreut, daß er so spät komme, aber Frau Grubach war
506
sehr freundlich und wollte keine Entschuldigung hören, für ihn sei sie
507
immer zu sprechen, er wisse sehr gut, daß er ihr bester und liebster Mieter
508
sei. K. sah sich im Zimmer um, es war wieder vollkommen in seinem alten
509
Zustand, das Frühstücksgeschirr, das früh auf dem Tischchen beim Fenster
510
gestanden hatte, war auch schon weggeräumt. »Frauenhände bringen doch
511
im stillen viel fertig«, dachte er, er hätte das Geschirr vielleicht auf der
512
Stelle zerschlagen, aber gewiß nicht hinaustragen können. Er sah Frau
513
Grubach mit einer gewissen Dankbarkeit an. »Warum arbeiten Sie noch so
514
spät?« fragte er. Sie saßen nun beide am Tisch, und K. vergrub von Zeit zu
515
Zeit seine Hand in die Strümpfe. »Es gibt viel Arbeit«, sagte sie, »während
516
des Tages gehöre ich den Mietern; wenn ich meine Sachen in Ordnung
517
bringen will, bleiben mir nur die Abende.« »Ich habe Ihnen heute wohl noch
518
eine außergewöhnliche Arbeit gemacht?« »Wieso denn?« fragte sie, etwas
519
eifriger werdend, die Arbeit ruhte in ihrem Schoße. »Ich meine die Männer,
520
die heute früh hier waren.« »Ach so«, sagte sie und kehrte wieder in ihre
521
Ruhe zurück, »das hat mir keine besondere Arbeit gemacht.« K. sah
522
schweigend zu, wie sie den Strickstrumpf wieder vornahm. Sie scheint sich
523
zu wundern, daß ich davon spreche, dachte er, sie scheint es nicht für
524
richtig zu halten, daß ich davon spreche. Desto wichtiger ist es, daß ich es
525
tue. Nur mit einer alten Frau kann ich davon sprechen. »Doch, Arbeit hat es
526
gewiß gemacht«, sagte er dann, »aber es wird nicht wieder vorkommen.«
527
»Nein, das kann nicht wieder vorkommen«, sagte sie bekräftigend und
528
lächelte K. fast wehmütig an. »Meinen Sie das ernstlich?« fragte K. »Ja«,
529
sagte sie leiser, »aber vor allem dürfen Sie es nicht zu schwer nehmen. Was
530
geschieht nicht alles in der Welt! Da Sie so vertraulich mit mir reden, Herr
531
K., kann ich Ihnen ja eingestehen, daß ich ein wenig hinter der Tür gehorcht
532
habe und daß mir auch die beiden Wächter einiges erzählt haben. Er
533
handelt sich ja um Ihr Glück und das liegt mir wirklich am Herzen, mehr als
534
mir vielleicht zusteht, denn ich bin ja bloß die Vermieterin. Nun, ich habe
535
also einiges gehört, aber ich kann nicht sagen, daß es etwas besonders
536
Schlimmes war. Nein. Sie sind zwar verhaftet, aber nicht so wie ein Dieb
537
verhaftet wird. Wenn man wie ein Dieb verhaftet wird, so ist es schlimm,
538
aber diese Verhaftung -. Es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor,
539
entschuldigen Sie, wenn ich etwas Dummes sage, es kommt mir wie etwas
540
Gelehrtes vor, das ich zwar nicht verstehe, das man aber auch nicht
541
verstehen muß.«
542
»Es ist gar nichts Dummes was Sie gesagt haben, Frau Grubach,
543
wenigstens bin auch ich zum Teil Ihrer Meinung, nur urteile ich über das
544
Ganze noch schärfer als Sie und halte es einfach nicht einmal für etwas
545
Gelehrtes, sondern überhaupt für nichts. Ich wurde überrumpelt, das war
