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Inhaltsverzeichnis

18. Kapitel

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Effi war unzufrieden mit sich und freute sich, daß es nunmehr feststand,
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diese gemeinschaftlichen Ausflüge für die ganze Winterdauer auf sich
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beruhen zu lassen. Überlegte sie, was während all dieser Wochen und Tage
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gesprochen, berührt und angedeutet war, so fand sie nichts, um
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dessentwillen sie sich direkte Vorwürfe zu machen gehabt hätte. Crampas
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war ein kluger Mann, welterfahren, humoristisch, frei, frei auch im Guten,
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und es wäre kleinlich und kümmerlich gewesen, wenn sie sich ihm
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gegenüber aufgesteift und jeden Augenblick die Regeln strengen
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Anstandes befolgt hätte. Nein, sie konnte sich nicht tadeln, auf seinen Ton
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eingegangen zu sein, und doch hatte sie ganz leise das Gefühl einer
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überstandenen Gefahr und beglückwünschte sich, daß das alles nun
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mutmaßlich hinter ihr läge. Denn an ein häufigeres Sichsehen en famille
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war nicht wohl zu denken, das war durch die Crampasschen Hauszustände
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so gut wie ausgeschlossen, und Begegnungen bei den benachbarten
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adligen Familien, die freilich für den Winter in Sicht standen, konnten
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immer nur sehr vereinzelt und sehr flüchtige sein. Effi rechnete sich dies
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alles mit wachsender Befriedigung heraus und fand schließlich, daß ihr der
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Verzicht auf das, was sie dem Verkehr mit dem Major verdankte, nicht allzu
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schwer ankommen würde. Dazu kam noch, daß Innstetten ihr mitteilte,
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seine Fahrten nach Varzin würden in diesem Jahre fortfallen: der Fürst
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gehe nach Friedrichsruh, das ihm immer lieber zu werden scheine; nach
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der einen Seite hin bedauere er das, nach der anderen sei es ihm lieb – er
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könne sich nun ganz seinem Hause widmen, und wenn es ihr recht wäre, so
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wollten sie die italienische Reise, an der Hand seiner Aufzeichnungen, noch
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einmal durchmachen. Eine solche Rekapitulation sei eigentlich die
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Hauptsache, dadurch mache man sich alles erst dauernd zu eigen, und
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selbst Dinge, die man nur flüchtig gesehen und von denen man kaum
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wisse, daß man sie in seiner Seele beherberge, kämen einem durch solche
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nachträglichen Studien erst voll zu Bewußtsein und Besitz. Er führte das
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noch weiter aus und fügte hinzu, daß ihn Gieshübler, der den ganzen
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»italienischen Stiefel« bis Palermo kenne, gebeten habe, mit dabeisein zu
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dürfen. Effi, der ein ganz gewöhnlicher Plauderabend ohne den
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»italienischen Stiefel« (es sollten sogar Fotografien herumgereicht werden)
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viel, viel lieber gewesen wäre, antwortete mit einer gewissen
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Gezwungenheit; Innstetten indessen, ganz erfüllt von seinem Plan, merkte
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nichts und fuhr fort: »Natürlich ist nicht bloß Gieshübler zugegen, auch
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Roswitha und Annie müssen dabeisein, und wenn ich mir dann denke, daß
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wir den Canale grande hinauffahren und hören dabei ganz in der Ferne die
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Gondoliere singen, während drei Schritt von uns Roswitha sich über Annie
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beugt und 'Buhküken von Halberstadt' oder so was Ähnliches zum besten
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gibt, so können das schöne Winterabende werden, und du sitzt dabei und
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strickst mir eine große Winterkappe. Was meinst du dazu, Effi ?«
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Solche Abende wurden nicht bloß geplant, sie nahmen auch ihren
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Anfang, und sie würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach über viele
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Wochen hin ausgedehnt haben, wenn nicht der unschuldige, harmlose
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Gieshübler, trotz größter Abgeneigtheit gegen zweideutiges Handeln,
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dennoch im Dienste zweier Herren gestanden hätte. Der eine, dem er
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diente, war Innstetten, der andere war Crampas, und wenn er der
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Innstettenschen Aufforderung zu den italienischen Abenden, schon um
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Effis willen, auch mit aufrichtigster Freude Folge leistete, so war die
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Freude, mit der er Crampas gehorchte, doch noch eine größere. Nach
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einem Crampasschen Plan nämlich sollte noch vor Weihnachten »Ein
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Schritt vom Wege« aufgeführt werden, und als man vor dem dritten
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italienischen Abend stand, nahm Gieshübler die Gelegenheit wahr, mit Effi,
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die die Rolle der Ella spielen sollte, darüber zu sprechen.
