30. Kapitel
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Effi und die Geheimrätin Zwicker waren seit fast drei Wochen in Ems und
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bewohnten daselbst das Erdgeschoß einer reizenden kleinen Villa. In ihrem
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zwischen ihren zwei Wohnzimmern gelegenen gemeinschaftlichen Salon
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mit Blick auf den Garten stand ein Palisanderflügel, auf dem Effi dann und
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wann eine Sonate, die Zwicker dann und wann einen Walzer spielte; sie war
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ganz unmusikalisch und beschränkte sich im wesentlichen darauf, für
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Niemann als Tannhäuser zu schwärmen.
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Es war ein herrlicher Morgen; in dem kleinen Garten zwitscherten die
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Vögel, und aus dem angrenzenden Hause, drin sich ein »Lokal« befand,
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hörte man, trotz der frühen Stunde, bereits das Zusammenschlagen der
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Billardbälle. Beide Damen hatten ihr Frühstück nicht im Salon selbst,
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sondern auf einem ein paar Fuß hoch aufgemauerten und mit Kies
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bestreuten Vorplatz eingenommen, von dem aus drei Stufen nach dem
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Garten hinunterführten; die Markise, ihnen zu Häupten, war aufgezogen, um
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den Genuß der frischen Luft in nichts zu beschränken, und sowohl Effi wie
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die Geheimrätin waren ziemlich emsig bei ihrer Handarbeit. Nur dann und
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wann wurden ein paar Worte gewechselt.
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»Ich begreife nicht«, sagte Effi, »daß ich schon seit vier Tagen keinen
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Brief habe; er schreibt sonst täglich. Ob Annie krank ist? Oder er selbst?«
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Die Zwicker lächelte: »Sie werden erfahren, liebe Freundin, daß er gesund
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ist, ganz gesund.«
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Effi fühlte sich durch den Ton, in dem dies gesagt wurde, wenig
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angenehm berührt und schien antworten zu wollen, aber in ebendiesem
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Augenblicke trat das aus der Umgegend von Bonn stammende
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Hausmädchen, das sich von Jugend an daran gewöhnt hatte, die
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mannigfachsten Erscheinungen des Lebens an Bonner Studenten und
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Bonner Husaren zu messen, vom Salon her auf den Vorplatz hinaus, um
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hier den Frühstückstisch abzuräumen. Sie hieß Afra.
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»Afra«, sagte Effi, »es muß doch schon neun sein; war der Postbote noch
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nicht da?«
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»Nein, noch nicht, gnäd'ge Frau.«
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Woran liegt es?«
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»Natürlich an dem Postboten; er ist aus dem Siegenschen und hat keinen
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Schneid. Ich hab's ihm auch schon gesagt, das sei die 'reine Lodderei'. Und
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wie ihm das Haar sitzt; ich glaube, er weiß gar nicht, was ein Scheitel ist.«
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»Afra, Sie sind mal wieder zu streng. Denken Sie doch: Postbote, und so
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tagaus, tagein bei der ewigen Hitze ...«
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»Ist schon recht, gnäd'ge Frau. Aber es gibt doch andere, die zwingen's;
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wo's drinsteckt, da geht es auch.« Und während sie noch so sprach, nahm
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sie das Tablett geschickt auf ihre fünf Fingerspitzen und stieg die Stufen
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hinunter, um durch den Garten hin den näheren Weg in die Küche zu
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nehmen.
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»Eine hübsche Person«, sagte die Zwicker. »Und so quick und kasch, und
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ich möchte fast sagen, von einer natürlichen Anmut. Wissen Sie, liebe
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Baronin, daß mich diese Afra...