546
es. Wäre ich gleich nach dem Erwachen, ohne mich durch das Ausbleiben
547
der Anna beirren zu lassen, aufgestanden und ohne Rücksicht auf irgend
548
jemand, der mir in den Weg getreten wäre, zu Ihnen gegangen, hätte ich
549
diesmal ausnahmsweise etwa in der Küche gefrühstückt, hätte mir von
550
Ihnen die Kleidungsstücke aus meinem Zimmer bringen lassen, kurz, hätte
551
ich vernünftig gehandelt, so wäre nichts weiter geschehen, es wäre alles,
552
was werden wollte, erstickt worden. Man ist aber so wenig vorbereitet. In
553
der Bank zum Beispiel bin ich vorbereitet, dort könnte mir etwas Derartiges
554
unmöglich geschehen, ich habe dort einen eigenen Diener, das allgemeine
555
Telephon und das Bürotelephon stehen vor mir auf dem Tisch, immerfort
556
kommen Leute, Parteien und Beamte, außerdem aber und vor allem bin ich
557
dort immerfort im Zusammenhang der Arbeit, daher geistesgegenwärtig, es
558
würde mir geradezu ein Vergnügen machen, dort einer solchen Sache
559
gegenübergestellt zu werden. Nun, es ist vorüber und ich wollte eigentlich
560
auch gar nicht mehr darüber sprechen, nur Ihr Urteil, das Urteil einer
561
vernünftigen Frau, wollte ich hören und bin sehr froh, daß wir darin
562
übereinstimmen. Nun müssen Sie mir aber die Hand reichen, eine solche
563
Übereinstimmung muß durch Handschlag bekräftigt werden.«
564
Ob sie mir die Hand reichen wird? Der Aufseher hat mir die Hand nicht
565
gereicht, dachte er und sah die Frau anders als früher, prüfend an. Sie
566
stand auf, weil auch er aufgestanden war, sie war ein wenig befangen, weil
567
ihr nicht alles, was K. gesagt hatte, verständlich gewesen war. Infolge
568
dieser Befangenheit sagte sie aber etwas, was sie gar nicht wollte und was
569
auch gar nicht am Platze war: »Nehmen Sie es doch nicht so schwer, Herr
570
K.«, sagte sie, hatte Tränen in der Stimme und vergaß natürlich auch den
571
Handschlag. »Ich wüßte nicht, daß ich es schwer nehme«, sagte K.,
572
plötzlich ermüdet und das Wertlose aller Zustimmungen dieser Frau
573
einsehend.
574
Bei der Tür fragte er noch: »Ist Fräulein Bürstner zu Hause?« »Nein«, sagte
575
Frau Grubach und lächelte bei dieser trockenen Auskunft mit einer
576
verspäteten vernünftigen Teilnahme. »Sie ist im Theater. Wollten Sie etwas
577
von ihr? Soll ich ihr etwas ausrichten?« »Ach, ich wollte nur ein paar Worte
578
mit ihr reden.« »Ich weiß leider nicht, wann sie kommt; wenn sie im Theater
579
ist, kommt sie gewöhnlich spät.« »Das ist ja ganz gleichgültig«, sagte K.
580
und drehte schon den gesenkten Kopf der Tür zu, um wegzugehen, »ich
581
wollte mich nur bei ihr entschuldigen, daß ich heute ihr Zimmer in
582
Anspruch genommen habe.« »Das ist nicht nötig, Herr K., Sie sind zu
583
rücksichtsvoll, das Fräulein weiß ja von gar nichts, sie war seit dem frühen
584
Morgen noch nicht zu Hause, es ist auch schon alles in Ordnung gebracht,
585
sehen Sie selbst.« Und sie öffnete die Tür zu Fräulein Bürstners Zimmer.
586
»Danke, ich glaube es«, sagte K., ging dann aber doch zu der offenen Tür.
