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Inhaltsverzeichnis

9. Kapitel

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So war Effis erster Tag in Kessin gewesen. Innstetten gab ihr noch eine
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halbe Woche Zeit, sich einzurichten und die verschiedensten Briefe nach
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Hohen-Cremmen zu schreiben, an die Mama, an Hulda und die Zwillinge;
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dann aber hatten die Stadtbesuche begonnen, die zum Teil (es regnete
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gerade so, daß man sich diese Ungewöhnlichkeit schon gestatten konnte)
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in einer geschlossenen Kutsche gemacht wurden. Als man damit fertig war,
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kam der Landadel an die Reihe. Das dauerte länger, da sich bei den meist
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großen Entfernungen an jedem Tag nur eine Visite machen ließ. Zuerst war
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man bei den Borckes in Rothenmoor, dann ging es nach Morgnitz,
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Dabergotz und Kroschentin, wo man bei den Ahlemanns, den Jatzkows und
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den Grasenabbs den pflichtschuldigen Besuch abstattete. Noch ein paar
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andere folgten, unter denen auch der alte Baron von Güldenklee auf
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Papenhagen war. Der Eindruck, den Effi empfing, war überall derselbe:
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mittelmäßige Menschen von meist zweifelhafter Liebenswürdigkeit, die,
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während sie vorgaben, über Bismarck und die Kronprinzessin zu sprechen,
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eigentlich nur Effis Toilette musterten, die von einigen als zu prätentiös für
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eine so jugendliche Dame, von andern als zuwenig dezent für eine Dame
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von gesellschaftlicher Stellung befunden wurde. Man merke doch an allem
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die Berliner Schule: Sinn für Äußerliches und eine merkwürdige
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Verlegenheit und Unsicherheit bei Berührung großer Fragen. In
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Rothenmoor bei den Borckes und dann auch bei den Familien in Morgnitz
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und Dabergotz war sie für »rationalistisch angekränkelt«, bei den
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Grasenabbs in Kroschentin aber rundweg für eine »Atheistin« erklärt
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worden. Allerdings hatte die alte Frau von Grasenabb, eine Süddeutsche
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(geborene Stiefel von Stiefelstein), einen schwachen Versuch gemacht, Effi
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wenigstens für den Deismus zu retten; Sidonie von Grasenabb aber, eine
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dreiundvierzigjährige alte Jungfer, war barsch dazwischengefahren: »Ich
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sage dir, Mutter, einfach Atheistin, kein Zollbreit weniger, und dabei bleibt
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es«, worauf die Alte, die sich vor ihrer eigenen Tochter fürchtete, klüglich
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geschwiegen hatte.
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Die ganze Tournee hatte so ziemlich zwei Wochen gedauert, und es war
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am 2. Dezember, als man zu schon später Stunde von dem letzten dieser
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Besuche nach Kessin zurückkehrte. Dieser letzte Besuch hatte den
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Güldenklees auf Papenhagen gegolten, bei welcher Gelegenheit Innstetten
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dem Schicksal nicht entgangen war, mit dem alten Güldenklee politisieren
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zu müssen. »Ja, teuerster Landrat, wenn ich so den Wechsel der Zeiten
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bedenke! Heute vor einem Menschenalter oder ungefähr so lange, ja, da
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war auch ein 2. Dezember, und der gute Louis und Napoleonsneffe – wenn
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er so was war und nicht eigentlich ganz woanders herstammte –, der
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kartätschte damals auf die Pariser Kanaille. Na, das mag ihm verziehen
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sein, für so was war er der rechte Mann, und ich halte zu dem Satz: 'Jeder
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hat es gerade so gut und so schlecht, wie er's verdient.' Aber daß er
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nachher alle Schätzung verlor und Anno siebzig so mir nichts, dir nichts
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auch mit uns anbinden wollte, sehen Sie, Baron, das war, ja wie sag ich,
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das war eine Insolenz. Es ist ihm aber auch heimgezahlt worden. Unser
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Alter da oben läßt sich nicht spotten, der steht zu uns.«
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»Ja«, sagte Innstetten, der klug genug war, auf solche Philistereien
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anscheinend ernsthaft einzugehen, »der Held und Eroberer von
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Saarbrücken wußte nicht, was er tat. Aber Sie dürfen nicht zu streng mit
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ihm persönlich abrechnen. Wer ist am Ende Herr in seinem Hause?
