Siebenter Auftritt
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Die Gräfin Orsina. Odoardo Galotti.
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Orsina (nach einigem Stillschweigen, unter welchem sie den Obersten mit
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Mitleid betrachtet, so wie er sie mit einer flüchtigen Neugierde): Was er
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Ihnen auch da gesagt hat, unglücklicher Mann! –
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Odoardo (halb vor sich, halb gegen sie): Unglücklicher?
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Orsina: Eine Wahrheit war es gewiß nicht – am wenigsten eine von denen,
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die auf Sie warten.
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Odoardo: Auf mich warten? – Weiß ich nicht schon genug? – Madame! –
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Aber, reden Sie nur, reden Sie nur.
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Orsina: Sie wissen nichts.
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Odoardo: Nichts?
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Orsina: Guter, lieber Vater! – Was gäbe ich darum, wenn Sie auch mein
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Vater wären! – Verzeihen Sie! Die Unglücklichen ketten sich so gern
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aneinander. – Ich wollte treulich Schmerz und Wut mit Ihnen teilen.
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Odoardo: Schmerz und Wut? Madame! – Aber ich vergesse – Reden Sie
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nur.
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Orsina: Wenn es gar Ihre einzige Tochter – Ihr einziges Kind wäre! – Zwar
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einzig oder nicht. Das unglückliche Kind ist immer das einzige.
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Odoardo: Das unglückliche? – Madame! – Was will ich von ihr? – Doch, bei
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Gott, so spricht keine Wahnwitzige!
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Orsina: Wahnwitzige? Das war es also, was er Ihnen von mir vertraute? –
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Nun, nun, es mag leicht keine von seinen gröbsten Lügen sein. – Ich
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fühle so was! – Und glauben Sie, glauben Sie mir: Wer über gewisse
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Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren. –
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Odoardo: Was soll ich denken?
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Orsina: Daß Sie mich also ja nicht verachten! – Denn auch Sie haben
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Verstand, guter Alter, auch Sie. – Ich seh es an dieser entschlossenen,
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ehrwürdigen Miene. Auch Sie haben Verstand; und es kostet mich ein
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Wort – so haben Sie keinen.
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Odoardo: Madame! – Madame! – Ich habe schon keinen mehr, noch ehe
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Sie mir dieses Wort sagen, wenn Sie mir es nicht bald sagen. – Sagen
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Sie es! sagen Sie es! Oder es ist nicht wahr – es ist nicht wahr, daß Sie
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von jener guten, unsers Mitleids, unserer Hochachtung so würdigen
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Gattung der Wahnwitzigen sind – Sie sind eine gemeine Törin. Sie
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haben nicht, was Sie nie hatten.
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Orsina: So merken Sie auf! – Was wissen Sie, der Sie schon genug wissen
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wollen? Daß Appiani verwundet worden? Nur verwundet? – Appiani ist
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tot!
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Odoardo: Tot? tot? – Ha, Frau, das ist wider die Abrede. Sie wollten mich
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um den Verstand bringen: und Sie brechen mir das Herz.
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Orsina: Das beiher! – Nur weiter. – Der Bräutigam ist tot, und die Braut –
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Ihre Tochter – schlimmer als tot.
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Odoardo: Schlimmer? schlimmer als tot? – Aber doch zugleich auch tot? –
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Denn ich kenne nur ein Schlimmeres –
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Orsina: Nicht zugleich auch tot. Nein, guter Vater, nein! – Sie lebt, sie lebt.
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Sie wird nun erst recht anfangen zu leben. – Ein Leben voll Wonne! Das
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schönste, lustigste Schlaraffenleben – solang es dauert.
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Odoardo: Das Wort, Madame, das einzige Wort, das mich um den Verstand
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bringen soll! heraus damit! – Schütten Sie nicht Ihren Tropfen Gift in
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einen Eimer. – Das einzige Wort! geschwind.