587
Der Mond schien still in das dunkle Zimmer. Soviel man sehen konnte, war
588
wirklich alles an seinem Platz, auch die Bluse hing nicht mehr an der
589
Fensterklinke. Auffallend hoch schienen die Polster im Bett, sie lagen zum
590
Teil im Mondlicht. »Das Fräulein kommt oft spät nach Hause«, sagte K. und
591
sah Frau Grubach an, als trage sie die Verantwortung dafür. »Wie eben
592
junge Leute sind!« sagte Frau Grubach entschuldigend. »Gewiß, gewiß«,
593
sagte K., »es kann aber zu weit gehen.« »Das kann es«, sagte Frau
594
Grubach, »wie sehr haben Sie recht, Herr K. Vielleicht sogar in diesem Fall.
595
Ich will Fräulein Bürstner gewiß nicht verleumden, sie ist ein gutes, liebes
596
Mädchen, freundlich, ordentlich, pünktlich, arbeitsam, ich schätze das alles
597
sehr, aber eines ist wahr, sie sollte stolzer, zurückhaltender sein. Ich habe
598
sie in diesem Monat schon zweimal in entlegenen Straßen und immer mit
599
einem andern Herrn gesehen. Es ist mir sehr peinlich, ich erzähle es, beim
600
wahrhaftigen Gott, nur ihnen, Herr K., aber es wird sich nicht vermeiden
601
lassen, daß ich auch mit dem Fräulein selbst darüber spreche. Es ist
602
übrigens nicht das Einzige, das sie mir verdächtig macht.« »Sie sind auf
603
ganz falschem Weg«, sagte K. wütend und fast unfähig, es zu verbergen,
604
»übrigens haben Sie offenbar auch meine Bemerkung über das Fräulein
605
mißverstanden, so war es nicht gemeint. Ich warne Sie sogar aufrichtig,
606
dem Fräulein irgend etwas zu sagen, Sie sind durchaus im Irrtum, ich
607
kenne das Fräulein sehr gut, es ist nichts davon wahr, was Sie sagten.
608
Übrigens, vielleicht gehe ich zu weit, ich will Sie nicht hindern, sagen Sie
609
ihr, was Sie wollen. Gute Nacht.« »Herr K.«, sagte Frau Grubach bittend und
610
eilte K. bis zu seiner Tür nach, die er schon geöffnet hatte, »ich will ja noch
611
gar nicht mit dem Fräulein reden, natürlich will ich sie vorher noch weiter
612
beobachten, nur Ihnen habe ich anvertraut, was ich wußte. Schließlich muß
613
es doch im Sinne jedes Mieters sein, wenn man die Pension rein zu
614
erhalten sucht, und nichts anderes ist mein Bestreben dabei.« »Die
615
Reinheit!« rief K. noch durch die Spalte der Tür, »wenn Sie die Pension rein
616
erhalten wollen, müssen Sie zuerst mir kündigen.« Dann schlug er die Tür
617
zu, ein leises Klopfen beachtete er nicht mehr.
618
Dagegen beschloß er, da er gar keine Lust zum Schlafen hatte, noch
619
wachzubleiben und bei dieser Gelegenheit auch festzustellen, wann
620
Fräulein Bürstner kommen würde. Vielleicht wäre es dann auch möglich, so
621
unpassend es sein mochte, noch ein paar Worte mit ihr zu reden. Als er im
622
Fenster lag und die müden Augen drückte, dachte er einen Augenblick
623
sogar daran, Frau Grubach zu bestrafen und Fräulein Bürstner zu
624
überreden, gemeinsam mit ihm zu kündigen. Sofort aber erschien ihm das
625
entsetzlich übertrieben, und er hatte sogar den Verdacht gegen sich, daß er
626
darauf ausging, die Wohnung wegen der Vorfälle am Morgen zu wechseln.
627
Nichts wäre unsinniger und vor allem zweckloser und verächtlicher
628
gewesen.
