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Basiswissen
Inhaltsverzeichnis

26. Kapitel

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Effi war nun schon in die fünfte Woche fort und schrieb glückliche,
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beinahe übermütige Briefe, namentlich seit ihrem Eintreffen in Ems, wo
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man doch unter Menschen sei, das heißt unter Männern, von denen sich in
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Schwalbach nur ausnahmsweise was gezeigt habe. Geheimrätin Zwicker,
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ihre Reisegefährtin, habe freilich die Frage nach dem Kurgemäßen dieser
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Zutat aufgeworfen und sich aufs entschiedenste dagegen ausgesprochen,
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alles natürlich mit einem Gesichtsausdruck, der so ziemlich das Gegenteil
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versichert habe; die Zwicker sei reizend, etwas frei, wahrscheinlich sogar
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mit einer Vergangenheit, aber höchst amüsant, und man könne viel, sehr
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viel von ihr lernen; nie habe sie sich, trotz ihrer Fünfundzwanzig, so als
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Kind gefühlt, wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei sei sie so
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belesen, auch in fremder Literatur, und als sie, Effi beispielsweise neulich
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von Nana gesprochen und dabei gefragt habe, ob es denn wirklich so
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schrecklich sei, habe die Zwicker geantwortet: »Ach, meine liebe Baronin,
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was heißt schrecklich? Da gibt es noch ganz anderes.« – »Sie schien mich
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auch«, so schloß Effi ihren Brief, »mit diesem 'anderen' bekannt machen zu
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wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiß, daß Du die Unsitte
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unserer Zeit aus diesem und ähnlichem herleitest, und wohl mit Recht.
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Leicht ist es mir aber nicht geworden. Dazu kommt noch, daß Ems in einem
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Kessel liegt. Wir leiden hier außerordentlich unter der Hitze.«
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Innstetten hatte diesen letzten Brief mit geteilten Empfindungen gelesen,
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etwas erheitert, aber doch auch ein wenig mißmutig. Die Zwicker war keine
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Frau für Effi, der nun mal ein Zug innewohnte, sich nach links hin treiben zu
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lassen; er gab es aber auf, irgendwas in diesem Sinne zu schreiben, einmal
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weil er sie nicht verstimmen wollte, mehr noch, weil er sich sagte, daß es
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doch nichts helfen würde. Dabei sah er der Rückkehr seiner Frau mit
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Sehnsucht entgegen und beklagte des Dienstes nicht bloß »immer
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gleichgestellte«, sondern jetzt, wo jeder Ministerialrat fort war oder fort
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wollte, leider auch auf Doppelstunden gestellte Uhr.
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Ja, Innstetten sehnte sich nach Unterbrechung von Arbeit und
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Einsamkeit, und verwandte Gefühle hegte man draußen in der Küche, wo
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Annie, wenn die Schulstunden hinter ihr lagen, ihre Zeit am liebsten
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verbrachte, was insoweit ganz natürlich war, als Roswitha und Johanna
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nicht nur das kleine Fräulein in gleichem Maße liebten, sondern auch
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untereinander nach wie vor auf dem besten Fuße standen. Diese
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Freundschaft der beiden Mädchen war ein Lieblingsgespräch zwischen den
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verschiedenen Freunden des Hauses, und Landgerichtsrat Gizicki sagte
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dann wohl zu Wüllersdorf: »Ich sehe darin nur eine neue Bestätigung des
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alten Weisheitssatzes: 'Laßt fette Leute um mich sein'; Cäsar war eben ein
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Menschenkenner und wußte, daß Dinge wie Behaglichkeit und
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Umgänglichkeit eigentlich nur beim Embonpomt sind.« Von einem solchen
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ließ sich denn nun bei beiden Mädchen auch wirklich sprechen, nur mit
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dem Unterschied, daß das in diesem Falle nicht gut zu umgehende
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Fremdwort bei Roswitha schon stark eine Beschönigung, bei Johanna
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dagegen einfach die zutreffende Bezeichnung war. Diese letztere durfte
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man nämlich nicht eigentlich korpulent nennen, sie war nur prall und drall
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und sah jederzeit mit einer eigenen, ihr übrigens durchaus kleidenden
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Siegermiene gradlinig und blauäugig über ihre Normalbüste fort. Von
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Haltung und Anstand getragen, lebte sie ganz in dem Hochgefühl, die
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Dienerin eines guten Hauses zu sein, wobei sie das
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Überlegenheitsbewußtsein über die halb bäuerisch gebliebene Roswitha in
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einem so hohen Maße hatte, daß sie, was gelegentlich vorkam, die
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momentan bevorzugte Stellung dieser nur belächelte. Diese Bevorzugung –
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nun ja, wenn's dann mal so sein sollte, war eine kleine liebenswürdige
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Sonderbarkeit der gnädigen Frau, die man der guten alten Roswitha mit
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ihrer ewigen Geschichte »von dem Vater mit der glühenden Eisenstange«
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schon gönnen konnte. »Wenn man sich besser hält, so kann dergleichen
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nicht vorkommen.« Das alles dachte sie, sprach's aber nicht aus. Es war
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eben ein freundliches Miteinanderleben. Was aber wohl ganz besonders für
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Frieden und gutes Einvernehmen sorgte, das war der Umstand, daß man
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sich nach einem stillen Übereinkommen in die Behandlung und fast auch
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Erziehung Annies geteilt hatte. Roswitha hatte das poetische Departement,
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die Märchen- und Geschichtenerzählung, Johanna dagegen das des
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Anstands, eine Teilung, die hüben und drüben so fest gewurzelt stand, daß
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Kompetenzkonflikte kaum vorkamen, wobei der Charakter Annies, die eine
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ganz entschiedene Neigung hatte, das vornehme Fräulein zu betonen,
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allerdings mithalf, eine Rolle, bei der sie keine bessere Lehrerin als
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Johanna haben konnte.