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Niemand. Ich richte mich auch schon darauf ein, die Zügel der Regierung in
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andere Hände zu legen, und Louis Napoleon, nun, der war vollends ein
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Stück Wachs in den Händen seiner katholischen Frau, oder sagen wir
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lieber, seiner jesuitischen Frau.«
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»Wachs in den Händen seiner Frau, die ihm dann eine Nase drehte.
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Natürlich, Innstetten, das war er. Aber damit wollen Sie diese Puppe doch
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nicht etwa retten? Er ist und bleibt gerichtet. An und für sich ist es
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übrigens noch gar nicht mal erwiesen«, und sein Blick suchte bei diesen
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Worten etwas ängstlich nach dem Auge seiner Ehehälfte, »ob nicht
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Frauenherrschaft eigentlich als ein Vorzug gelten kann; nur freilich, die
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Frau muß danach sein. Aber wer war diese Frau? Sie war überhaupt keine
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Frau, im günstigsten Fall war sie eine Dame, das sagt alles; 'Dame' hat
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beinah immer einen Beigeschmack. Diese Eugenie – über deren Verhältnis
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zu dem jüdischen Bankier ich hier gern hingehe, denn ich hasse
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Tugendhochmut – hatte was vom Café chantant, und wenn die Stadt, in der
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sie lebte, das Babel war, so war sie das Weib von Babel. Ich mag mich nicht
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deutlicher ausdrücken, denn ich weiß«, und er verneigte sich gegen Effi,
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»was ich deutschen Frauen schuldig bin. Um Vergebung, meine Gnädigste,
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daß ich diese Dinge vor Ihren Ohren überhaupt berührt habe.« So war die
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Unterhaltung gegangen, nachdem man vorher von Wahl, Nobiling und Raps
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gesprochen hatte, und nun saßen Innstetten und Effi wieder daheim und
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plauderten noch eine halbe Stunde. Die beiden Mädchen im Hause waren
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schon zu Bett, denn es war nah an Mitternacht.
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Innstetten, in kurzem Hausrock und Saffianschuhen, ging auf und ab; Effi
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war noch in ihrer Gesellschaftstoilette; Fächer und Handschuhe lagen
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neben ihr. »Ja«, sagte Innstetten, während er sein Aufundabschreiten im
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Zimmer unterbrach, »diesen Tag müßten wir nun wohl eigentlich feiern, und
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ich weiß nur noch nicht, womit. Soll ich dir einen Siegesmarsch vorspielen
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oder den Haifisch draußen in Bewegung setzen oder dich im Triumph über
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den Flur tragen? Etwas muß doch geschehen, denn du mußt wissen, das
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war nun heute die letzte Visite.«
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»Gott sei Dank war sie's«, sagte Effi. »Aber das Gefühl, daß wir nun Ruhe
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haben, ist, denk ich, gerade Feier genug. Nur einen Kuß könntest du mir
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geben. Aber daran denkst du nicht. Auf dem ganzen weiten Weg nicht
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gerührt, frostig wie ein Schneemann. Und immer nur die Zigarre.«
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»Laß, ich werde mich schon bessern und will vorläufig nur wissen, wie
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stehst du zu dieser ganzen Umgangs- und Verkehrsfrage? Fühlst du dich
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zu dem einen oder andern hingezogen? Haben die Borckes die Grasenabbs
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geschlagen oder umgekehrt, oder hältst du's mit dem alten Güldenklee?