629
Als er des Hinausschauens auf die leere Straße überdrüssig geworden war,
630
legte er sich auf das Kanapee, nachdem er die Tür zum Vorzimmer ein
631
wenig geöffnet hatte, um jeden, der die Wohnung betrat, gleich vom
632
Kanapee aus sehen zu können. Etwa bis elf Uhr lag er ruhig, eine Zigarre
633
rauchend, auf dem Kanapee. Von da ab hielt er es aber nicht mehr dort aus,
634
sondern ging ein wenig ins Vorzimmer, als könne er dadurch die Ankunft
635
des Fräulein Bürstner beschleunigen. Er hatte kein besonderes Verlangen
636
nach ihr, er konnte sich nicht einmal genau erinnern, wie sie aussah, aber
637
nun wollte er mit ihr reden und es reizte ihn, daß sie durch ihr spätes
638
Kommen auch noch in den Abschluß dieses Tages Unruhe und Unordnung
639
brachte. Sie war auch schuld daran, daß er heute nicht zu Abend gegessen
640
und daß er den für heute beabsichtigten Besuch bei Elsa unterlassen hatte.
641
Beides konnte er allerdings noch dadurch nachholen, daß er jetzt in das
642
Weinlokal ging, in dem Elsa bedienstet war. Er wollte es auch noch später
643
nach der Unterredung mit Fräulein Bürstner tun. Es war halb zwölf vorüber,
644
als jemand im Treppenhaus zu hören war. K., der, seinen Gedanken
645
hingegeben, im Vorzimmer so, als wäre es sein eigenes Zimmer, laut auf
646
und ab ging, flüchtete hinter seine Tür. Es war Fräulein Bürstner, die
647
gekommen war. Fröstelnd zog sie, während sie die Tür versperrte, einen
648
seidenen Schal um ihre schmalen Schultern zusammen. In nächsten
649
Augenblick mußte sie in ihr Zimmer gehen, in das K. gewiß um Mitternacht
650
nicht eindringen durfte; er mußte sie also jetzt ansprechen, hatte aber
651
unglücklicherweise versäumt, das elektrische Licht in seinem Zimmer
652
anzudrehen, so daß sein Vortreten aus dem dunklen Zimmer den Anschein
653
eines Überfalls hatte und wenigstens sehr erschrecken mußte. In seiner
654
Hilflosigkeit und da keine Zeit zu verlieren war, flüsterte er durch den
655
Türspalt: »Fräulein Bürstner.« Es klang wie eine Bitte, nicht wie ein Anruf.
656
»Ist jemand hier?« fragte Fräulein Bürstner und sah sich mit großen Augen
657
um. »Ich bin es«, sagte K. und trat vor. »Ach, Herr K.!« sagte Fräulein
658
Bürstner lächelnd. »Guten Abend«, und sie reichte ihm die Hand. »Ich
659
wollte ein paar Worte mit Ihnen sprechen, wollen Sie mir das jetzt
660
erlauben?« »Jetzt?« fragte Fräulein Bürstner, »muß es jetzt sein? Es ist ein
661
wenig sonderbar, nicht?« »Ich warte seit neun Uhr auf Sie.« »Nun ja, ich
662
war im Theater, ich wußte doch nichts von Ihnen.« »Der Anlaß für das, was
663
ich Ihnen sagen will, hat sich erst heute ergeben« »So, nun ich habe ja
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nichts Grundsätzliches dagegen, außer daß ich zum Hinfallen müde bin.