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Noch einmal also: Beide Mädchen waren gleichwertig in Annies Augen.
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In diesen Tagen aber, wo man sich auf die Rückkehr Effis vorbereitete,
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war Roswitha der Rivalin mal wieder um einen Pas voraus, weil ihr, und
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zwar als etwas ihr Zuständiges, die ganze Begrüßungsangelegenheit
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zugefallen war. Diese Begrüßung zerfiel in zwei Hauptteile: Girlande mit
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Kranz und dann, abschließend, Gedichtvortrag. Kranz und Girlande
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-nachdem man über »W.« oder »E. v. I.« eine Zeitlang geschwankt – hatten
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zuletzt keine sonderlichen Schwierigkeiten gemacht (»W«, in
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Vergißmeinnicht geflochten, war bevorzugt worden), aber desto größere
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Verlegenheit schien die Gedichtfrage heraufbeschwören zu sollen und wäre
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vielleicht ganz unbeglichen geblieben, wenn Roswitha nicht den Mut
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gehabt hätte, den von einer Gerichtssitzung heimkehrenden
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Landgerichtsrat auf der zweiten Treppe zu stellen und ihm mit einem auf
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einen »Vers« gerichteten Ansinnen mutig entgegenzutreten. Gizicki, ein
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sehr gütiger Herr, hatte sofort alles versprochen, und noch am selben
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Spätnachmittag war seitens seiner Köchin der gewünschte Vers, und zwar
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folgenden Inhalts, abgegeben worden:
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Mama, wir erwarten dich lange schon,
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Durch Wochen und Tage und Stunden,
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Nun grüßen wir dich von Flur und Balkon
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Und haben Kränze gewunden.
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Nun lacht Papa voll Freudigkeit,
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Denn die gattin- und mutterlose Zeit
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Ist endlich von ihm genommen,
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Und Roswitha lacht und Johanna dazu,
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Und Annie springt aus ihrem Schuh
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Und ruft: willkommen, willkommen.
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Es versteht sich von selbst, daß die Strophe noch an demselben Abend
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auswendig gelernt, aber doch nebenher auch auf ihre Schönheit
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beziehungsweise Nichtschönheit kritisch geprüft worden war. Das Betonen
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von Gattin und Mutter, so hatte sich Johanna geäußert, erscheine zunächst
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freilich in der Ordnung; aber es läge doch auch etwas darin, was Anstoß
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erregen könne, und sie persönlich würde sich als »Gattin und Mutter«
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dadurch verletzt fühlen. Annie, durch diese Bemerkung einigermaßen
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geängstigt, versprach, das Gedicht am andern Tag der Klassenlehrerin
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vorlegen zu wollen, und kam mit dem Bemerken zurück, das Fräulein sei
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mit »Gattin und Mutter« durchaus einverstanden, aber desto mehr gegen
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»Roswitha und Johanna« gewesen – worauf Roswitha erklärt hatte: Das
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Fräulein sei eine dumme Gans; das käme davon, wenn man zuviel gelernt
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habe.
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Es war an einem Mittwoch, daß die Mädchen und Annie das vorstehende
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Gespräch geführt und den Streit um die bemängelte Zeile beigelegt hatten.
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Am andern Morgen – ein erwarteter Brief Effis hatte noch den mutmaßlich
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erst in den Schluß der nächsten Woche fallenden Ankunftstag
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festzustellen- ging Innstetten auf das Ministerium. Jetzt war Mittag heran,
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die Schule aus, und als Annie, ihre Mappe auf dem Rücken, eben vom
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Kanal her auf die Keithstraße zuschritt, traf sie Roswitha vor ihrer
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Wohnung.