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Was er da über die Eugenie sagte, machte doch einen sehr edlen und
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reinen Eindruck.«
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»Ei, sieh, Herr von Innstetten, auch medisant! Ich lerne Sie von einer ganz
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neuen Seite kennen.«
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»Und wenn's unser Adel nicht tut«, fuhr Innstetten fort, ohne sich stören
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zu lassen, »wie stehst du zu den Kessiner Stadthonoratioren? Wie stehst
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du zur Ressource? Daran hängt doch am Ende Leben und Sterben. Ich
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habe dich da neulich mit unserem reserveleutnantlichen Amtsrichter
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sprechen sehen, einem zierlichen Männchen, mit dem sich vielleicht
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durchkommen ließe, wenn er nur endlich von der Vorstellung loskönnte, die
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Wiedereroberung von Le Bourget durch sein Erscheinen in der Flanke
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zustande gebracht zu haben. Und seine Frau! Sie gilt als die beste
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Bostonspielerin und hat auch die hübschesten Anlegemarken. Also
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nochmals, Effi, wie wird es werden in Kessin? Wirst du dich einleben?
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Wirst du populär werden und mir die Majorität sichern, wenn ich in den
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Reichstag will? Oder bist du für Einsiedlertum, für Abschluß von der
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Kessiner Menschheit, so Stadt wie Land?«
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»Ich werde mich wohl für Einsiedlertum entschließen, wenn mich die
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Mohrenapotheke nicht herausreißt. Bei Sidonie werd ich dadurch freilich
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noch etwas tiefer sinken, aber darauf muß ich es ankommen lassen; dieser
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Kampf muß eben gekämpft werden. Ich steh und falle mit Gieshübler. Es
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klingt etwas komisch, aber er ist wirklich der einzige, mit dem sich ein Wort
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reden läßt, der einzige richtige Mensch hier.«
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»Das ist er«, sagte Innstetten. »Wie gut du zu wählen verstehst.«
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»Hätte ich sonst dich?« sagte Effi und hängte sich an seinen Arm.
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Das war am 2. Dezember. Eine Woche später war Bismarck in Varzin, und
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nun wußte Innstetten, daß bis Weihnachten, und vielleicht noch darüber
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hinaus, an ruhige Tage für ihn gar nicht mehr zu denken sei. Der Fürst hatte
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noch von Versailles her eine Vorliebe für ihn und lud ihn, wenn Besuch da
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war, häufig zu Tisch, aber auch allein, denn der jugendliche, durch Haltung
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und Klugheit gleich ausgezeichnete Landrat stand ebenso in Gunst bei der
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Fürstin.
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Zum 14. erfolgte die erste Einladung. Es lag Schnee, weshalb Innstetten
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die fast zweistündige Fahrt bis an den Bahnhof, von wo noch eine Stunde
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Eisenbahn war, im Schlitten zu machen vorhatte. »Warte nicht auf mich,
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Effi. Vor Mitternacht kann ich nicht zurück sein; wahrscheinlich wird es
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zwei oder noch später. Ich störe dich aber nicht. Gehab dich wohl, und auf
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Wiedersehen morgen früh.« Und damit stieg er ein, und die beiden
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isabellfarbenen Graditzer jagten im Fluge durch die Stadt hin und dann
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landeinwärts auf den Bahnhof zu.
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Das war die erste lange Trennung, fast auf zwölf Stunden. Arme Effi. Wie
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sollte sie den Abend verbringen? Früh zu Bett, das war gefährlich, dann
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wachte sie auf und konnte nicht wieder einschlafen und horchte auf alles.