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Effi war wie elektrisiert; was wollten Padua, Vicenza daneben bedeuten!
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Effi war nicht für Aufgewärmtheiten; Frisches war es, wonach sie sich
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sehnte, Wechsel der Dinge. Aber als ob eine Stimme ihr zugerufen hätte:
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»Sieh dich vor!«, so fragte sie doch, inmitten ihrer freudigen Erregung:
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»Ist es der Major, der den Plan aufgebracht hat?«
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»Ja. Sie wissen, gnädigste Frau, daß er einstimmig in das
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Vergnügungskomitee gewählt wurde. Wir dürfen uns endlich einen
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hübschen Winter in der Ressource versprechen. Er ist ja wie geschaffen
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dazu.«
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»Und wird er auch mitspielen?«
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»Nein, das hat er abgelehnt. Ich muß sagen, leider. Denn er kann ja alles
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und würde den Arthur von Schmettwitz ganz vorzüglich geben. Er hat nur
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die Regie übernommen.«
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»Desto schlimmer.«
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»Desto schlimmer?« wiederholte Gieshübler.
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»Oh, Sie dürfen das nicht so feierlich nehmen; das ist nur so eine
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Redensart, die eigentlich das Gegenteil bedeutet. Auf der anderen Seite
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freilich, der Major hat so was Gewaltsames, er nimmt einem die Dinge gern
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über den Kopf fort. Und man muß dann spielen, wie er will, und nicht, wie
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man selber will.«
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Sie sprach noch so weiter und verwickelte sich immer mehr in
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Widersprüche.
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Der »Schritt vom Wege« kam wirklich zustande, und gerade weil man nur
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noch gute vierzehn Tage hatte (die letzte Woche vor Weihnachten war
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ausgeschlossen), so strengte sich alles an, und es ging vorzüglich; die
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Mitspielenden, vor allem Effi, ernteten reichen Beifall. Crampas hatte sich
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wirklich mit der Regie begnügt, und so streng er gegen alle anderen war, so
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wenig hatte er auf den Proben in Effis Spiel hineingeredet. Entweder waren
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ihm von seiten Gieshüblers Mitteilungen über das mit Effi gehabte
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Gespräch gemacht worden, oder er hatte es auch aus sich selber bemerkt,
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daß Effi beflissen war, sich von ihm zurückzuziehen. Und er war klug und
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Frauenkenner genug, um den natürlichen Entwicklungsgang, den er nach
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seinen Erfahrungen nur zu gut kannte, nicht zu stören.
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Am Theaterabend in der Ressource trennte man sich spät, und
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Mitternacht war vorüber, als Innstetten und Effi wieder zu Hause bei sich
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eintrafen. Johanna war noch auf, um behilflich zu sein, und Innstetten, der
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auf seine junge Frau nicht wenig eitel war, erzählte Johanna, wie reizend
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die gnädige Frau ausgesehen und wie gut sie gespielt habe. Schade, daß er
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nicht vorher daran gedacht, Christel und sie selber und auch die alte Unke,
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die Kruse, hätten von der Musikgalerie her sehr gut zusehen können; es
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seien viele dagewesen. Dann ging Johanna, und Effi, die müde war, legte
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sich nieder. Innstetten aber, der noch plaudern wollte, schob einen Stuhl
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heran und setzte sich an das Bett seiner Frau, diese freundlich ansehend
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und ihre Hand in der seinen haltend.