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übrigens ein wundervoller Name, und es soll sogar eine heilige Afra
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gegeben haben, aber ich glaube nicht, daß unsere davon abstammt... «
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»Und nun, liebe Geheimrätin, vertiefen Sie sich wieder in Ihr Nebenthema,
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das diesmal Afra heißt, und vergessen darüber ganz, was Sie eigentlich
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sagen wollten ...«
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»Doch nicht, liebe Freundin, oder ich finde mich wenigstens wieder
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zurück. Ich wollte sagen, daß mich diese Afra ganz ungemein an die
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stattliche Person erinnert, die ich in Ihrem Hause ...«
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»Ja, Sie haben recht. Es ist eine Ähnlichkeit da. Nur, unser Berliner
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Hausmädchen ist doch erheblich hübscher und namentlich ihr Haar viel
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schöner und voller. Ich habe so schönes flachsenes Haar, wie unsere
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Johanna hat, überhaupt noch nicht gesehen. Ein bißchen davon sieht man
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ja wohl, aber solche Fülle ...«
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Die Zwicker lächelte. »Das ist wirklich selten, daß man eine junge Frau mit
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solcher Begeisterung von dem flachsenen Haar ihres Hausmädchens
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sprechen hört. Und nun auch noch von der Fülle! Wissen Sie, daß ich das
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rührend finde? Denn eigentlich ist man doch bei der Wahl der Mädchen in
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einer beständigen Verlegenheit. Hübsch sollen sie sein, weil es jeden
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Besucher, wenigstens die Männer, stört, eine lange Stakete mit griesem
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Teint und schwarzen Rändern in der Türöffnung erscheinen zu sehen, und
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ein wahres Glück, daß die Korridore meistens so dunkel sind. Aber nimmt
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man wieder zu viel Rücksicht auf solche Hausrepräsentation und den
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sogenannten ersten Eindruck, und schenkt man wohl gar noch einer
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solchen hübschen Person eine weiße Tändelschürze nach der andern, so
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hat man eigentlich keine ruhige Stunde mehr und fragt sich, wenn man
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nicht zu eitel ist und nicht zu viel Vertrauen zu sich selber hat, ob da nicht
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Remedur geschaffen werden müsse. Remedur war nämlich ein
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Lieblingswort von Zwicker, womit er mich oft gelangweilt hat; aber freilich,
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alle Geheimräte haben solche Lieblingsworte.«
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Effi hörte mit sehr geteilten Empfindungen zu. Wenn die Geheimrätin nur
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ein bißchen anders gewesen wäre, so hätte dies alles reizend sein können,
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aber da sie nun mal war, wie sie war, so fühlte sich Effi wenig angenehm
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von dem berührt, was sie sonst vielleicht einfach erheitert hätte.
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»Das ist schon recht, liebe Freundin, was Sie da von den Geheimräten
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sagen. Innstetten hat sich auch dergleichen angewöhnt, lacht aber immer,
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wenn ich ihn daraufhin ansehe, und entschuldigt sich hinterher wegen der
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Aktenausdrücke. Ihr Herr Gemahl war freilich schon länger im Dienst und
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überhaupt wohl älter ...«
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»Um ein geringes«, sagte die Geheimrätin spitz und ablehnend.
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»Und alles in allem kann ich mich in Befürchtungen, wie Sie sie
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aussprechen, nicht recht zurechtfinden. Das, was man gute Sitte nennt, ist
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doch immer noch eine Macht ...«
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»Meinen Sie?«
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Und ich kann mir namentlich nicht denken, daß es gerade Ihnen, liebe
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Freundin, beschieden gewesen sein solle, solche Sorgen und
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Befürchtungen durchzumachen. Sie haben, Verzeihung, daß ich diesen
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Punkt hier so offen berühre, gerade das, was die Männer einen 'Scharm'
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nennen, Sie sind heiter, fesselnd, anregend, und wenn es nicht indiskret ist,
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so möcht ich angesichts dieser Ihrer Vorzüge wohl fragen dürfen, stützt
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sich das, was Sie da sagen, auf allerlei Schmerzliches, das Sie persönlich
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erlebt haben?«
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»Schmerzliches?« sagte die Zwicker. »Ach, meine liebe, gnädigste Frau,
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Schmerzliches, das ist ein zu großes Wort, auch dann noch, wenn man
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vielleicht wirklich manches erlebt hat. Schmerzlich ist einfach zuviel, viel
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zuviel. Und dann hat man doch schließlich auch seine Hilfsmittel und
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Gegenkräfte. Sie dürfen dergleichen nicht zu tragisch nehmen.«
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»Ich kann mir keine rechte Vorstellung von dem machen, was Sie
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anzudeuten belieben. Nicht, als ob ich nicht wüßte, was Sünde sei, das
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weiß ich auch; aber es ist doch ein Unterschied, ob man so hineingerät in
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allerlei schlechte Gedanken oder ob einem derlei Dinge zur halben oder
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auch wohl zur ganzen Lebensgewohnheit werden. Und nun gar im eigenen
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Hause ...«
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»Davon will ich nicht sprechen, das will ich nicht so direkt gesagt haben,
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obwohl ich, offen gestanden, auch nach dieser Seite hin voller Mißtrauen
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bin oder, wie ich jetzt sagen muß, war; denn es liegt ja alles zurück. Aber da
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gibt es Außengebiete. Haben Sie von Landpartien gehört?«
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»Gewiß. Und ich wollte wohl, Innstetten hätte mehr Sinn dafür ...«
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»Überlegen Sie sich das, liebe Freundin. Zwicker saß immer in
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Saatwinkel. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn ich das Wort höre, gibt es mir
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noch jetzt einen Stich ins Herz. Überhaupt diese Vergnügungsorte in der
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Umgegend unseres lieben alten Berlin! Denn ich liebe Berlin trotz alledem.