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Nein, erst recht müde werden und dann ein fester Schlaf, das war das
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beste. Sie schrieb einen Brief an die Mama und ging dann zu Frau Kruse,
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deren gemütskranker Zustand – sie hatte das schwarze Huhn oft bis in die
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Nacht hinein auf ihrem Schoß – ihr Teilnahme einflößte. Die Freundlichkeit
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indessen, die sich darin aussprach, wurde von der in ihrer überheizten
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Stube sitzenden und nur still und stumm vor sich hinbrütenden Frau keinen
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Augenblick erwidert, weshalb Effi, als sie wahrnahm, daß ihr Besuch mehr
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als Störung wie als Freude empfunden wurde, wieder ging und nur noch
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fragte, ob die Kranke etwas haben wolle. Diese lehnte aber alles ab.
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Inzwischen war es Abend geworden, und die Lampe brannte schon. Effi
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stellte sich ans Fenster ihres Zimmers und sah auf das Wäldchen hinaus,
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auf dessen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie war von dem Bilde ganz
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in Anspruch genommen und kümmerte sich nicht um das, was hinter ihr in
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dem Zimmer vorging. Als sie sich wieder umsah, bemerkte sie, daß
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Friedrich still und geräuschlos ein Kuvert gelegt und ein Kabarett auf den
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Sofatisch gestellt hatte. »Ja so, Abendbrot ... Da werd ich mich nun wohl
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setzen müssen.« Aber es wollte nicht schmecken, und so stand sie wieder
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auf und las den an die Mama geschriebenen Brief noch einmal durch. Hatte
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sie schon vorher ein Gefühl der Einsamkeit gehabt, so jetzt doppelt. Was
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hätte sie darum gegeben, wenn die beiden Jahnkeschen Rotköpfe jetzt
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eingetreten wären oder selbst Hulda. Die war freilich immer so sentimental
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und beschäftigte sich meist nur mit ihren Triumphen; aber so zweifelhaft
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und anfechtbar diese Triumphe waren, sie hätte sich in diesem Augenblick
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doch gern davon erzählen lassen. Schließlich klappte sie den Flügel auf,
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um zu spielen; aber es ging nicht. »Nein, dabei werd ich vollends
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melancholisch; lieber lesen.« Und so suchte sie nach einem Buch. Das
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erste, was ihr zu Händen kam, war ein dickes rotes Reisehandbuch, alter
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Jahrgang, vielleicht schon aus Innstettens Leutnantstagen her. »Ja, darin
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will ich lesen; es gibt nichts Beruhigenderes als solche Bücher. Das
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Gefährliche sind bloß immer die Karten; aber vor diesem Augenpulver, das
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ich hasse, werd ich mich schon hüten.« Und so schlug sie denn auf gut
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Glück auf: Seite 153. Nebenan hörte sie das Ticktack der Uhr und draußen
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Rollo, der, seit es dunkel war, seinen Platz in der Remise aufgegeben und
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sich, wie jeden Abend, so auch heute wieder, auf die große geflochtene
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Matte, die vor dem Schlafzimmer lag, ausgestreckt hatte. Das Bewußtsein
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seiner Nähe minderte das Gefühl ihrer Verlassenheit, ja, sie kam fast in
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Stimmung, und so begann sie denn auch unverzüglich zu lesen. Auf der
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gerade vor ihr aufgeschlagenen Seite war von der »Eremitage«, dem
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bekannten markgräflichen Lustschloß in der Nähe von Bayreuth, die Rede;
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das lockte sie, Bayreuth, Richard Wagner, und so las sie denn: Unter den
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Bildern in der Eremitage nennen wir noch eins, das nicht durch seine
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Schönheit, wohl aber durch sein Alter und durch die Person, die es
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darstellt, ein Interesse beansprucht. Es ist dies ein stark nachgedunkeltes
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Frauenporträt, kleiner Kopf, mit herben, etwas unheimlichen Gesichtszügen
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und einer Halskrause, die den Kopf zu tragen scheint. Einige meinen, es sei
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eine alte Markgräfin aus dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, andere
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sind der Ansicht, es sei die Gräfin von Orlamünde; darin aber sind beide
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einig, daß es das Bildnis der Dame sei, die seither in der Geschichte der
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Hohenzollern unter dem Namen der »weißen Frau« eine gewisse
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Berühmtheit erlangt hat.