665
Also kommen Sie auf ein paar Minuten in mein Zimmer. Hier könnten wir
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uns auf keinen Fall unterhalten, wir wecken ja alle und das wäre mir
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unseretwegen noch unangenehmer als der Leute wegen. Warten Sie hier,
668
bis ich in meinem Zimmer angezündet habe, und drehen Sie dann hier das
669
Licht ab.« K. tat so, wartete dann aber noch bis Fräulein Bürstner ihn aus
670
ihrem Zimmer nochmals leise aufforderte zu kommen. »Setzen Sie sich«,
671
sagte sie und zeigte auf die Ottomane, sie selbst blieb aufrecht am
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Bettpfosten trotz der Müdigkeit, von der sie gesprochen hatte; nicht einmal
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ihren kleinen, aber mit einer Überfülle von Blumen geschmückten Hut legte
674
sie ab. »Was wollten Sie also? Ich bin wirklich neugierig.« Sie kreuzte leicht
675
die Beine. »Sie werden vielleicht sagen«, begann K., »daß die Sache nicht
676
so dringend war, um jetzt besprochen zu werden, aber -« »Einleitungen
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überhöre ich immer«, sagte Fräulein Bürstner. »Das erleichtert meine
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Aufgabe«, sagte K. »Ihr Zimmer ist heute früh, gewissermaßen durch meine
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Schuld, ein wenig in Unordnung gebracht worden, es geschah durch
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fremde Leute gegen meinen Willen und doch, wie gesagt, durch meine
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Schuld; dafür wollte ich um Entschuldigung bitten.« »Mein Zimmer?« fragte
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Fräulein Bürstner und sah statt des Zimmers K. prüfend an. »Es ist so«,
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sagte K., und nun sahen beide einander zum erstenmal in die Augen, »die
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Art und Weise, in der es geschah, ist an sich keines Wortes wert.« »Aber
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doch das eigentlich Interessante«, sagte Fräulein Bürstner. »Nein«, sagte K.
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»Nun«, sagte Fräulein Bürstner, »ich will mich nicht in Geheimnisse
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eindrängen, bestehen Sie darauf, daß es uninteressant ist, so will ich auch
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nichts dagegen einwenden. Die Entschuldigung, um die Sie bitten, gebe ich
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Ihnen gern, besonders da ich keine Spur einer Unordnung finden kann.«
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Sie machte, die flachen Hände tief an die Hüften gelegt, einen Rundgang
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durch das Zimmer. Bei der Matte mit den Photographien blieb sie stehen.
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»Sehen Sie doch!« rief sie. »Meine Photographien sind wirklich
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durcheinandergeworfen. Das ist aber häßlich. Es ist also jemand
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unberechtigterweise in meinem Zimmer gewesen.« K. nickte und verfluchte
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im stillen den Beamten Kaminer, der seine öde, sinnlose Lebhaftigkeit
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niemals zähmen konnte. »Es ist sonderbar«, sagte Fräulein Bürstner, »daß
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ich gezwungen bin, Ihnen etwas zu verbieten, was Sie sich selbst verbieten
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müßten, nämlich in meiner Abwesenheit mein Zimmer zu betreten.« »Ich
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erklärte Ihnen doch, Fräulein«, sagte K. und ging auch zu den
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Photographien, »daß nicht ich es war, der sich an Ihren Photographien
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vergangen hat; aber da Sie mir nicht glauben, so muß ich also eingestehen,
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daß die Untersuchungskommission drei Bankbeamte mitgebracht hat, von
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denen der eine, den ich bei nächster Gelegenheit aus der Bank
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hinausbefördern werde, die Photographien wahrscheinlich in die Hand
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genommen hat. Ja, es war eine Untersuchungskommission hier«, fügte K.
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hinzu, da ihn das Fräulein mit einem fragenden Blick ansah. »Ihretwegen?«
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fragte das Fräulein. »Ja«, antwortete K. »Nein!« rief das Fräulein und lachte.
