Abschnitt 11
2
Nun begab es sich, daß gegen Abend, da die Herrschaften vom Wein und
3
dem Genuß eines üppigen Nachtisches zerstreut, den ganzen Vorfall wieder
4
vergessen hatten, der Landdrost den Gedanken auf die Bahn brachte, sich
5
noch einmal, eines Rudels Hirsche wegen, der sich hatte blicken lassen, auf
6
den Anstand zu stellen; welchen Vorschlag die ganze Gesellschaft mit
7
Freuden ergriff, und paarweise nachdem sie sich mit Büchsen versorgt,
8
über Gräben und Hecken in die nahe Forst eilte: dergestalt, daß der Kurfürst
9
und die Dame Heloise, die sich, um dem Schauspiel beizuwohnen, an
10
seinen Arm hing, von einem Boten, den man ihnen zugeordnet hatte,
11
unmittelbar, zu ihrem Erstaunen, durch den Hof des Hauses geführt wurden,
12
in welchem Kohlhaas mit den brandenburgischen Reutern befindlich war.
13
Die Dame als sie dies hörte, sagte: »kommt, gnädigster Herr, kommt!« und
14
versteckte die Kette, die ihm vom Halse herabhing, schäkernd in seinen
15
seidenen Brustlatz: »laßt uns ehe der Troß nachkommt in die Meierei
16
schleichen, und den wunderlichen Mann, der darin übernachtet,
17
betrachten!« Der Kurfürst, indem er errötend ihre Hand ergriff, sagte:
18
Heloise! was fällt Euch ein? Doch da sie, indem sie ihn betreten ansah,
19
versetzte: »daß ihn ja in der Jägertracht, die ihn decke, kein Mensch
20
erkenne!« und ihn fortzog; und in eben diesem Augenblick ein paar
21
Jagdjunker, die ihre Neugierde schon befriedigt hatten, aus dem Hause
22
heraustreten, versichernd, daß in der Tat, vermöge einer Veranstaltung, die
23
der Landdrost getroffen, weder der Ritter noch der Roßhändler wisse,
24
welche Gesellschaft in der Gegend von Dahme versammelt sei; so drückte
25
der Kurfürst sich den Hut lächelnd in die Augen, und sagte: »Torheit, du
26
regierst die Welt, und dein Sitz ist ein schöner weiblicher Mund!« – Es traf
27
sich daß Kohlhaas eben mit dem Rücken gegen die Wand auf einem Bund
28
Stroh saß, und sein, ihm in Herzberg erkranktes Kind mit Semmel und Milch
29
fütterte, als die Herrschaften, um ihn zu besuchen, in die Meierei traten; und
30
da die Dame ihn, um ein Gespräch einzuleiten, fragte: wer er sei? und was
31
dem Kinde fehle? auch was er verbrochen und wohin man ihn unter solcher
32
Bedeckung abführe? so rückte er seine lederne Mütze vor ihr, und gab ihr
33
auf alle diese Fragen, indem er sein Geschäft fortsetzte, unreichliche aber
34
befriedigende Antwort. Der Kurfürst, der hinter den Jagdjunkern stand, und
35
eine kleine bleierne Kapsel, die ihm an einem seidenen Faden vom Halse
36
herabhing, bemerkte, fragte ihn, da sich grade nichts Besseres zur
37
Unterhaltung darbot: was diese zu bedeuten hätte und was darin befindlich
38
wäre? Kohlhaas erwiderte: »ja, gestrenger Herr, diese Kapsel!« – und damit
39
streifte er sie vom Nacken ab, öffnete sie und nahm einen kleinen mit
40
Mundlack versiegelten Zettel heraus – »mit dieser Kugel hat es eine
41
wunderliche Bewandtnis! Sieben Monden mögen es etwa sein, genau am
42
Tage nach dem Begräbnis meiner Frau; und von Kohlhaasenbrück, wie
43
Euch vielleicht bekannt sein wird, war ich aufgebrochen, um des Junkers
44
von Tronka, der mir viel Unrecht zugefügt, habhaft zu werden, als um einer
45
Verhandlung willen, die mir unbekannt ist, der Kurfürst von Sachsen und
46
der Kurfürst von Brandenburg in Jüterbock, einem Marktflecken, durch den
47
der Streifzug mich führte, eine Zusammenkunft hielten; und da sie sich
48
gegen Abend ihren Wünschen gemäß vereinigt hatten, so gingen sie, in
49
freundschaftlichem Gespräch, durch die Straßen der Stadt, um den