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»Ja, Effi, das war ein hübscher Abend. Ich habe mich amüsiert über das
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hübsche Stück. Und denke dir, der Dichter ist ein Kammergerichtsrat,
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eigentlich kaum zu glauben. Und noch dazu aus Königsberg. Aber worüber
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ich mich am meisten gefreut, das war doch meine entzückende kleine Frau,
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die allen die Köpfe verdreht hat.«
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»Ach, Geert, sprich nicht so. Ich bin schon gerade eitel genug.«
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»Eitel genug, das wird wohl richtig sein. Aber doch lange nicht so eitel
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wie die anderen. Und das ist zu deinen sieben Schönheiten ...«
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»Sieben Schönheiten haben alle.«
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» ... Ich habe mich auch bloß versprochen, du kannst die Zahl gut mit sich
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selbst multiplizieren.«
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»Wie galant du bist, Geert. Wenn ich dich nicht kennte, könnt ich mich
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fürchten. Oder lauert wirklich was dahinter?«
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Hast du ein schlechtes Gewissen? Selber hinter der Tür gestanden?«
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»Ach, Geert, ich ängstige mich wirklich.« Und sie richtete sich im Bett in
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die Höh und sah ihn starr an. »Soll ich noch nach Johanna klingeln, daß sie
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uns Tee bringt? Du hast es so gern vor dem Schlafengehen.«
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Er küßte ihr die Hand. »Nein, Effi. Nach Mitternacht kann auch der Kaiser
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keine Tasse Tee mehr verlangen, und du weißt, ich mag die Leute nicht
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mehr in Anspruch nehmen als nötig. Nein, ich will nichts, als dich ansehen
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und mich freuen, daß ich dich habe. So manchmal empfindet man's doch
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stärker, welchen Schatz man hat. Du könntest ja auch so sein wie die arme
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Frau Crampas; das ist eine schreckliche Frau, gegen keinen freundlich, und
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dich hätte sie vom Erdboden vertilgen mögen.«
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»Ach, ich bitte dich, Geert, das bildest du dir wieder ein. Die arme Frau!
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Mir ist nichts aufgefallen.«
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»Weil du für derlei keine Augen hast. Aber es war so, wie ich dir sage,
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und der arme Crampas war wie befangen dadurch und mied dich immer
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und sah dich kaum an. Was doch ganz unnatürlich ist; denn erstens ist er
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überhaupt ein Damenmann, und nun gar Damen wie du, das ist seine
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besondere Passion. Und ich wette auch, daß es keiner besser weiß als
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meine kleine Frau selber. Wenn ich daran denke, wie, Pardon, das
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Geschnatter hin und her ging, wenn er morgens in die Veranda kam oder
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wenn wir am Strande ritten oder auf der Mole spazierengingen. Es ist, wie
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ich dir sage, er traute sich heute nicht, er fürchtete sich vor seiner Frau.
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Und ich kann es ihm nicht verdenken. Die Majorin ist so etwas wie unsere
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Frau Kruse, und wenn ich zwischen beiden wählen müßte, ich wüßte nicht
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wen.«
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»Ich wüßt es schon; es ist doch ein Unterschied zwischen den beiden. Die
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arme Majorin ist unglücklich, die Kruse ist unheimlich.«
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»Und da bist du doch mehr für das Unglückliche?«
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Ganz entschieden.«
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»Nun höre, das ist Geschmackssache. Man merkt, daß du noch nicht
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unglücklich warst. Übrigens hat Crampas ein Talent, die arme Frau zu
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eskamotieren. Er erfindet immer etwas, sie zu Hause zu lassen.«
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»Aber heute war sie doch da.«
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»Ja, heute. Da ging es nicht anders. Aber ich habe mit ihm eine Partie zu
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Oberförster Ring verabredet, er, Gieshübler und der Pastor, auf den dritten
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Feiertag, und da hättest du sehen sollen, mit welcher Geschicklichkeit er
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bewies, daß sie, die Frau, zu Hause bleiben müsse.«
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»Sind es denn nur Herren?«
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»O bewahre. Da würd ich mich auch bedanken. Du bist mit dabei und
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noch zwei, drei andere Damen, die von den Gütern ungerechnet. «
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»Aber dann ist es doch auch häßlich von ihm, ich meine von Crampas,