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»Doch«, sagte K., »glauben Sie denn, daß ich schuldlos bin?« »Nun,
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schuldlos...« sagte das Fräulein, »ich will nicht gleich ein vielleicht
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folgenschweres Urteil aussprechen, auch kenne ich Sie doch nicht, es muß
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doch schon ein schwerer Verbrecher sein, dem man gleich eine
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Untersuchungskommission auf den Leib schickt. Da Sie aber doch frei sind
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– ich schließe wenigstens aus Ihrer Ruhe, daß Sie nicht aus dem Gefängnis
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entlaufen sind – so können Sie doch kein solches Verbrechen begangen
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haben.« »Ja«, sagte K., »aber die Untersuchungskommission kann doch
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eingesehen haben, daß ich unschuldig bin oder doch nicht so schuldig, wie
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angenommen wurde.« »Gewiß, das kann sein«, sagte Fräulein Bürstner
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sehr aufmerksam. »Sehen Sie«, sagte K., »Sie haben nicht viel Erfahrung in
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Gerichtssachen.« »Nein, das habe ich nicht«, sagte Fräulein Bürstner, »und
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habe es auch schon oft bedauert, denn ich möchte alles wissen, und
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gerade Gerichtssachen interessieren mich ungemein. Das Gericht hat eine
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eigentümliche Anziehungskraft, nicht? Aber ich werde in dieser Richtung
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meine Kenntnisse sicher vervollständigen, denn ich trete nächsten Monat
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als Kanzleikraft in ein Advokatenbüro ein.« »Das ist sehr gut«, sagte K.,
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»Sie werden mir dann in meinem Prozeß ein wenig helfen können.« »Das
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könnte sein«, sagte Fräulein Bürstner, »warum denn nicht? Ich verwende
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gern meine Kenntnisse.« »Ich meine es auch im Ernst«, sagte K., »oder
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zumindest in dem halben Ernst, in dem Sie es meinen. Um einen Advokaten
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heranzuziehen, dazu ist die Sache doch zu kleinlich, aber einen Ratgeber
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könnte ich gut brauchen.« »Ja, aber wenn ich Ratgeber sein soll, müßte ich
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wissen, worum es sich handelt«, sagte Fräulein Bürstner. »Das ist eben der
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Haken«, sagte K., »das weiß ich selbst nicht.« »Dann haben Sie sich also
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einen Spaß aus mir gemacht«, sagte Fräulein Bürstner übermäßig
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enttäuscht, »es war höchst unnötig, sich diese späte Nachtzeit dazu
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auszusuchen.« Und sie ging von den Photographien weg, wo sie so lange
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vereinigt gestanden hatten. »Aber nein, Fräulein«, sagte K., »ich mache
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keinen Spaß. Daß Sie mir nicht glauben wollen! Was ich weiß, habe ich
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Ihnen schon gesagt. Sogar mehr als ich weiß, denn es war gar keine
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Untersuchungskommission, ich nenne es so, weil ich keinen andern Namen
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dafür weiß. Es wurde gar nichts untersucht, ich wurde nur verhaftet, aber
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von einer Kommission.« Fräulein Bürstner saß auf der Ottomane und lachte
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wieder. »Wie war es denn?« fragte sie. »Schrecklich«, sagte K., aber er
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dachte jetzt gar nicht daran, sondern war ganz vom Anblick des Fräulein
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Bürstner ergriffen, die das Gesicht auf eine Hand stützte – der Ellbogen
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ruhte auf dem Kissen der Ottomane – während die andere Hand langsam
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die Hüfte strich. »Das ist zu allgemein«, sagte Fräulein Bürstner. »Was ist
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zu allgemein?« fragte K. Dann erinnerte er sich und fragte: »Soll ich Ihnen
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zeigen, wie es gewesen ist?« Er wollte Bewegung machen und doch nicht
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weggehen. »Ich bin schon müde«, sagte Fräulein Bürstner. »Sie kamen so
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spät«, sagte K. »Nun endet es damit, daß ich Vorwürfe bekomme, es ist
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auch berechtigt, denn ich hätte Sie nicht mehr hereinlassen sollen.