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»Das hab ich gut getroffen«, sagte Effi, während sie das Buch beiseite
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schob; »ich will mir die Nerven beruhigen, und das erste, was ich lese, ist
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die Geschichte von der 'weißen Frau', vor der ich mich gefürchtet habe,
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solange ich denken kann. Aber da nun das Gruseln mal da ist, will ich doch
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auch zu Ende lesen.«
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Und sie schlug wieder auf und las weiter: ... Ebendies alte Porträt (dessen
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Original in der Hohenzollernschen Familiengeschichte solche Rolle spielt)
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spielt als Bild auch eine Rolle in der Spezialgeschichte des Schlosses
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Eremitage, was wohl damit zusammenhängt, daß es an einer dem Fremden
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unsichtbaren Tapetentür hängt, hinter der sich eine vom Souterrain her
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hinaufführende Treppe befindet. Es heißt, daß, als Napoleon hier
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übernachtete, die »weiße Frau« aus dem Rahmen herausgetreten und auf
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sein Bett zugeschritten sei. Der Kaiser, entsetzt auffahrend, habe nach
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seinem Adjutanten gerufen und bis an sein Lebensende mit Entrüstung von
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diesem »maudit château« gesprochen.
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»Ich muß es aufgeben, mich durch Lektüre beruhigen zu wollen«, sagte
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Effi. »Lese ich weiter, so komm ich gewiß noch nach einem Kellergewölbe,
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wo der Teufel auf einem Weinfaß davongeritten ist. Es gibt, glaub ich, in
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Deutschland viel dergleichen, und in einem Reisehandbuch muß es sich
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natürlich alles zusammenfinden. Ich will also lieber wieder die Augen
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schließen und mir, so gut es geht, meinen Polterabend vorstellen: die
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Zwillinge, wie sie vor Tränen nicht weiterkonnten, und dazu den Vetter
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Briest, der, als sich alles verlegen anblickte, mit erstaunlicher Würde
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behauptete, solche Tränen öffneten einem das Paradies. Er war wirklich
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scharmant und immer so übermütig ... Und nun ich! Und gerade hier. Ach,
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ich tauge doch gar nicht für eine große Dame. Die Mama, ja, die hätte
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hierhergepaßt, die hätte, wie's einer Landrätin zukommt, den Ton
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angegeben, und Sidonie Grasenabb wäre ganz Huldigung gegen sie
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gewesen und hätte sich über ihren Glauben oder Unglauben nicht groß
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beunruhigt. Aber ich ... ich bin ein Kind und werd es auch wohl bleiben.
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Einmal hab ich gehört, das sei ein Glück. Aber ich weiß doch nicht, ob das
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wahr ist. Man muß doch immer dahin passen, wohin man nun mal gestellt
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ist.« In diesem Augenblick kam Friedrich, um den Tisch abzuräumen. »Wie
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spät ist es, Friedrich?«
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»Es geht auf neun, gnäd'ge Frau.«
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»Nun, das läßt sich hören. Schicken Sie mir Johanna.«
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»Gnäd'ge Frau haben befohlen.«
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»Ja, Johanna. Ich will zu Bett gehen. Es ist eigentlich noch früh. Aber ich
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bin so allein. Bitte, tun Sie den Brief erst ein, und wenn Sie wieder da sind,
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nun, dann wird es wohl Zeit sein. Und wenn auch nicht.«
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Effi nahm die Lampe und ging in ihr Schlafzimmer hinüber. Richtig, auf
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der Binsenmatte lag Rollo. Als er Effi kommen sah, erhob er sich, um den
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Platz freizugeben, und strich mit seinem Behang an ihrer Hand hin. Dann
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legte er sich wieder nieder.
