Vierter Auftritt
2
Iphigenie. Pylades.
3
4
Pylades: Wo ist sie? daß ich ihr mit schnellen Worten
5
Die frohe Botschaft unsrer Rettung bringe!
6
7
Iphigenie: Du siehst mich hier voll Sorgen und Erwartung
8
Des sichern Trostes, den du mir versprichst.
9
10
Pylades: Dein Bruder ist geheilt! Den Felsenboden
11
Des ungeweihten Ufers und den Sand
12
Betraten wir mit fröhlichen Gesprächen;
13
Der Hain blieb hinter uns, wir merkten's nicht.
14
Und herrlicher und immer herrlicher
15
Umloderte der Jugend schöne Flamme
16
Sein lockig Haupt; sein volles Auge glühte
17
Von Mut und Hoffnung, und sein freies Herz
18
Ergab sich ganz der Freude, ganz der Lust,
19
Dich, seine Retterin, und mich zu retten.
20
21
Iphigenie: Gesegnet seist du, und es möge nie
22
Von deiner Lippe, die so Gutes sprach,
23
Der Ton des Leidens und der Klage tönen!
24
25
Pylades: Ich bringe mehr als das; denn schön begleitet
26
Gleich einem Fürsten pflegt das Glück zu nahn.
27
Auch die Gefährten haben wir gefunden.
28
In einer Felsenbucht verbargen sie
29
Das Schiff und saßen traurig und erwartend.
30
Sie sahen deinen Bruder, und es regten
31
Sich alle jauchzend, und sie baten dringend,
32
Der Abfahrt Stunde zu béschleunigen.
33
Es sehnet jede Faust sich nach dem Ruder,
34
Und selbst ein Wind erhob vom Lande lispelnd,
35
Von allen gleich bemerkt, die holden Schwingen.
36
Drum laß uns eilen, führe mich zum Tempel,
37
Laß mich das Heiligtum betreten, laß
38
Mich unsrer Wünsche Ziel verehrend fassen!
39
Ich bin allein genug, der Göttin Bild
40
Auf wohlgeübten Schultern wegzutragen:
41
Wie sehn ich mich nach der erwünschten Last!
42
Er geht gegen den Tempel unter den letzten Worten, ohne zu bemerken,
43
daß Iphigenie nicht folgt; endlich kehrt er sich um.
44
Du stehst und zauderst – Sage mir – du schweigst!
45
Du scheinst verworren! Widersetzet sich
46
Ein neues Unheil unserm Glück? Sag an!
47
Hast du dem Könige das kluge Wort
48
Vermelden lassen, das wir abgeredet?
49
50
Iphigenie: Ich habe, teurer Mann; doch wirst du schelten.
51
Ein schweigender Verweis war mir dein Anblick.
52
Des Königs Bote kam, und wie du es
53
Mir in den Mund gelegt, so sagt ich's ihm.
54
Er schien zu staunen und verlangte dringend,
55
Die seltne Feier erst dem Könige
56
Zu melden, seinen Willen zu vernehmen;
57
Und nun erwart ich seine Wiederkehr.
58
59
Pylades: Weh uns! Erneuert schwebt nun die Gefahr
60
Um unsre Schläfe! Warum hast du nicht
61
Ins Priesterrecht dich weislich eingehüllt?
62
63
Iphigenie: Als eine Hülle hab ich's nie gebraucht.
64
65
Pylades: So wirst du, reine Seele, dich und uns
66
Zugrunde richten. Warum dacht ich nicht
67
Auf diesen Fall voraus und lehrte dich
68
Auch dieser Fordrung auszuweichen!
69
70
Iphigenie: Schilt
71
Nur mich, die Schuld ist mein, ich fühl es wohl;
72
Doch konnt ich anders nicht dem Mann begegnen,
73
Der mit Vernunft und Ernst von mir verlangte,
74
Was ihm mein Herz als Recht gestehen mußte.
75
76
Pylades: Gefährlicher zieht sich's zusammen; doch auch so
77
Laß uns nicht zagen oder unbesonnen
78
Und übereilt uns selbst verraten. Ruhig
79
Erwarte du die Wiederkunft des Boten,
80
Und dann steh fest, er bringe, was er will:
81
Denn solcher Weihung Feier anzuordnen
82
Gehört der Priesterin und nicht dem König.
83
Und fordert er, den fremden Mann zu sehn,
84
Der von dem Wahnsinn schwer belastet ist,
85
So lehn es ab, als hieltest du uns beide
86
Im Tempel wohlverwahrt. So schaff uns Luft,
87
Daß wir aufs eiligste, den heil'gen Schatz
88
Dem rauh unwürd'gen Volk entwendend, fliehn.
89
Die besten Zeichen sendet uns Apoll,
90
Und eh wir die Bedingung fromm erfüllen,
91
Erfüllt er göttlich sein Versprechen schon.