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»Nun laß sehen«, sagte Annie, »wer am ehesten von uns die Treppe
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heraufkommt.« Roswitha wollte von diesem Wettlauf nichts wissen, aber
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Annie jagte voran, geriet, oben angekommen, ins Stolpern und fiel dabei so
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unglücklich, daß sie mit der Stirn auf den dicht an der Treppe befindlichen
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Abkratzer aufschlug und stark blutete. Roswitha, mühevoll nachkeuchend,
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riß jetzt die Klingel, und als Johanna das etwas verängstigte Kind
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hereingetragen hatte, beratschlagte man, was nun wohl zu machen sei.
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»Wir wollen nach dem Doktor schicken ... wir wollen nach dem gnädigen
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Herrn schicken ... des Portiers Lene muß ja jetzt auch aus der Schule
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wieder da sein.« Es wurde aber alles wieder verworfen, weil es zu lange
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dauere, man müsse gleich was tun, und so packte man denn das Kind aufs
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Sofa und begann mit kaltem Wasser zu kühlen. Alles ging auch gut, so daß
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man sich zu beruhigen begann. »Und nun wollen wir sie verbinden«, sagte
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schließlich Roswitha. »Da muß ja noch die lange Binde sein, die die
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gnädige Frau letzten Winter zuschnitt, als sie sich auf dem Eis den Fuß
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verknickt hatte ...«
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»Freilich, freilich«, sagte Johanna, »bloß wo die Binde hernehmen? ...
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Richtig, da fällt mir ein, die liegt im Nähtisch. Er wird wohl zu sein, aber das
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Schloß ist Spielerei; holen Sie nur das Stemmeisen, Roswitha, wir wollen
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den Deckel aufbrechen.« Und nun wuchteten sie auch wirklich den Deckel
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ab und begannen in den Fächern herumzukramen, oben und unten, die
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zusammengerollte Binde jedoch wollte sich nicht finden lassen. »Ich weiß
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aber doch, daß ich sie gesehen habe«, sagte Roswitha, und während sie
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halb ärgerlich immer weiter suchte, flog alles, was ihr dabei zu Händen
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kam, auf das breite Fensterbrett: Nähzeug, Nadelkissen, Rollen mit Zwirn
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und Seide, kleine vertrocknete Veilchensträußchen, Karten, Billetts, zuletzt
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ein kleines Konvolut von Briefen, das unter dem dritten Einsatz gelegen
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hatte, ganz unten, mit einem roten Seidenfaden umwickelt. Aber die Binde
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hatte man noch immer nicht.
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In diesem Augenblick trat Innstetten ein.
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»Gott«, sagte Roswitha und stellte sich erschrocken neben das Kind. »Es
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ist nichts, gnädiger Herr; Annie ist auf das Kratzeisen gefallen ... Gott, was
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wird die gnädige Frau sagen. Und doch ist es ein Glück, daß sie nicht mit
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dabei war.« Innstetten hatte mittlerweile die vorläufig aufgelegte
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Kompresse fortgenommen und sah, daß es ein tiefer Riß, sonst aber
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ungefährlich war. »Es ist nicht schlimm«, sagte er; »trotzdem, Roswitha, wir
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müssen sehen, daß Rummschüttel kommt. Lene kann ja gehen, die wird
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jetzt Zeit haben. Aber was in aller Welt ist denn das da mit dem Nähtisch?«
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Und nun erzählte Roswitha, wie sie nach der gerollten Binde gesucht
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hätten; aber sie wolle es nun aufgeben und lieber eine neue Leinwand
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schneiden.
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Innstetten war einverstanden und setzte sich, als bald danach beide
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Mädchen das Zimmer verlassen hatten, zu dem Kind. »Du bist so wild,
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Annie, das hast du von der Mama. Immer wie ein Wirbelwind. Aber dabei
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kommt nichts heraus oder höchstens so was.« Und er wies auf die Wunde
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und gab ihr einen Kuß. »Du hast aber nicht geweint, das ist brav, und
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darum will ich dir die Wildheit verzeihen ... Ich denke, der Doktor wird in
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einer Stunde hier sein; tu nur alles, was er sagt, und wenn er dich
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verbunden hat, so zerre nicht und rücke und drücke nicht daran, dann heilt
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es schnell, und wenn die Mama dann kommt, dann ist alles wieder in
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Ordnung oder doch beinah. Ein Glück ist es aber doch, daß es noch bis
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nächste Woche dauert, Ende nächster Woche, so schreibt sie mir; eben
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habe ich einen Brief von ihr bekommen; sie läßt dich grüßen und freut sich,
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dich wiederzusehen.«
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»Du könntest mir den Brief eigentlich vorlesen, Papa.«
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Das will ich gern.«
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Aber eh er dazu kam, kam Johanna, um zu sagen, daß das Essen
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aufgetragen sei. Annie, trotz ihrer Wunde, stand mit auf, und Vater und
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Tochter setzten sich zu Tisch.

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