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Aber schon die bloßen Namen der dabei in Frage kommenden Ortschaften
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umschließen eine Welt von Angst und Sorge. Sie lächeln. Und doch, sagen
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Sie selbst, liebe Freundin, was können Sie von einer großen Stadt und
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ihren Sittlichkeitszuständen erwarten, wenn Sie beinah unmittelbar vor den
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Toren derselben (denn zwischen Charlottenburg und Berlin ist kein rechter
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Unterschied mehr), auf kaum tausend Schritte zusammengedrängt, einem
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Pichelsberg, einem Pichelsdorf und einem Pichelswerder begegnen.
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Dreimal Pichel ist zuviel. Sie können die ganze Welt absuchen, das finden
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Sie nicht wieder.«
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Effi nickte.
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»Und das alles«, fuhr die Zwicker fort, »geschieht am grünen Holz der
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Havelseite. Das alles liegt nach Westen zu, da haben Sie Kultur und höhere
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Gesittung. Aber nun gehen Sie, meine Gnädigste, nach der anderen Seite
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hin, die Spree hinauf. Ich spreche nicht von Treptow und Stralau, das sind
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Bagatellen, Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die Spezialkarte zur Hand
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nehmen wollen, da begegnen Sie neben mindestens sonderbaren Namen
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wie Kiekebusch, wie Wuhlheide – Sie hätten hören sollen, wie Zwicker das
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Wort aussprach – Namen von geradezu brutalem Charakter, mit denen ich
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Ihr Ohr nicht verletzen will. Aber natürlich sind das gerade die Plätze, die
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bevorzugt werden. Ich hasse diese Landpartien, die sich das Volksgemüt
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als eine Kremserpartie mit 'Ich bin ein Preuße' vorstellt, in Wahrheit aber
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schlummern hier die Keime einer sozialen Revolution. Wenn ich sage
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soziale Revolution', so meine ich natürlich moralische Revolution, alles
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andere ist bereits wieder überholt, und schon Zwicker sagte mir noch in
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seinen letzten Tagen: 'Glaube mir, Sophie, Saturn frißt seine Kinder.' Und
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Zwicker, welche Mängel und Gebrechen er haben mochte, das bin ich ihm
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schuldig, er war ein philosophischer Kopf und hatte ein natürliches Gefühl
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für historische Entwicklung ... Aber ich sehe, meine liebe Frau von
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Innstetten, so artig sie sonst ist, hört nur noch mit halbem Ohr zu;
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natürlich, der Postbote hat sich drüben blicken lassen, und da fliegt denn
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das Herz hinüber und nimmt die Liebesworte vorweg aus dem Brief heraus
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... Nun, Böselager, was bringen Sie?«
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Der Angeredete war mittlerweile bis an den Tisch herangetreten und
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packte aus: mehrere Zeitungen, zwei Friseuranzeigen und zuletzt auch
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einen großen eingeschriebenen Brief an Frau Baronin von Innstetten, geb.
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von Briest.
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Die Empfängerin unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder. Die
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Zwicker aber überflog die Friseuranzeigen und lachte über die
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Preisermäßigung von Shampooing.
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Effi hörte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen Brief zwischen
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den Fingern und hatte eine ihr unerklärliche Scheu, ihn zu öffnen.
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Eingeschrieben und mit zwei großen Siegeln und ein dickes Kuvert. Was
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bedeutete das? Poststempel: »Hohen-Cremmen«, und die Adresse von der
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Handschrift der Mutter. Von Innstetten, es war der fünfte Tag, keine Zeile.
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Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die Längsseite
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des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer eine neue Überraschung. Der
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Briefbogen, ja, das waren eng beschriebene Zeilen von der Mama, darin
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eingelegt aber waren Geldscheine mit einem breiten Papierstreifen
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drumherum, auf dem mit Rotstift, und zwar von des Vaters Hand, der Betrag
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der eingelegten Summe verzeichnet war. Sie schob das Konvolut zurück
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und begann zu lesen, während sie sich in den Schaukelstuhl zurücklehnte.
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Aber sie kam nicht weit, die Zeilen entfielen ihr, und aus ihrem Gesicht war
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alles Blut fort. Dann bückte sie sich und nahm den Brief wieder auf. »Was
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ist Ihnen, liebe Freundin? Schlechte Nachrichten?« Effi nickte, gab aber
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weiter keine Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als
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sie getrunken, sagte sie: »Es wird vorübergehen, liebe Geheimrätin, aber
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ich möchte mich doch einen Augenblick zurückziehen ... Wenn Sie mir Afra
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schicken könnten.«
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Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurück, wo sie sichtlich froh
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war, einen Halt gewonnen und sich an dem Palisanderflügel entlangfühlen
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zu können. So kam sie bis an ihr nach rechts hin gelegenes Zimmer, und
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als sie hier, tappend und suchend, die Tür geöffnet und das Bett an der
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Wand gegenüber erreicht hatte, brach sie ohnmächtig zusammen.