92
Orest ist frei, geheilt! – Mit dem Befreiten
93
O führet uns hinüber, günst'ge Winde,
94
Zur Felseninsel, die der Gott bewohnt;
95
Dann nach Myken, daß es lebendig werde,
96
Daß von der Asche des verloschnen Herdes
97
Die Vatergötter fröhlich sich erheben
98
Und schönes Feuer ihre Wohnungen
99
Umleuchte! Deine Hand soll ihnen Weihrauch
100
Zuerst aus goldnen Schalen streuen. Du
101
Bringst über jene Schwelle Heil und Leben wieder,
102
Entsühnst den Fluch und schmückest neu die Deinen
103
Mit frischen Lebensblüten herrlich aus.
104
105
Iphigenie: Vernehm ich dich, so wendet sich, o Teurer,
106
Wie sich die Blume nach der Sonne wendet,
107
Die Seele, von dem Strahle deiner Worte
108
Getroffen, sich dem süßen Troste nach.
109
Wie köstlich ist des gegenwärt'gen Freundes
110
Gewisse Rede, deren Himmelskraft
111
Ein Einsamer entbehrt und still versinkt.
112
Denn langsam reift, verschlossen in dem Busen,
113
Gedank ihm und Entschluß; die Gegenwart
114
Des Liebenden entwickelte sie leicht.
115
116
Pylades: Leb wohl! Die Freunde will ich nun geschwind
117
Beruhigen, die sehnlich wartend harren.
118
Dann komm ich schnell zurück und lausche hier
119
Im Felsenbusch versteckt auf deinen Wink –
120
Was sinnest du? Auf einmal überschwebt
121
Ein stiller Trauerzug die freie Stirne.
122
123
Iphigenie: Verzeih! Wie leichte Wolken vor der Sonne,
124
So zieht mir vor der Seele leichte Sorge
125
Und Bangigkeit vorüber.
126
127
Pylades: Fürchte nicht!
128
Betrüglich schloß die Furcht mit der Gefahr
129
Ein enges Bündnis: beide sind Gesellen.
130
131
Iphigenie: Die Sorge nenn ich edel, die mich warnt,
132
Den König, der mein zweiter Vater ward,
133
Nicht tückisch zu betrügen, zu berauben.
134
135
Pylades: Der deinen Bruder schlachtet, dem entfliehst du.
136
137
Iphigenie: Es ist derselbe, der mir Gutes tat.
138
139
Pylades: Das ist nicht Undank, was die Not gebeut.
140
141
Iphigenie: Es bleibt wohl Undank; nur die Not entschuldigt.
142
143
Pylades: Vor Göttern und vor Menschen dich gewiß.
144
145
Iphigenie: Allein mein eigen Herz ist nicht befriedigt.
146
147
Pylades: Zu strenge Fordrung ist verborgner Stolz.
148
149
Iphigenie: Ich untersuche nicht, ich fühle nur.
150
151
Pylades: Fühlst du dich recht, so mußt du dich verehren.
152
153
Iphigenie: Ganz unbefleckt genießt sich nur das Herz.
154
155
Pylades: So hast du dich im Tempel wohl bewahrt;
156
Das Leben lehrt uns, weniger mit uns
157
Und andern strenge sein; du lernst es auch.
158
So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet,
159
So vielfach ist's verschlungen und verknüpft,
160
Daß keiner in sich selbst noch mit den andern
161
Sich rein und unverworren halten kann.
162
Auch sind wir nicht bestellt, uns selbst zu richten;
163
Zu wandeln und auf seinen Weg zu sehen,
164
Ist eines Menschen erste, nächste Pflicht:
165
Denn selten schätzt er recht, was er getan,
166
Und was er tut, weiß er fast nie zu schätzen.
167
168
Iphigenie: Fast überredst du mich zu deiner Meinung.
169
170
Pylades: Braucht's Überredung, wo die Wahl versagt ist?
171
Den Bruder, dich und einen Freund zu retten,
172
Ist nur ein Weg, fragt sich's, ob wir ihn gehn?
173
174
Iphigenie: O laß mich zaudern! denn du tätest selbst
175
Ein solches Unrecht keinem Mann gelassen,
176
Dem du für Wohltat dich verpflichtet hieltest.
177
178
Pylades: Wenn wir zugrunde gehen, wartet dein
179
Ein härtrer Vorwurf, der Verzweiflung trägt.
180
Man sieht, du bist nicht an Verlust gewohnt,
181
Da du, dem großen Übel zu entgehen,
182
Ein falsches Wort nicht einmal opfern willst.
183
184
Iphigenie: O trüg ich doch ein männlich Herz in mir,
185
Das, wenn es einen kühnen Vorsatz hegt,
186
Vor jeder andern Stimme sich verschließt!
187
188
Pylades: Du weigerst dich umsonst; die ehrne Hand
189
Der Not gebietet, und ihr ernster Wink
190
Ist oberstes Gesetz, dem Götter selbst
191
Sich unterwerfen müssen. Schweigend herrscht
192
Des ew'gen Schicksals unberatne Schwester.
193
Was sie dir auferlegt, das trage: tu,
194
Was sie gebeut. Das andre weißt du. Bald
195
Komm ich zurück, aus deiner heil'gen Hand
196
Der Rettung schönes Siegel zu empfangen.