10. Kapitel
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Innstetten war erst sechs Uhr früh von Varzin zurückgekommen und hatte
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sich, Rollos Liebkosungen abwehrend, so leise wie möglich in sein Zimmer
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zurückgezogen. Er machte sich's hier bequem und duldete nur, daß ihn
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Friedrich mit einer Reisedecke zudeckte.
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»Wecke mich um neun!«
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Und um diese Stunde war er denn auch geweckt worden. Er stand rasch
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auf und sagte: »Bring das Frühstück!«
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»Die gnädige Frau schläft noch.«
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»Aber es ist ja schon spät. Ist etwas passiert?«
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»Ich weiß es nicht; ich weiß nur, Johanna hat die Nacht über im Zimmer
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der gnädigen Frau schlafen müssen.«
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»Nun, dann schicke Johanna.«
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Diese kam denn auch. Sie hatte denselben rosigen Teint wie immer,
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schien sich also die Vorgänge der Nacht nicht sonderlich zu Gemüte
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genommen zu haben.
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»Was ist das mit der gnäd'gen Frau? Friedrich sagt mir, es Sei was
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passiert und Sie hätten drüben geschlafen.«
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»Ja, Herr Baron. Gnäd'ge Frau klingelte dreimal ganz rasch
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hintereinander, daß ich gleich dachte, es bedeutet was. Und so war es
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auch. Sie hat wohl geträumt, aber vielleicht war es auch das andere.«
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»Welches andere?«
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»Ach, der gnäd'ge Herr wissen ja.«
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»Ich weiß nichts. Jedenfalls muß ein Ende damit gemacht werden. Und
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wie fanden Sie die Frau?«
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»Sie war wie außer sich und hielt das Halsband von Rollo, der neben dem
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Bett der gnäd'gen Frau stand, fest umklammert. Und das Tier ängstigte sich
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auch.«
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»Und was hatte sie geträumt oder meinetwegen auch, was hatte sie
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gehört oder gesehen? Was sagte sie?«
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»Es sei so hingeschlichen, dicht an ihr vorbei.«
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Was? Wer?«
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»Der von oben. Der aus dem Saal oder aus der kleinen Kammer. «
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»Unsinn, sag ich. Immer wieder das alberne Zeug; ich mag davon nicht
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mehr hören. Und dann blieben Sie bei der Frau?«
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»Ja, gnäd'ger Herr. Ich machte mir ein Lager an der Erde dicht neben ihr.
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Und ich mußte ihre Hand halten, und dann schlief sie ein.«
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»Und sie schläft noch?«
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Ganz fest.«
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»Das ist mir ängstlich, Johanna. Man kann sich gesund schlafen, aber
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auch krank. Wir müssen sie wecken, natürlich vorsichtig, daß sie nicht
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wieder erschrickt. Und Friedrich soll das Frühstück nicht bringen; ich will
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warten, bis die gnäd'ge Frau da ist. Und machen Sie's geschickt.«
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Eine halbe Stunde später kam Effi. Sie sah reizend aus, ganz blaß, und
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stützte sich auf Johanna. Als sie aber Innstettens ansichtig wurde, stürzte
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sie auf ihn zu und umarmte und küßte ihn. Und dabei liefen ihr die Tränen
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übers Gesicht. »Ach, Geert, Gott sei Dank, daß du da bist. Nun ist alles
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wieder gut. Du darfst nicht wieder fort, du darfst mich nicht wieder allein
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lassen.«
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»Meine liebe Effi ... Stellen Sie hin, Friedrich, ich werde schon alles
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zurechtmachen ... Meine liebe Effi, ich lasse dich ja nicht allein aus
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Rücksichtslosigkeit oder Laune, sondern weil es so sein muß; ich habe
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keine Wahl, ich bin ein Mann im Dienst, ich kann zum Fürsten oder auch zur
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Fürstin nicht sagen: Durchlaucht, ich kann nicht kommen, meine Frau ist
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so allein, oder meine Frau fürchtet sich. Wenn ich das sagte, würden wir in
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einem ziemlich komischen Licht dastehen, ich gewiß und du auch. Aber
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nimm erst eine Tasse Kaffee.«
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Effi trank, was sie sichtlich belebte. Dann ergriff sie wieder ihres Mannes
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Hand und sagte: »Du sollst recht haben; ich sehe ein, das geht nicht. Und
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dann wollen wir ja auch höher hinauf. Ich sage wir, denn ich bin eigentlich
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begieriger danach als du ...«
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»So sind alle Frauen«, lachte Innstetten.