50
Jahrmarkt, der eben darin fröhlich abgehalten ward, in Augenschein zu
51
nehmen. Da trafen sie auf eine Zigeunerin, die, auf einem Schemel sitzend,
52
dem Volk, das sie umringte, aus dem Kalender wahrsagte, und fragten sie
53
scherzhafter Weise: ob sie ihnen nicht auch etwas, das ihnen lieb wäre, zu
54
eröffnen hätte? Ich, der mit meinem Haufen eben in einem Wirtshause
55
abgestiegen, und auf dem Platz, wo dieser Vorfall sich zutrug, gegenwärtig
56
war, konnte hinter allem Volk, am Eingang einer Kirche, wo ich stand, nicht
57
vernehmen, was die wunderliche Frau den Herren sagte; dergestalt, daß, da
58
die Leute lachend einander zuflüsterten, sie teile nicht jedermann ihre
59
Wissenschaft mit, und sich des Schauspiels wegen das sich bereitete, sehr
60
bedrängten, ich, weniger neugierig, in der Tat, als um den Neugierigen Platz
61
zu machen, auf eine Bank stieg, die hinter mir im Kircheneingange
62
ausgehauen war. Kaum hatte ich von diesem Standpunkt aus, mit völliger
63
Freiheit der Aussicht, die Herrschaften und das Weib, das auf dem Schemel
64
vor ihnen saß und etwas aufzukritzeln schien, erblickt: da steht sie plötzlich
65
auf ihre Krücken gelehnt, indem sie sich im Volk umsieht, auf; faßt mich,
66
der nie ein Wort mit ihr wechselte, noch ihrer Wissenschaft Zeit seines
67
Lebens begehrte, ins Auge; drängt sich durch den ganzen dichten Auflauf
68
der Menschen zu mir heran und spricht: ›da! wenn es der Herr wissen will,
69
so mag er dich danach fragen!‹ Und damit, gestrenger Herr, reichte sie mir
70
mit ihren dürren knöchernen Händen diesen Zettel dar. Und da ich betreten,
71
während sich alles Volk zu mir umwendet, spreche: Mütterchen, was auch
72
verehrst du mir da? antwortete sie, nach vielem unvernehmlichen Zeug,
73
worunter ich jedoch zu meinem großen Befremden meinen Namen höre:
74
›ein Amulett, Kohlhaas, der Roßhändler; verwahr es wohl, es wird dir
75
dereinst das Leben retten!‹ und verschwindet. – Nun!« fuhr Kohlhaas
76
gutmütig fort: »die Wahrheit zu gestehen, hats mir in Dresden, so scharf es
77
herging, das Leben nicht gekostet; und wie es mir in Berlin gehen wird, und
78
ob ich auch dort damit bestehen werde, soll die Zukunft lehren.« – Bei
79
diesen Worten setzte sich der Kurfürst auf eine Bank; und ob er schon auf
80
die betretne Frage der Dame: was ihm fehle? antwortete: nichts, gar nichts!
81
so fiel er doch schon ohnmächtig auf den Boden nieder, ehe sie noch Zeit
82
hatte ihm beizuspringen, und in ihre Arme aufzunehmen. Der Ritter von
83
Malzahn, der in eben diesem Augenblick, eines Geschäfts halber, ins
84
Zimmer trat, sprach: heiliger Gott! was fehlt dem Herrn? Die Dame rief:
85
schafft Wasser her! Die Jagdjunker hoben ihn auf und trugen ihn auf ein im
86
Nebenzimmer befindliches Bett; und die Bestürzung erreichte ihren Gipfel,
87
als der Kämmerer, den ein Page herbeirief, nach mehreren vergeblichen
88
Bemühungen, ihn ins Leben zurückzubringen, erklärte: er gebe alle Zeichen
89
von sich, als ob ihn der Schlag gerührt! Der Landdrost, während der
90
Mundschenk einen reitenden Boten nach Luckau schickte, um einen Arzt
91
herbeizuholen, ließ ihn, da er die Augen aufschlug, in einen Wagen bringen,
92
und Schritt vor Schritt nach seinem in der Gegend befindlichen Jagdschloß
93
abführen; aber diese Reise zog ihm, nach seiner Ankunft daselbst, zwei
94
neue Ohnmachten zu: dergestalt, daß er sich erst spät am andern Morgen,
95
bei der Ankunft des Arztes aus Luckau, unter gleichwohl entscheidenden
96
Symptomen eines herannahenden Nervenfiebers, einigermaßen erholte.