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und so was bestraft sich immer.«
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»Ja, mal kommt es. Aber ich glaube, unser Freund hält zu denen, die sich
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über das, was kommt, keine grauen Haare wachsen lassen.«
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»Hältst du ihn für schlecht?«
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»Nein, für schlecht nicht. Beinah im Gegenteil, jedenfalls hat er gute
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Seiten. Aber er ist so'n halber Pole, kein rechter Verlaß, eigentlich in nichts,
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am wenigsten mit Frauen. Eine Spielernatur. Er spielt nicht am Spieltisch,
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aber er hasardiert im Leben in einem fort, und man muß ihm auf die Finger
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sehen.«
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»Es ist mir doch lieb, daß du mir das sagst. Ich werde mich vorsehen mit
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ihm.«
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»Das tu. Aber nicht zu sehr; dann hilft es nichts. Unbefangenheit ist
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immer das beste, natürlich das allerbeste ist Charakter und Festigkeit und,
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wenn ich solch steifleinenes Wort brauchen darf, eine reine Seele.«
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Sie sah ihn groß an. Dann sagte sie: »Ja, gewiß. Aber nun sprich nicht
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mehr, und noch dazu lauter Dinge, die mich nicht recht froh machen
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können. Weißt du, mir ist, als hörte ich oben das Tanzen. Sonderbar, daß es
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immer wiederkommt. Ich dachte, du hättest mit dem allem nur so gespaßt.«
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»Das will ich doch nicht sagen, Effi. Aber so oder so, man muß nur in
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Ordnung sein und sich nicht zu fürchten brauchen. «
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Effi nickte und dachte mit einem Male wieder an die Worte, die ihr
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Crampas über ihren Mann als »Erzieher« gesagt hatte.
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Der Heilige Abend kam und verging ähnlich wie das Jahr vorher; aus
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Hohen-Cremmen kamen Geschenke und Briefe; Gieshübler war wieder mit
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einem Huldigungsvers zur Stelle, und Vetter Briest sandte eine Karte:
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Schneelandschaft mit Telegrafenstangen, auf deren Draht geduckt ein
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Vögelchen saß. Auch für Annie war aufgebaut: ein Baum mit Lichtern, und
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das Kind griff mit seinen Händchen danach. Innstetten, unbefangen und
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heiter, schien sich seines häuslichen Glücks zu freuen und beschäftigte
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sich viel mit dem Kinde. Roswitha war erstaunt, den gnädigen Herrn so
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zärtlich und zugleich so aufgeräumt zu sehen. Auch Effi sprach viel und
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lachte viel, es kam ihr aber nicht aus innerster Seele. Sie fühlte sich
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bedrückt und wußte nur nicht, wen sie dafür verantwortlich machen sollte,
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Innstetten oder sich selber. Von Crampas war kein Weihnachtsgruß
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eingetroffen; eigentlich war es ihr lieb, aber auch wieder nicht, seine
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Huldigungen erfüllten sie mit einem gewissen Bangen, und seine
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Gleichgültigkeiten verstimmten sie; sie sah ein, es war nicht alles so, wie's
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sein sollte.
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»Du bist so unruhig«, sagte Innstetten nach einer Weile.
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»Ja. Alle Welt hat es so gut mit mir gemeint, am meisten du; das bedrückt
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mich, weil ich fühle, daß ich es nicht verdiene.«
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»Damit darf man sich nicht quälen, Effi. Zuletzt ist es doch so: Was man
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empfängt, das hat man auch verdient.«
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Effi hörte scharf hin, und ihr schlechtes Gewissen ließ sie selber fragen,
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ob er das absichtlich in so zweideutiger Form gesagt habe.
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Spät gegen Abend kam Pastor Lindequist, um zu gratulieren und noch
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wegen der Partie nach der Oberförsterei Uvagla hin anzufragen, die
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natürlich eine Schlittenpartie werden müsse. Crampas habe ihm einen Platz
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in seinem Schlitten angeboten, aber weder der Major noch sein Bursche,
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der, wie alles, auch das Kutschieren übernehmen solle, kenne den Weg,
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und so würde es sich vielleicht empfehlen, die Fahrt gemeinschaftlich zu
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machen, wobei dann der landrätliche Schlitten die Tete zu nehmen und der
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Crampassche zu folgen hätte. Wahrscheinlich auch der Gieshüblersche.