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»Also abgemacht; du nimmst die Einladungen an nach wie vor, und ich
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bleibe hier und warte auf meinen 'hohen Herrn', wobei mir Hulda unterm
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Holunderbaum einfällt. Wie's ihr wohl gehen mag?«
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»Damen wie Hulda geht es immer gut. Aber was wolltest du noch sagen?«
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»Ich wollte sagen, ich bleibe hier und auch allein, wenn es sein muß. Aber
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nicht in diesem Hause. Laß uns die Wohnung wechseln. Es gibt so hübsche
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Häuser am Bollwerk, eins zwischen Konsul Martens und Konsul
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Grützmacher und eins am Markt, gerade gegenüber von Gieshübler; warum
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können wir da nicht wohnen? Warum gerade hier? Ich habe, wenn wir
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Freunde und Verwandte zum Besuch hatten, oft gehört, daß in Berlin
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Familien ausziehen wegen Klavierspiel oder wegen Schwaben oder wegen
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einer unfreundlichen Portiersfrau; wenn das um solcher Kleinigkeiten
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willen geschieht ...«
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»Kleinigkeiten? Portiersfrau? Das sage nicht ...«
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»Wenn das um solcher Dinge willen möglich ist, so muß es doch auch
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hier möglich sein, wo du Landrat bist und die Leute dir zu Willen sind und
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viele selbst zu Dank verpflichtet. Gieshübler würde uns gewiß dabei
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behilflich sein, wenn auch nur um meinetwegen, denn er wird Mitleid mit
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mir haben. Und nun sage, Geert, wollen wir dies verwunschene Haus
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aufgeben, dies Haus mit dem ...«
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»... Chinesen, willst du sagen. Du siehst, Effi, man kann das furchtbare
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Wort aussprechen, ohne daß er erscheint. Was du da gesehen hast oder
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was da, wie du meinst, an deinem Bett vorüberschlich, das war der kleine
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Chinese, den die Mädchen oben an die Stuhllehne geklebt haben; ich wette,
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daß er einen blauen Rock anhatte und einen ganz flachen Deckelhut mit
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einem blanken Knopf oben.«
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Sie nickte.
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»Nun, siehst du, Traum, Sinnestäuschung. Und dann wird dir Johanna
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wohl gestern abend was erzählt haben, von der Hochzeit hier oben ...«
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»Nein. «
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»Desto besser.«
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»Kein Wort hat sie mir erzählt. Aber ich sehe doch aus dem allen, daß es
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hier etwas Sonderbares gibt. Und dann das Krokodil; es ist alles so
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unheimlich.«
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»Den ersten Abend, als du das Krokodil sahst, fandest du's märchenhaft
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...«
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»Ja, damals ...«
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»... Und dann, Effi, kann ich hier nicht gut fort, auch wenn es möglich
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wäre, das Haus zu verkaufen oder einen Tausch zu machen. Es ist damit
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ganz wie mit einer Absage nach Varzin hin. Ich kann hier in der Stadt die
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Leute nicht sagen lassen, Landrat Innstetten verkauft sein Haus, weil seine
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Frau den aufgeklebten kleinen Chinesen als Spuk an ihrem Bett gesehen
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hat. Dann bin ich verloren, Effi. Von solcher Lächerlichkeit kann man sich
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nie wieder erholen.«
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»Ja, Geert, bist du denn so sicher, daß es so was nicht gibt?«
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Will ich nicht behaupten. Es ist eine Sache, die man glauben und noch
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besser nicht glauben kann. Aber angenommen, es gäbe dergleichen, was
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schadet es? Daß in der Luft Bazillen herumfliegen, von denen du gehört
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haben wirst, ist viel schlimmer und gefährlicher als diese ganze
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Geistertummelage. Vorausgesetzt, daß sie sich tummeln, daß so was
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wirklich existiert. Und dann bin ich überrascht, solcher Furcht und
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Abneigung gerade bei dir zu begegnen, bei einer Briest Das ist ja, wie wenn
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du aus einem kleinen Bürgerhause stammtest. Spuk ist ein Vorzug, wie
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Stammbaum und dergleichen, und ich kenne Familien, die sich ebensogern
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ihr Wappen nehmen ließen als ihre 'weiße Frau', die natürlich auch eine
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schwarze sein kann.«
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Effi schwieg.