97
Sobald er seiner Sinne mächtig geworden war, richtete er sich halb im Bette
98
auf, und seine erste Frage war gleich: wo der Kohlhaas sei? Der Kämmerer,
99
der seine Frage mißverstand, sagte, indem er seine Hand ergriff: daß er sich
100
dieses entsetzlichen Menschen wegen beruhigen möchte, indem derselbe,
101
seiner Bestimmung gemäß, nach jenem sonderbaren und unbegreiflichen
102
Vorfall, in der Meierei zu Dahme, unter brandenburgischer Bedeckung,
103
zurückgeblieben wäre. Er fragte ihn, unter der Versicherung seiner
104
lebhaftesten Teilnahme und der Beteurung, daß er seiner Frau, wegen des
105
unverantwortlichen Leichtsinns, ihn mit diesem Mann zusammenzubringen,
106
die bittersten Vorwürfe gemacht hätte: was ihn denn so wunderbar und
107
ungeheuer in der Unterredung mit demselben ergriffen hätte? Der Kurfürst
108
sagte: er müsse ihm nur gestehen, daß der Anblick eines nichtigen Zettels,
109
den der Mann in einer bleiernen Kapsel mit sich führe, schuld an dem
110
ganzen unangenehmen Zufall sei, der ihm zugestoßen. Er setzte noch
111
mancherlei zur Erklärung dieses Umstands, das der Kämmerer nicht
112
verstand, hinzu; versicherte ihn plötzlich, indem er seine Hand zwischen die
113
seinigen drückte, daß ihm der Besitz dieses Zettels von der äußersten
114
Wichtigkeit sei; und bat ihn, unverzüglich aufzusitzen, nach Dahme zu
115
reiten, und ihm den Zettel, um welchen Preis es immer sei, von demselben
116
zu erhandeln. Der Kämmerer, der Mühe hatte, seine Verlegenheit zu
117
verbergen, versicherte ihn: daß, falls dieser Zettel einigen Wert für ihn hätte,
118
nichts auf der Welt notwendiger wäre, als dem Kohlhaas diesen Umstand zu
119
verschweigen; indem, sobald derselbe durch eine unvorsichtige Äußerung
120
Kenntnis davon nähme, alle Reichtümer, die er besäße, nicht hinreichen
121
würden, ihn aus den Händen dieses grimmigen, in seiner Rachsucht
122
unersättlichen Kerls zu erkaufen. Er fügte, um ihn zu beruhigen, hinzu, daß
123
man auf ein anderes Mittel denken müsse, und daß es vielleicht durch List,
124
vermöge eines Dritten ganz Unbefangenen, indem der Bösewicht
125
wahrscheinlich, an und für sich, nicht sehr daran hänge, möglich sein
126
würde, sich den Besitz des Zettels, an dem ihm so viel gelegen sei, zu
127
verschaffen. Der Kurfürst, indem er sich den Schweiß abtrocknete, fragte:
128
ob man nicht unmittelbar zu diesem Zweck nach Dahme schicken, und den
129
weiteren Transport des Roßhändlers, vorläufig, bis man des Blattes, auf
130
welche Weise es sei, habhaft geworden, einstellen könne? Der Kämmerer,
131
der seinen Sinnen nicht traute, versetzte: daß leider allen wahrscheinlichen
132
Berechnungen zufolge, der Roßhändler Dahme bereits verlassen haben,
133
und sich jenseits der Grenze, auf brandenburgischem Grund und Boden
134
befinden müsse, wo das Unternehmen, die Fortschaffung desselben zu
135
hemmen, oder wohl gar rückgängig zu machen, die unangenehmsten und
136
weitläufigsten, ja solche Schwierigkeiten, die vielleicht gar nicht zu
137
beseitigen wären, veranlassen würde. Er fragte ihn, da der Kurfürst sich
138
schweigend, mit der Gebärde eines ganz Hoffnungslosen, auf das Kissen
139
zurücklegte: was denn der Zettel enthalte? und durch welchen Zufall
140
befremdlicher und unerklärlicher Art ihm, daß der Inhalt ihn betreffe,
141
bekannt sei? Hierauf aber, unter zweideutigen Blicken auf den Kämmerer,
142
dessen Willfährigkeit er in diesem Falle mißtraute, antwortete der Kurfürst
143
nicht: starr, mit unruhig klopfendem Herzen lag er da, und sah auf die Spitze
144
des Schnupftuches nieder, das er gedankenvoll zwischen den Händen hielt;
145
und bat ihn plötzlich, den Jagdjunker vom Stein, einen jungen, rüstigen und
146
gewandten Herrn, dessen er sich öfter schon zu geheimen Geschäften
147