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Johanna war inzwischen nach dem Landratsamt hinübergegangen, um da
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den Brief einzustecken. Sie hatte sich drüben nicht sonderlich beeilt,
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vielmehr vorgezogen, mit der Frau Paaschen, des Amtsdieners Frau, ein
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Gespräch zu führen. Natürlich über die junge Frau.
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»Wie ist sie denn?« fragte die Paaschen.
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»Sehr jung ist sie.«
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»Nun, das ist kein Unglück, eher umgekehrt. Die Jungen, und das ist eben
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das Gute, stehen immer bloß vorm Spiegel und zupfen und stecken sich
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was vor und sehen nicht viel und hören nicht viel und sind noch nicht so,
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daß sie draußen immer die Lichtstümpfe zählen und einem nicht gönnen,
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daß man einen Kuß kriegt, bloß weil sie selber keinen mehr kriegen.«
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»Ja«, sagte Johanna, »so war meine vorige Madam, und ganz ohne Not.
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Aber davon hat unsere Gnäd'ge nichts.«
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»Ist er denn sehr zärtlich?«
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»Oh, sehr. Das können Sie doch wohl denken.«
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Aber daß er sie so allein läßt ...«
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»Ja, liebe Paaschen, Sie dürfen nicht vergessen ... der Fürst. Und dann, er
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ist ja doch am Ende Landrat. Und vielleicht will er auch noch höher.«
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»Gewiß will er. Und er wird auch noch. Er hat so was. Paaschen sagt es
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auch immer, und er kennt seine Leute.«
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Während dieses Ganges drüben nach dem Amt hinüber war wohl eine
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Viertelstunde vergangen, und als Johanna wieder zurück war, saß Effi
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schon vor dem Trumeau und wartete. »Sie sind lange geblieben, Johanna.«
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»Ja, gnäd'ge Frau ... Gnäd'ge Frau wollen entschuldigen ... Ich traf drüben
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die Frau Paaschen, und da hab ich mich ein wenig verweilt. Es ist so still
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hier. Man ist immer froh, wenn man einen Menschen trifft, mit dem man ein
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Wort sprechen kann. Christel ist eine sehr gute Person, aber sie spricht
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nicht, und Friedrich ist so dusig und auch so vorsichtig und will mit der
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Sprache nie recht heraus. Gewiß, man muß auch schweigen können, und
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die Paaschen, die so neugierig und so ganz gewöhnlich ist, ist eigentlich
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gar nicht nach meinem Geschmack; aber man hat es doch gern, wenn man
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mal was hört und sieht.«
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Effi seufzte. »Ja, Johanna, das ist auch das beste ...«
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»Gnäd'ge Frau haben so schönes Haar, so lang und so seidenweich. «
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»Ja, es ist sehr weich. Aber das ist nicht gut, Johanna. Wie das Haar ist,
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ist der Charakter.«
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»Gewiß, gnäd'ge Frau. Und ein weicher Charakter ist doch besser als ein
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harter. Ich habe auch weiches Haar.«
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»Ja, Johanna. Und Sie haben auch blondes. Das haben die Männer am
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liebsten.«
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»Ach, das ist doch sehr verschieden, gnäd'ge Frau. Manche sind doch
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auch für das schwarze.«
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»Freilich«, lachte Effi, »das habe ich auch schon gefunden. Es wird wohl
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an was anderem liegen. Aber die, die blond sind, die haben auch immer
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einen weißen Teint, Sie auch, Johanna, und ich möchte mich wohl
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verwetten, daß Sie viel Nachstellung haben. Ich bin noch sehr jung, aber
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das weiß ich doch auch. Und dann habe ich eine Freundin, die war auch so
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blond, ganz flachsblond, noch blonder als Sie, und war eine
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Predigertochter ...«
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»Ja, denn ...«
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»Aber ich bitte Sie, Johanna, was meinen Sie mit 'ja denn'? Das klingt ja
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ganz anzüglich und sonderbar, und Sie werden doch nichts gegen
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Predigerstöchter haben ... Es war ein sehr hübsches Mädchen, was selbst
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unsere Offiziere – wir hatten nämlich Offiziere, noch dazu rote Husaren –
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auch immer fanden, und verstand sich dabei sehr gut auf Toilette,
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schwarzes Sammetmieder und eine Blume, Rose oder auch Heliotrop, und
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wenn sie nicht so vorstehende große Augen gehabt hätte ... ach, die hätten
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Sie sehen sollen, Johanna, wenigstens so groß (und Effi zog unter Lachen
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an ihrem rechten Augenlid), so wäre sie geradezu eine Schönheit gewesen.