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Orsina: Nun da, buchstabieren Sie es zusammen! – Des Morgens sprach
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der Prinz Ihre Tochter in der Messe, des Nachmittags hat er sie auf
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seinem Lust- – Lustschlosse.
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Odoardo: Sprach sie in der Messe? Der Prinz meine Tochter?
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Orsina: Mit einer Vertraulichkeit! mit einer Inbrunst! – Sie hatten nichts
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Kleines abzureden. Und recht gut, wenn es abgeredet worden, recht
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gut, wenn Ihre Tochter freiwillig sich hierher gerettet! Sehen Sie: so ist
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es doch keine gewaltsame Entführung, sondern bloß ein kleiner –
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kleiner Meuchelmord.
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Odoardo: Verleumdung! verdammte Verleumdung! Ich kenne meine
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Tochter. Ist es Meuchelmord, so ist es auch Entführung. – (Blickt wild
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um sich und stampft und schäumet.) Nun, Claudia? Nun, Mütterchen? –
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Haben wir nicht Freude erlebt! O des gnädigen Prinzen! O der ganz
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besondern Ehre!
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Orsina: Wirkt es, Alter! wirkt es?
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Odoardo: Da steh ich nun vor der Höhle des Räubers – (indem er den Rock
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von beiden Seiten auseinanderschlägt und sich ohne Gewehr sieht.)
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Wunder, daß ich aus Eilfertigkeit nicht auch die Hände zurückgelassen!
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– (An alle Schubsäcke fühlend, als etwas suchend.) Nichts! gar nichts!
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nirgends!
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Orsina: Ha, ich verstehe! – Damit kann ich aushelfen! – Ich hab einen
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mitgebracht. (Einen Dolch hervorziehend.) Da nehmen Sie! Nehmen
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Sie geschwind, eh' uns jemand sieht! – Auch hätte ich noch etwas –
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Gift. Aber Gift ist nur für uns Weiber, nicht für Männer. – Nehmen Sie
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ihn! (Ihm den Dolch aufdrängend.) Nehmen Sie!
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Odoardo: Ich danke, ich danke. – Liebes Kind, wer wieder sagt, daß du
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eine Närrin bist, der hat es mit mir zu tun.
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Orsina: Stecken Sie beiseite! geschwind beiseite! – Mir – wird die
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Gelegenheit versagt, Gebrauch davon zu machen. Ihnen wird sie nicht
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fehlen, diese Gelegenheit, und Sie werden sie ergreifen, die erste, die
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beste – wenn Sie ein Mann sind. – Ich, ich bin nur ein Weib, aber so
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kam ich her! fest entschlossen! – Wir, Alter, wir können uns alles
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vertrauen. Denn wir sind beide beleidiget, von dem nämlichen Verführer
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beleidiget. – Ah, wenn Sie wüßten – wenn sie wüßten, wie
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überschwenglich, wie unaussprechlich, wie unbegreiflich ich von ihm
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beleidiget worden und noch werde – Sie könnten, Sie würden Ihre
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eigene Beleidigung darüber vergessen. – Kennen Sie mich? Ich bin
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Orsina, die betrogene, verlassene Orsina. – Zwar vielleicht nur um Ihre
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Tochter verlassen. – Doch was kann Ihre Tochter dafür? – Bald wird
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auch sie verlassen sein. – Und dann wieder eine! – Und wieder eine! –
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Ha! (wie in der Entzückung) welch eine himmlische Phantasie! Wann
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wir einmal alle – wir, das ganze Heer der Verlassenen – wir alle in
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Bacchantinnen, in Furien verwandelt, wenn wir alle ihn unter uns hätten,
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ihn unter uns zerrissen, zerfleischten, sein Eingeweide durchwühlten –
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um das Herz zu finden, das der Verräter einer jeden versprach und
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keiner gab! Ha! das sollte ein Tanz werden! das sollte!