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»Nun, Effi. Keine Antwort?«
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»Was soll ich antworten? Ich habe dir nachgegeben und mich willig
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gezeigt, aber ich finde doch, daß du deinerseits teilnahmsvoller sein
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könntest. Wenn du wüßtest, wie mir gerade danach verlangt. Ich habe sehr
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gelitten, wirklich sehr, und als ich dich sah, da dacht ich, nun würd ich frei
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werden von meiner Angst. Aber du sagst mir bloß, daß du nicht Lust
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hättest, dich lächerlich zu machen, nicht vor dem Fürsten und auch nicht
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vor der Stadt. Das ist ein geringer Trost. Ich finde es wenig und um so
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weniger, als du dir schließlich auch noch widersprichst und nicht bloß
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persönlich an diese Dinge zu glauben scheinst, sondern auch noch einen
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adligen Spukstolz von mir forderst. Nun, den hab ich nicht. Und wenn du
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von Familien sprichst, denen ihr Spuk soviel wert sei wie ihr Wappen, so ist
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das Geschmackssache: Mir gilt mein Wappen mehr. Gott sei Dank haben
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wir Briests keinen Spuk. Die Briests waren immer sehr gute Leute, und
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damit hängt es wohl zusammen.«
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Der Streit hätte wohl noch angedauert und vielleicht zu einer ersten
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ernstlichen Verstimmung geführt, wenn Friedrich nicht eingetreten wäre,
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um der gnädigen Frau einen Brief zu übergeben. »Von Herrn Gieshübler.
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Der Bote wartet auf Antwort. «
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Aller Unmut auf Effis Antlitz war sofort verschwunden; schon bloß
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Gieshüblers Namen zu hören tat Effi wohl, und ihr Wohlgefühl steigerte
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sich, als sie jetzt den Brief musterte. Zunächst war es gar kein Brief,
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sondern ein Billett, die Adresse »Frau Baronin von Innstetten, geb. von
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Briest« in wundervoller Kanzleihandschrift und statt des Siegels ein
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aufgeklebtes rundes Bildchen, eine Lyra, darin ein Stab steckte. Dieser
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Stab konnte aber auch ein Pfeil sein. Sie reichte das Billett ihrem Mann, der
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es ebenfalls bewunderte. »Nun lies aber.«
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Und nun löste Effi die Oblate und las: »Hochverehrteste Frau, gnädigste
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Frau Baronin! Gestatten Sie mir, meinem respektvollsten Vormittagsgruß
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eine ganz gehorsamste Bitte hinzufügen zu dürfen. Mit dem Mittagszug
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wird eine vieljährige liebe Freundin von mir, eine Tochter unserer Guten
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Stadt Kessin, Fräulein Marietta Trippelli, hier eintreffen und bis morgen früh
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unter uns weilen. Am 17. will sie in Petersburg sein, um daselbst bis Mitte
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Januar zu konzertieren. Fürst Kotschukoff öffnet ihr auch diesmal wieder
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sein gastliches Haus. In ihrer immer gleichen Güte gegen mich hat die
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Trippelli mir zugesagt, den heutigen Abend bei mir zubringen und einige
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Lieder ganz nach meiner Wahl (denn sie kennt keine Schwierigkeiten)
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vortragen zu wollen. Könnten sich Frau Baronin dazu verstehen, diesem
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Musikabend beizuwohnen? Sieben Uhr. Ihr Herr Gemahl, auf dessen
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Erscheinen ich mit Sicherheit rechne, wird meine gehorsamste Bitte
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unterstützen. Anwesend nur Pastor Lindequist (der begleitet) und natürlich
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die verwitwete Frau Pastorin Trippel. In vorzüglicher Ergebenheit A.