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Denn mit der Wegkenntnis Mirambos, dem sich unerklärlicherweise Freund
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Alonzo, der doch sonst so vorsichtig, anvertrauen wolle, stehe es
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wahrscheinlich noch schlechter als mit der des sommersprossigen
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Treptower Ulanen. Innstetten, den diese kleinen Verlegenheiten erheiterten,
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war mit Lindequists Vorschlag durchaus einverstanden und ordnete die
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Sache dahin, daß er pünktlich um zwei Uhr über den Marktplatz fahren und
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ohne alles Säumen die Führung des Zuges in die Hand nehmen werde.
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Nach diesem Übereinkommen wurde denn auch verfahren, und als
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Innstetten Punkt zwei Uhr den Marktplatz passierte, grüßte Crampas
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zunächst von seinem Schlitten aus zu Effi hinüber und schloß sich dann
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dem Innstettenschen an. Der Pastor saß neben ihm. Gieshüblers Schlitten,
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mit Gieshübler selbst und Doktor Hannemann, folgte, jener in einem
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eleganten Büffelrock und Marderbesatz, dieser in einem Bärenpelz, dem
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man ansah, daß er wenigstens dreißig Dienstjahre zählte. Hannemann war
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nämlich in seiner Jugend Schiffschirurgus auf einem Grönlandfahrer
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gewesen. Mirambo saß vorn, etwas aufgeregt wegen Unkenntnis im
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Kutschieren, ganz wie Lindequist vermutet hatte.
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Schon nach zwei Minuten war man an Utpatels Mühle vorbei.
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Zwischen Kessin und Uvagla (wo der Sage nach ein Wendentempel
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gestanden) lag ein nur etwa tausend Schritt breiter, aber wohl anderthalb
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Meilen langer Waldstreifen, der an seiner rechten Längsseite das Meer, an
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seiner linken, bis weit an den Horizont hin, ein großes, überaus fruchtbares
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und gut angebautes Stück Land hatte. Hier, an der Binnenseite, flogen jetzt
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die drei Schlitten hin, in einiger Entfernung ein paar alte Kutschwagen vor
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sich, in denen aller Wahrscheinlichkeit nach andere nach der Oberförsterei
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hin eingeladene Gäste saßen. Einer dieser Wagen war an seinen altmodisch
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hohen Rädern deutlich zu erkennen, es war der Papenhagensche.
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Natürlich. Güldenklee galt als der beste Redner des Kreises (noch besser
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als Borcke, ja selbst besser als Grasenabb) und durfte bei Festlichkeiten
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nicht leicht fehlen. Die Fahrt ging rasch – auch die herrschaftlichen
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Kutscher strengten sich an und wollten sich nicht überholen lassen –, so
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daß man schon um drei vor der Oberförsterei hielt. Ring, ein stattlicher,
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militärisch dreinschauender Herr von Mitte Fünfzig, der den ersten Feldzug
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in Schleswig noch unter Wrangel und Bonin mitgemacht und sich bei
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Erstürmung des Danewerks ausgezeichnet hatte, stand in der Tür und
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empfing seine Gäste, die, nachdem sie abgelegt und die Frau des Hauses
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begrüßt hatten, zunächst vor einem langgedeckten Kaffeetisch Platz
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nahmen, auf dem kunstvoll aufgeschichtete Kuchenpyramiden standen. Die
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Oberförsterin, eine von Natur sehr ängstliche, zum mindesten aber sehr
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befangene Frau, zeigte sich auch als Wirtin so, was den überaus eitlen
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Oberförster, der für Sicherheit und Schneidigkeit war, ganz augenscheinlich
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verdroß. Zum Glück kam sein Unmut zu keinem Ausbruch, denn von dem,
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was seine Frau vermissen ließ, hatten seine Töchter desto mehr,
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bildhübsche Backfische von vierzehn und dreizehn, die ganz nach dem
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Vater schlugen. Besonders die ältere, Cora, kokettierte sofort mit Innstetten
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und Crampas, und beide gingen auch darauf ein. Effi ärgerte sich darüber
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und schämte sich dann wieder, daß sie sich geärgert habe. Sie saß neben
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Sidonie von Grasenabb und sagte: »Sonderbar, so bin ich auch gewesen,
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als ich vierzehn war.«
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Effi rechnete darauf, daß Sidonie dies bestreiten oder doch wenigstens
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Einschränkungen machen würde. Statt dessen sagte diese: »Das kann ich
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mir denken.«
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»Und wie der Vater sie verzieht«, fuhr Effi halb verlegen und nur, um doch
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was zu sagen, fort.