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Sie hieß Hulda, Hulda Niemeyer, und wir waren nicht einmal so ganz intim;
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aber wenn ich sie jetzt hier hätte und sie da säße, da in der kleinen
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Sofaecke, so wollte ich bis Mitternacht mit ihr plaudern oder noch länger.
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Ich habe solche Sehnsucht, und...«, und dabei zog sie Johannas Kopf dicht
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an sich heran, »... ich habe solche Angst.«
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»Ach, das gibt sich, gnäd'ge Frau, die hatten wir alle.«
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Die hattet ihr alle? Was soll das heißen, Johanna?«
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»... Und wenn die gnäd'ge Frau wirklich solche Angst haben, so kann ich
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mir ja ein Lager hier machen. Ich nehme die Strohmatte und kehre einen
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Stuhl um, daß ich eine Kopflehne habe, und dann schlafe ich hier, bis
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morgen früh oder bis der gnäd'ge Herr wieder da ist.«
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»Er will mich nicht stören. Das hat er mir eigens versprochen.«
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»Oder ich setze mich bloß in die Sofaecke.«
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»Ja, das ginge vielleicht. Aber nein, es geht auch nicht. Der Herr darf
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nicht wissen, daß ich mich ängstige, das liebt er nicht. Er will immer, daß
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ich tapfer und entschlossen bin, so wie er. Und das kann ich nicht; ich war
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immer etwas anfällig ... Aber freilich, ich sehe wohl ein, ich muß mich
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bezwingen und ihm in solchen Stücken und überhaupt zu Willen sein ...
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Und dann habe ich ja auch Rollo. Der liegt ja vor der Türschwelle.«
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Johanna nickte zu jedem Wort und zündete dann das Licht an, das auf
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Effis Nachttisch stand. Dann nahm sie die Lampe. »Befehlen gnäd'ge Frau
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noch etwas?«
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»Nein, Johanna. Die Läden sind doch fest geschlossen?«
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Bloß angelegt, gnäd'ge Frau. Es ist sonst so dunkel und so stickig.«
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»Gut, gut.«
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Und nun entfernte sich Johanna; Effi aber ging auf ihr Bett zu und
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wickelte sich in ihre Decken.
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Sie ließ das Licht brennen, weil sie gewillt war, nicht gleich einzuschlafen,
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vielmehr vorhatte, wie vorhin ihren Polterabend, so jetzt ihre Hochzeitsreise
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zu rekapitulieren und alles an sich vorüberziehen zu lassen. Aber es kam
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anders, wie sie gedacht, und als sie bis Verona war und nach dem Hause
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der Julia Capulet suchte, fielen ihr schon die Augen zu. Das Stümpfchen
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Licht in dem kleinen Silberleuchter brannte allmählich nieder, und nun
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flackerte es noch einmal auf und erlosch. Effi schlief eine Weile ganz fest.