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Gieshübler.«
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»Nun –«, sagte Innstetten, »ja oder nein?«
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»Natürlich ja. Das wird mich herausreißen. Und dann kann ich doch
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meinem lieben Gieshübler nicht gleich bei seiner ersten Einladung einen
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Korb geben.«
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»Einverstanden. Also Friedrich, sagen Sie Mirambo, der doch wohl das
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Billett gebracht haben wird, wir würden die Ehre haben.« Friedrich ging.
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Als er fort war, fragte Effi: »Wer ist Mirambo?«
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»Der echte Mirambo ist Räuberhauptmann in Afrika –Tanganjika-See,
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wenn deine Geographie so weit reicht –, unserer aber ist bloß Gieshüblers
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Kohlenprovisor und Faktotum und wird heute abend in Frack und
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baumwollenen Handschuhen sehr wahrscheinlich aufwarten.«
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Es war ganz ersichtlich, daß der kleine Zwischenfall auf Effi günstig
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eingewirkt und ihr ein gut Teil ihrer Leichtlebigkeit zurückgegeben hatte,
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Innstetten aber wollte das Seine tun, diese Rekonvaleszens zu steigern.
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»Ich freue mich, daß du ja gesagt hast und so rasch und ohne Besinnen,
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und nun möcht ich dir noch einen Vorschlag machen, um dich ganz wieder
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in Ordnung zu bringen. Ich sehe wohl, es schleicht dir von der Nacht her
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etwas nach, das zu meiner Effi nicht paßt, das durchaus wieder fort muß,
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und dazu gibt es nichts Besseres als frische Luft. Das Wetter ist prachtvoll,
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frisch und milde zugleich, kaum daß ein Lüftchen geht; was meinst du,
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wenn wir eine Spazierfahrt machten, aber eine lange, nicht bloß so durch
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die Plantage hin, und natürlich im Schlitten und das Geläut auf und die
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weißen Schneedecken, und wenn wir dann um vier zurück sind, dann ruhst
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du dich aus, und um sieben sind wir bei Gieshübler und hören die
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Trippelli.«
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Effi nahm seine Hand. »Wie gut du bist, Geert, und wie nachsichtig. Denn
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ich muß dir ja kindisch oder doch wenigstens sehr kindlich vorgekommen
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sein; erst das mit meiner Angst und dann hinterher, daß ich dir einen
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Hausverkauf, und was noch schlimmer ist, das mit dem Fürsten ansinne.
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Du sollst ihm den Stuhl vor die Tür setzen – es ist zum Lachen. Denn
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schließlich ist er doch der Mann, der über uns entscheidet. Auch über mich.
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Du glaubst gar nicht, wie ehrgeizig ich bin. Ich habe dich eigentlich bloß
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aus Ehrgeiz geheiratet. Aber du mußt nicht solch ernstes Gesicht dabei
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machen. Ich liebe dich ja ... wie heißt es doch, wenn man einen Zweig
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abbricht und die Blätter abreißt? Von Herzen mit Schmerzen, über alle
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Maßen.«
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Und sie lachte hell auf. »Und nun sage mir«, fuhr sie fort, als Innstetten
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noch immer schwieg, wo soll es hingehen?«
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Ich habe mir gedacht, nach der Bahnstation, aber auf einem Umweg, und
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dann auf der Chaussee zurück. Und auf der Station essen wir oder noch
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besser bei Golchowski, in dem Gasthof 'Zum Fürsten Bismarck', dran wir,
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wenn du dich vielleicht erinnerst, am Tag unserer Ankunft vorüberkamen.