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Notwendig war es ja auch nicht, wie es sich gezeigt hat.« »Es war
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notwendig, das werden Sie erst jetzt sehn«, sagte K. »Darf ich das
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Nachttischchen von Ihrem Bett herrücken?« »Was fällt ihnen ein?« sagte
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Fräulein Bürstner, »das dürfen Sie natürlich nicht!« »Dann kann ich es
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Ihnen nicht zeigen«, sagte K. aufgeregt, als füge man ihm dadurch einen
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unermeßlichen Schaden zu. »Ja, wenn Sie es zur Darstellung brauchen,
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dann rücken Sie das Tischchen nur ruhig fort«, sagte Fräulein Bürstner und
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fügte nach einem Weilchen mit schwächerer Stimme hinzu: »Ich bin so
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müde, daß ich mehr erlaube, als gut ist.« K. stellte das Tischchen in die
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Mitte des Zimmers und setzte sich dahinter. »Sie müssen sich die
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Verteilung der Personen richtig vorstellen, es ist sehr interessant. Ich bin
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der Aufseher, dort auf dem Koffer sitzen zwei Wächter, bei den
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Photographien stehen drei junge Leute. An der Fensterklinke hängt, was
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ich nur nebenbei erwähne, eine weiße Bluse. Und jetzt fängt es an. Ja, ich
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vergesse mich. Die wichtigste Person, also ich, stehe hier vor dem
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Tischchen. Der Aufseher sitzt äußerst bequem, die Beine
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übereinandergelegt, den Arm hier über die Lehne hinunterhängend, ein
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Lümmel sondergleichen. Und jetzt fängt es also wirklich an. Der Aufseher
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ruft, als ob er mich wecken müßte, er schreit geradezu, ich muß leider,
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wenn ich es Ihnen begreiflich machen will, auch schreien, es ist übrigens
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nur mein Name, den er so schreit.« Fräulein Bürstner, die lachend zuhörte,
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legte den Zeigefinger an den Mund, um K. am Schreien zu hindern, aber es
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war zu spät. K. war zu sehr in der Rolle, er rief langsam: »Josef K.!«,
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übrigens nicht so laut, wie er gedroht hatte, aber doch so, daß sich der Ruf,
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nachdem er plötzlich ausgestoßen war, erst allmählich im Zimmer zu
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verbreiten schien.
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Da klopfte es an die Tür des Nebenzimmers einigemal, stark, kurz und
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regelmäßig. Fräulein Bürstner erbleichte und legte die Hand aufs Herz. K.
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erschrak deshalb besonders stark, weil er noch ein Weilchen ganz unfähig
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gewesen war, an etwas anderes zu denken als an die Vorfälle des Morgens
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und an das Mädchen, dem er sie vorführte. Kaum hatte er sich gefaßt,
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sprang er zu Fräulein Bürstner und nahm ihre Hand. »Fürchten Sie nichts«,
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flüsterte er, »ich werde alles in Ordnung bringen. Wer kann es aber sein?
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Hier nebenan ist doch nur das Wohnzimmer, in dem niemand schläft.«
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»Doch«, flüsterte Fräulein Bürstner an K.s Ohr, »seit gestern schläft hier ein
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Neffe von Frau Grubach, ein Hauptmann. Es ist gerade kein anderes
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Zimmer frei. Auch ich habe es vergessen. Daß Sie so schreien mußten! Ich
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bin unglücklich darüber.« »Dafür ist gar kein Grund«, sagte K. und küßte,
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als sie jetzt auf das Kissen zurücksank, ihre Stirn. »Weg, weg«, sagte sie
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und richtete sich eilig wieder auf, »gehen Sie doch, gehen Sie doch, was
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wollen Sie, er horcht doch an der Tür, er hört doch alles. Wie Sie mich
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quälen!« »Ich gehe nicht früher«, sagte K., »als Sie ein wenig beruhigt sind.