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Sidonie nickte. »Da liegt es. Keine Zucht. Das ist die Signatur unserer
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Zeit.«
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Effi brach nun ab.
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Der Kaffee war bald genommen, und man stand auf, um noch einen
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halbstündigen Spaziergang in den umliegenden Wald zu machen, zunächst
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auf ein Gehege zu, drin Wild eingezäunt war. Cora öffnete das Gatter, und
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kaum, daß sie eingetreten, so kamen auch schon die Rehe auf sie zu. Es
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war eigentlich reizend, ganz wie ein Märchen. Aber die Eitelkeit des jungen
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Dinges, das sich bewußt war, ein lebendes Bild zu stellen, ließ doch einen
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reinen Eindruck nicht aufkommen, am wenigsten bei Effi. »Nein«, sagte sie
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zu sich selber, »so bin ich doch nicht gewesen. Vielleicht hat es mir auch
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an Zucht gefehlt, wie diese furchtbare Sidonie mir eben andeutete,
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vielleicht auch anderes noch. Man war zu Haus zu gütig gegen mich, man
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liebte mich zu sehr. Aber das darf ich doch wohl sagen, ich habe mich nie
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geziert. Das war immer Huldas Sache. Darum gefiel sie mir auch nicht, als
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ich diesen Sommer sie wiedersah.
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Auf dem Rückwege vom Wald nach der Oberförsterei begann es zu
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schneien. Crampas gesellte sich zu Effi und sprach ihr sein Bedauern aus,
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daß er noch nicht Gelegenheit gehabt habe, sie zu begrüßen. Zugleich wies
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er auf die großen, schweren Schneeflocken, die fielen, und sagte: »Wenn
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das so weitergeht, so schneien wir hier ein.«
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»Das wäre nicht das Schlimmste. Mit dem Eingeschneitwerden verbinde
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ich von langer Zeit her eine freundliche Vorstellung, eine Vorstellung von
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Schutz und Beistand.«
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»Das ist mir neu, meine gnädigste Frau.«
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»Ja«, fuhr Effi fort und versuchte zu lachen, »mit den Vorstellungen ist es
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ein eigen Ding, man macht sie sich nicht bloß nach dem, was man
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persönlich erfahren hat, auch nach dem, was man irgendwo gehört oder
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ganz zufällig weiß. Sie sind so belesen, Major, aber mit einem Gedicht –
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freilich keinem Heineschen, keinem 'Seegespenst' und keinem 'Vitzliputzli'
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– bin ich Ihnen, wie mir scheint, doch voraus. Dies Gedicht heißt die
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Gottesmauer', und ich hab es bei unserm Hohen-Cremmer Pastor vor
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vielen, vielen Jahren, als ich noch ganz klein war, auswendig gelernt.«
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»Gottesmauer«, wiederholte Crampas. »Ein hübscher Titel, und wie
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verhält es sich damit?«
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»Eine kleine Geschichte, nur ganz kurz. Da war irgendwo Krieg, ein
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Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde mächtig
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fürchtete, betete zu Gott, er möge doch 'eine Mauer um sie bauen', um sie
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vor dem Landesfeinde zu schützen. Und da ließ Gott das Haus einschneien,
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und der Feind zog daran vorüber.«
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Crampas war sichtlich betroffen und wechselte das Gespräch.
303
Als es dunkelte, waren alle wieder in der Oberförsterei zurück.

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