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Solch Vorsprechen wirkt immer gut, und ich habe dann mit dem Starosten
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von Effis Gnaden ein Wahlgespräch, und wenn er auch persönlich nicht viel
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taugt, seine Wirtschaft hält er in Ordnung und seine Küche noch besser.
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Auf Essen und Trinken verstehen sich die Leute hier.«
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Es war gegen elf, daß sie dies Gespräch führten. Um zwölf hielt Kruse mit
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dem Schlitten vor der Tür, und Effi stieg ein. Johanna wollte Fußsack und
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Pelze bringen, aber Effi hatte nach allem, was noch auf ihr lag, so sehr das
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Bedürfnis nach frischer Luft, daß sie alles zurückwies und nur eine
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doppelte Decke nahm. Innstetten aber sagte zu Kruse: »Kruse, wir wollen
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nun also nach dem Bahnhof, wo wir zwei beide heute früh schon mal
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waren. Die Leute werden sich wundern, aber es schadet nichts. Ich denke,
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wir fahren hier an der Plantage entlang und dann links auf den
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Kroschentiner Kirchturm zu. Lassen Sie die Pferde laufen. Um eins müssen
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wir am Bahnhof sein.«
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Und so ging die Fahrt. Über den weißen Dächern der Stadt stand der
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Rauch, denn die Luftbewegung war gering. Auch Utpatels Mühle drehte
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sich nur langsam, und im Fluge fuhren sie daran vorüber, dicht am
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Kirchhofe hin, dessen Berberitzensträucher über das Gitter hinauswuchsen
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und mit ihren Spitzen Effi streiften, so daß der Schnee auf ihre Reisedecke
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fiel. Auf der anderen Seite des Weges war ein eingefriedeter Platz, nicht viel
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größer als ein Gartenbeet, und innerhalb nichts sichtbar als eine junge
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Kiefer, die mitten daraus hervorragte.
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»Liegt da auch wer begraben?« fragte Effi. »Ja, der Chinese.«
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Effi fuhr zusammen; es war ihr wie ein Stich. Aber sie hatte doch Kraft
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genug, sich zu beherrschen, und fragte mit anscheinender Ruhe:
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»Unserer? «
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»Ja, unserer. Auf dem Gemeindekirchhof war er natürlich nicht
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unterzubringen, und da hat denn Kapitän Thomsen, der so was wie sein
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Freund war, diese Stelle gekauft und ihn hier begraben lassen. Es ist auch
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ein Stein da mit Inschrift. Alles natürlich vor meiner Zeit. Aber es wird noch
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immer davon gesprochen.«
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»Also ist es doch was damit. Eine Geschichte. Du sagtest schon heute
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früh so was. Und es wird am Ende das beste sein, ich höre, was es ist.
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Solange ich es nicht weiß, bin ich, trotz aller guten Vorsätze, noch immer
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ein Opfer meiner Vorstellungen. Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit
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kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie.«
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»Bravo, Effi Ich wollte nicht davon sprechen. Aber nun macht es sich so
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von selbst, und das ist gut. Übrigens ist es eigentlich gar nichts.«
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»Mir gleich; gar nichts oder viel oder wenig. Fange nur an.«
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»Ja, das ist leicht gesagt. Der Anfang ist immer das schwerste, auch bei
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Geschichten. Nun, ich denke, ich beginne mit Kapitän Thomsen.«
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»Gut, gut.«
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»Also Thomsen, den ich dir schon genannt habe, war viele Jahre lang ein
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sogenannter Chinafahrer, immer mit Reisfracht zwischen Schanghai und
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Singapur, und mochte wohl schon sechzig sein, als er hier ankam. Ich weiß
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nicht, ob er hier geboren war oder ob er andere Beziehungen hier hatte.