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Kommen Sie in die andere Ecke des Zimmers, dort kann er uns nicht
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hören.« Sie ließ sich dorthin führen. »Sie überlegen nicht«, sagte er, »daß
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es sich zwar um eine Unannehmlichkeit für Sie handelt, aber durchaus
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nicht um eine Gefahr. Sie wissen, wie mich Frau Grubach, die in dieser
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Sache doch entscheidet, besonders da der Hauptmann ihr Neffe ist,
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geradezu verehrt und alles, was ich sage, unbedingt glaubt. Sie ist auch im
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übrigen von mir abhängig, denn sie hat eine größere Summe von mir
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geliehen. Jeden Ihrer Vorschläge über eine Erklärung für unser Beisammen
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nehme ich an, wenn es nur ein wenig zweckentsprechend ist, und verbürge
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mich, Frau Grubach dazu zu bringen, die Erklärung nicht nur vor der
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Öffentlichkeit, sondern wirklich und aufrichtig zu glauben. Mich müssen Sie
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dabei in keiner Weise schonen. Wollen Sie verbreitet haben, daß ich Sie
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überfallen habe, so wird Frau Grubach in diesem Sinne unterrichtet werden
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und wird es glauben, ohne das Vertrauen zu mir zu verlieren, so sehr hängt
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sie an mir.« Fräulein Bürstner sah, still und ein wenig zusammengesunken,
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vor sich auf den Boden. »Warum sollte Frau Grubach nicht glauben, daß
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ich Sie überfallen habe?« fügte K. hinzu. Vor sich sah er ihr Haar, geteiltes,
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niedrig gebauschtes, fest zusammengehaltenes, rötliches Haar. Er glaubte,
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sie werde ihm den Blick zuwenden, aber sie sagte in unveränderter
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Haltung: »Verzeihen Sie, ich bin durch das plötzliche Klopfen so erschreckt
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worden, nicht so sehr durch die Folgen, die die Anwesenheit des
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Hauptmanns haben könnte. Es war so still nach Ihrem Schrei, und da
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klopfte es, deshalb bin ich so erschrocken, ich saß auch in der Nähe der
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Tür, es klopfte fast neben mir. Für Ihre Vorschläge danke ich, aber ich
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nehme sie nicht an. Ich kann für alles, was in meinem Zimmer geschieht,
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die Verantwortung tragen, und zwar gegenüber jedem. Ich wundere mich,
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daß Sie nicht merken, was für eine Beleidigung für mich in Ihren
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Vorschlägen liegt, neben den guten Absichten natürlich, die ich gewiß
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anerkenne. Aber nun gehen Sie, lassen Sie mich allein, ich habe es jetzt
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noch nötiger als früher. Aus den wenigen Minuten, um die Sie gebeten
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haben, ist nun eine halbe Stunde und mehr geworden.« K. faßte sie bei der
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Hand und dann beim Handgelenk: »Sie sind mir aber nicht böse?« sagte er.
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Sie streifte seine Hand ab und antwortete: »Nein, nein, ich bin niemals und
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niemandem böse.« Er faßte wieder nach ihrem Handgelenk, sie duldete es
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jetzt und führte ihn so zur Tür. Er war fest entschlossen, wegzugehen. Aber
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vor der Tür, als hätte er nicht erwartet, hier eine Tür zu finden, stockte er,
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diesen Augenblick benützte Fräulein Bürstner, sich loszumachen, die Tür
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zu öffnen, ins Vorzimmer zu schlüpfen und von dort aus K. leise zu sagen:
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»Nun kommen Sie doch, bitte. Sehen Sie« – sie zeigte auf die Tür des
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Hauptmanns, unter der ein Lichtschein hervorkam – »er hat angezündet
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und unterhält sich über uns.« »Ich komme schon«, sagte K., lief vor, faßte
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sie, küßte sie auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein
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durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser
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hinjagt. Schließlich küßte er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort
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ließ er die Lippen lange liegen. Ein Geräusch aus dem Zimmer des
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Hauptmanns ließ ihn aufschauen. »Jetzt werde ich gehen«, sagte er, er
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wollte Fräulein Bürstner beim Taufnamen nennen, wußte ihn aber nicht. Sie
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nickte müde, überließ ihm, schon halb abgewendet, die Hand zum Küssen,
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als wisse sie nichts davon, und ging gebückt in ihr Zimmer. Kurz darauf lag
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K. in seinem Bett. Er schlief sehr bald ein, vor dem Einschlafen dachte er
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noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, er war damit zufrieden,
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wunderte sich aber, daß er nicht noch zufriedener war; wegen des
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Hauptmanns machte er sich für Fräulein Bürstner ernstliche Sorgen.

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