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Aber mit einem Male fuhr sie mit einem lauten Schrei aus ihrem Schlaf auf,
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ja, sie hörte selber noch den Aufschrei und auch, wie Rollo draußen
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anschlug – »wau, wau«, klang es den Flur entlang, dumpf und selber
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beinahe ängstlich. Ihr war, als ob ihr das Herz stillstände; sie konnte nicht
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rufen, und in diesem Augenblick huschte was an ihr vorbei, und die nach
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dem Flur hinausführende Tür sprang auf. Aber ebendieser Moment
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höchster Angst war auch der ihrer Befreiung, denn statt etwas
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Schrecklichem kam jetzt Rollo auf sie zu, suchte mit seinem Kopf nach
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ihrer Hand und legte sich, als er diese gefunden, auf den vor ihrem Bett
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ausgebreiteten Teppich nieder. Effi selber aber hatte mit der anderen Hand
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dreimal auf den Knopf der Klingel gedrückt, und keine halbe Minute, so war
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Johanna da, barfüßig, den Rock über dem Arm und ein großes kariertes
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Tuch über Kopf und Schulter geschlagen. »Gott sei Dank, Johanna, daß Sie
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da sind.«
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»Was war denn, gnäd'ge Frau? Gnäd'ge Frau haben geträumt. «
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»Ja, geträumt. Es muß so was gewesen sein ... aber es war doch auch
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noch was anderes.« – »Was denn, gnäd'ge Frau?«
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Ich schlief ganz fest, und mit einem Male fuhr ich auf und schrie ...
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vielleicht, daß es ein Alpdruck war ... Alpdruck ist in unserer Familie, mein
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Papa hat es auch und ängstigt uns damit, und nur die Mama sagt immer, er
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solle sich nicht so gehenlassen; aber das ist leicht gesagt ... Ich fuhr also
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auf aus dem Schlaf und schrie, und als ich mich umsah, so gut es eben
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ging in dem Dunkel, da strich was an meinem Bett vorbei, gerade da, wo
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Sie jetzt stehen, Johanna, und dann war es weg. Und wenn ich mich recht
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frage, was es war ...«
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Nun, was denn, gnäd'ge Frau?«
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»Und wenn ich mich recht frage ... ich mag es nicht sagen, Johanna ...
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aber ich glaube, der Chinese.«
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»Der von oben?« Und Johanna versuchte zu lachen. »Unser kleiner
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Chinese, den wir an die Stuhllehne geklebt haben, Christel und ich? Ach,
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gnäd'ge Frau haben geträumt, und wenn Sie schon wach waren, so war es
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doch alles noch aus dem Traum.«
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»Ich würd es glauben. Aber es war genau derselbe Augenblick, wo Rollo
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draußen anschlug, der muß es also auch gesehen haben, und dann flog die
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Tür auf, und das gute, treue Tier sprang auf mich los, als ob es mich zu
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retten käme. Ach, meine liebe Johanna, es war entsetzlich. Und ich so allein
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und so jung. Ach, wenn ich doch wen hier hätte, bei dem ich weinen
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könnte. Aber so weit von Hause ... Ach, von Hause ...«
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Der Herr kann jede Stunde kommen.«
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»Nein, er soll nicht kommen; er soll mich nicht so sehen. Er würde mich
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vielleicht auslachen, und das könnt ich ihm nie verzeihen. Denn es war so
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furchtbar, Johanna ... Sie müssen nun hierbleiben ... Aber lassen Sie
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Christel schlafen und Friedrich auch. Es soll es keiner wissen.«
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»Oder vielleicht kann ich auch die Frau Kruse holen; die schläft doch
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nicht, die sitzt die ganze Nacht da.«
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»Nein, nein, die ist selber so was. Das mit dem schwarzen Huhn, das ist
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auch sowas; die darf nicht kommen. Nein, Johanna, Sie bleiben allein hier.
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Und wie gut, daß Sie die Läden nur angelegt. Stoßen Sie sie auf, recht laut,
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daß ich einen Ton höre, einen menschlichen Ton ... ich muß es so nennen,
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wenn es auch sonderbar klingt ... und dann machen Sie das Fenster ein
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wenig auf, daß ich Luft und Licht habe.« Johanna tat, wie ihr geheißen, und
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Effi fiel in ihre Kissen zurück und bald danach in einen lethargischen
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Schlaf.

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