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Kurz und gut, er war nun da und verkaufte sein Schiff, einen alten Kasten,
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draus er nicht viel herausschlug, und kaufte sich ein Haus, dasselbe, drin
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wir jetzt wohnen. Denn er war draußen in der Welt ein vermögender Mann
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geworden. Und von daher schreibt sich auch das Krokodil und der Haifisch
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und natürlich auch das Schiff ... Also Thomsen war nun da, ein sehr
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adretter Mann (so wenigstens hat man mir gesagt) und wohlgelitten. Auch
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beim Bürgermeister Kirstein, vor allem bei dem damaligen Pastor in Kessin,
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einem Berliner, der kurz vor Thomsen auch hierhergekommen war und viel
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Anfeindung hatte.«
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»Glaub ich. Ich merke das auch; sie sind hier so streng und
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selbstgerecht. Ich glaube, das ist pommersch.«
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»Ja und nein, je nachdem. Es gibt auch Gegenden, wo sie gar nicht
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streng sind und wo's drunter und drüber geht... Aber sieh nur, Effi, da
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haben wir gerade den Kroschentiner Kirchturm dicht vor uns. Wollen wir
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nicht den Bahnhof aufgeben und lieber bei der alten Frau von Grasenabb
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vorfahren? Sidonie, wenn ich recht berichtet bin, ist nicht zu Hause. Wir
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könnten es also wagen ...«
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»Ich bitte dich, Geert, wo denkst du hin? Es ist ja himmlisch, so
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hinzufliegen, und ich fühle ordentlich, wie mir so frei wird und wie alle
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Angst von mir abfällt. Und nun soll ich das alles aufgeben, bloß um den
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alten Leuten eine Stippvisite zu machen und ihnen sehr wahrscheinlich
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eine Verlegenheit zu schaffen. Um Gottes willen nicht. Und dann will ich vor
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allem auch die Geschichte hören. Also wir waren bei Kapitän Thomsen, den
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ich mir als einen Dänen oder Engländer denke, sehr sauber, mit weißen
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Vatermördern und ganz weißer Wäsche ...«
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»Ganz richtig. So soll er gewesen sein. Und mit ihm war eine junge
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Person von etwa zwanzig, von der einige sagen, sie sei seine Nichte
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gewesen, aber die meisten sagen, seine Enkelin, was übrigens den Jahren
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nach kaum möglich. Und außer der Enkelin oder der Nichte war da auch
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noch ein Chinese, derselbe, der da zwischen den Dünen liegt und an
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dessen Grab wir eben vorübergekommen sind.«
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»Gut, gut.«
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»Also dieser Chinese war Diener bei Thomsen, und Thomsen hielt so
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große Stücke auf ihn, daß er eigentlich mehr Freund als Diener war. Und
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das ging so Jahr und Tag. Da mit einem Male hieß es, Thomsens Enkelin,
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die, glaub ich, Nina hieß, solle sich, nach des Alten Wunsch, verheiraten,
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auch mit einem Kapitän. Und richtig, so war es auch. Es gab eine große
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Hochzeit im Hause, der Berliner Pastor tat sie zusammen, und Müller
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Utpatel, der ein Konventikler war, und Gieshübler, dem man in der Stadt in
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kirchlichen Dingen auch nicht recht traute, waren geladen und vor allem
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viele Kapitäne mit ihren Frauen und Töchtern. Und wie man sich denken
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kann, es ging hoch her. Am Abend aber war Tanz, und die Braut tanzte mit
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jedem und zuletzt auch mit dem Chinesen. Da mit einemmal hieß es, sie sei
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fort, die Braut nämlich. Und sie war auch wirklich fort, irgendwohin, und
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niemand weiß, was da vorgefallen. Und nach vierzehn Tagen starb der
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Chinese; Thomsen kaufte die Stelle, die ich dir gezeigt habe, und da wurd