bedient hatte, unter dem Vorwand, daß er ein anderweitiges Geschäft mit
148
ihm abzumachen habe, ins Zimmer zu rufen. Den Jagdjunker, nachdem er
149
ihm die Sache auseinandergelegt, und von der Wichtigkeit des Zettels, in
150
dessen Besitz der Kohlhaas war, unterrichtet hatte, fragte er, ob er sich ein
151
ewiges Recht auf seine Freundschaft erwerben, und ihm den Zettel, noch
152
ehe derselbe Berlin erreicht, verschaffen wolle? und da der Junker, sobald
153
er das Verhältnis nur, sonderbar wie es war, einigermaßen überschaute,
154
versicherte, daß er ihm mit allen seinen Kräften zu Diensten stehe: so trug
155
ihm der Kurfürst auf, dem Kohlhaas nachzureiten, und ihm, da demselben
156
mit Geld wahrscheinlich nicht beizukommen sei, in einer mit Klugheit
157
angeordneten Unterredung, Freiheit und Leben dafür anzubieten, ja ihm,
158
wenn er darauf bestehe, unmittelbar, obschon mit Vorsicht, zur Flucht aus
159
den Händen der brandenburgischen Reuter, die ihn transportierten, mit
160
Pferden, Leuten und Geld an die Hand zu gehen. Der Jagdjunker, nachdem
161
er sich ein Blatt von der Hand des Kurfürsten zur Beglaubigung
162
ausgebeten, brach auch sogleich mit einigen Knechten auf, und hatte, da er
163
den Odem der Pferde nicht sparte, das Glück, den Kohlhaas auf einem
164
Grenzdorf zu treffen, wo derselbe mit dem Ritter von Malzahn und seinen
165
fünf Kindern ein Mittagsmahl, das im Freien vor der Tür eines Hauses
166
angerichtet war, zu sich nahm. Der Ritter von Malzahn, dem der Junker sich
167
als einen Fremden, der bei seiner Durchreise den seltsamen Mann, den er
168
mit sich führe, in Augenschein zu nehmen wünsche, vorstellte, nötigte ihn
169
sogleich auf zuvorkommende Art, indem er ihn mit dem Kohlhaas bekannt
170
machte, an der Tafel nieder; und da der Ritter in Geschäften der Abreise ab
171
und zuging, die Reuter aber an einem, auf des Hauses anderer Seite
172
befindlichen Tisch, ihre Mahlzeit hielten: so traf sich die Gelegenheit bald,
173
wo der Junker dem Roßhändler eröffnen konnte, wer er sei, und in welchen
174
besonderen Aufträgen er zu ihm komme. Der Roßhändler, der bereits Rang
175
und Namen dessen, der beim Anblick der in Rede stehenden Kapsel, in der
176
Meierei zu Dahme in Ohnmacht gefallen war, kannte, und der zur Krönung
177
des Taumels, in welchen ihn diese Entdeckung versetzt hatte, nichts
178
bedurfte, als Einsicht in die Geheimnisse des Zettels, den er, um mancherlei
179
Gründe willen, entschlossen war, aus bloßer Neugierde nicht zu eröffnen:
180
der Roßhändler sagte, eingedenk der unedelmütigen und unfürstlichen
181
Behandlung, die er in Dresden, bei seiner gänzlichen Bereitwilligkeit, alle
182
nur möglichen Opfer zu bringen, hatte erfahren müssen: »daß er den Zettel
183
behalten wolle.« Auf die Frage des Jagdjunkers: was ihn zu dieser
184
sonderbaren Weigerung, da man ihm doch nichts Minderes, als Freiheit und
185
Leben dafür anbiete, veranlasse? antwortete Kohlhaas: »Edler Herr! Wenn
186
Euer Landesherr käme, und spräche, ich will mich, mit dem ganzen Troß
187
derer, die mir das Szepter führen helfen, vernichten – vernichten, versteht
188
Ihr, welches allerdings der größeste Wunsch ist, den meine Seele hegt: so
189
würde ich ihm doch den Zettel noch, der ihm mehr wert ist, als das Dasein,
190
verweigern und sprechen: du kannst mich auf das Schafott bringen, ich
191
aber kann dir weh tun, und ich wills!« Und damit, im Antlitz den Tod, rief er
192
einen Reuter herbei, unter der Aufforderung, ein gutes Stück Essen, das in
193
der Schüssel übrig geblieben war, zu sich zu nehmen; und für den ganzen
194
Rest der Stunde, die er im Flecken zubrachte, für den Junker, der an der
195
Tafel saß, wie nicht vorhanden, wandte er sich erst wieder, als er den
196
Wagen bestieg, mit einem Blick, der ihn abschiedlich grüßte, zu ihm zurück.