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er begraben. Der Berliner Pastor aber soll gesagt haben, man hätte ihn
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auch ruhig auf dem christlichen Kirchhof begraben können, denn der
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Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen und geradesogut wie die
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anderen. Wen er mit den 'anderen' eigentlich gemeint hat, sagte mir
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Gieshübler, das wisse man nicht recht.«
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»Aber ich bin in dieser Sache doch ganz und gar gegen den Pastor; so
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was darf man nicht aussprechen, weil es gewagt und unpassend ist. Das
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würde selbst Niemeyer nicht gesagt haben.«
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»Und das ist auch dem armen Pastor, der übrigens Trippel hieß, sehr
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verdacht worden, so daß es eigentlich ein Glück war, daß er drüberhin
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starb, sonst hätte er seine Stelle verloren. Denn die Stadt, trotzdem sie ihn
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gewählt, war doch auch gegen ihn, geradeso wie du, und das Konsistorium
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natürlich erst recht.«
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»Trippel, sagst du? Dann hängt er am Ende mit der Frau Pastor Trippel
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zusammen, die wir heute abend sehen sollen?«
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Natürlich hängt er mit der zusammen. Er war ihr Mann und ist der Vater
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von der Trippelli.«
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Effi lachte. »Von der Trippelli! Nun sehe ich erst klar in allem. Daß sie in
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Kessin geboren, schrieb ja schon Gieshübler; aber ich dachte, sie sei die
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Tochter von einem italienischen Konsul. Wir haben ja so viele
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fremdländische Namen hier. Und nun ist sie gut deutsch und stammt von
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Trippel. Ist sie denn so vorzüglich, daß sie wagen konnte, sich so zu
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italienisieren?«
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»Dem Mutigen gehört die Welt. Übrigens ist sie ganz tüchtig. Sie war ein
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paar Jahre lang in Paris bei der berühmten Viardot, wo sie auch den
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russischen Fürsten kennenlernte, denn die russischen Fürsten sind sehr
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aufgeklärt, über kleine Standesvorurteile weg, und Kotschukoff und
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Gieshübler – den sie übrigens 'Onkel' nennt, und man kann fast von ihm
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sagen, er sei der geborene Onkel –, diese beiden sind es recht eigentlich,
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die die kleine Marie Trippel zu dem gemacht haben, was sie jetzt ist.
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Gieshübler war es, durch den sie nach Paris kam, und Kotschukoff hat sie
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dann in die Trippelli transponiert. «
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»Ach, Geert, wie reizend ist das alles, und welch Alltagsleben habe ich
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doch in Hohen-Cremmen geführt! Nie was Apartes.«
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Innstetten nahm ihre Hand und sagte: »So darfst du nicht sprechen, Effi.
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Spuk, dazu kann man sich stellen, wie man will. Aber hüte dich vor dem
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Aparten oder was man so das Aparte nennt. Was dir so verlockend
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erscheint – und ich rechne auch ein Leben dahin, wie's die Trippelli führt –,
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das bezahlt man in der Regel mit seinem Glück. Ich weiß wohl, wie sehr du
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dein Hohen-Cremmen liebst und daran hängst, aber du spottest doch auch
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oft darüber und hast keine Ahnung davon, was stille Tage, wie die
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Hohen-Cremmer, bedeuten. «
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»Doch, doch«, sagte sie. »Ich weiß es wohl. Ich höre nur gern einmal von
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etwas anderem, und dann wandelt mich die Lust an, mit dabeizusein. Aber
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du hast ganz recht. Und eigentlich hab ich doch eine Sehnsucht nach Ruh
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und Frieden.«
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Innstetten drohte ihr mit dem Finger. »Meine einzig liebe Effi, das denkst
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du dir nun auch wieder so aus. Immer Phantasien, mal so, mal so.«